9punkt - Die Debattenrundschau

In den ethischen Abgrund

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2023. In der Strafkolonie 6 in Melechowo wird Alexei Nawalny gerade erneut der Prozess gemacht. Diesmal drohen ihm 30 Jahre Haft, berichtet hpd. Für alle anderen Kritiker gibt es in Russland demnächst eine neue Gefängnisstadt, erzählt die Schriftstellerin Irina Rastorgujewa in der NZZ. Warum wählen die Lateinamerikaner linke Populisten und wandern dann in die kapitalistischen USA aus, fragt ebenfalls in der NZZ Mario Vargas Llosa. Die SZ lernt bei einer Veranstaltung der Berliner FU, wieviel Raubkunst aus Kamerun deutsche Museen in ihren Kellern bunkern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.06.2023 finden Sie hier

Europa

In dem Straflager, in dem Alexej Nawalny derzeit eine 9-jährige Haftstrafe absitzt, wird heute ein weiterer Prozess gegen ihn eröffnet, berichtet Helmut Ortner bei hpd. Die Öffentlichkeit ist dabei nicht zugelassen. "Die Staatsanwaltschaft hat 3.800 Blatt Material und 196 Aktenordner zusammengetragen. Gegen Nawalny wird in sechs Punkten Anklage erhoben, darunter Gründung, Finanzierung und Beteiligung an einer extremistischen Organisation. Weiterhin wegen Aufruf zum Extremismus und Verharmlosung des Nazismus. Mit 'extremistischer Organisation' ist der von Nawalny gegründete Fonds für die Bekämpfung der Korruption (FBK) gemeint. Dieser hat eine Reihe von Indizien für Korruption auf höchster politischer Ebene bis hin zur Kreml-Oligarchie veröffentlicht. Vor zwei Jahren wurde der Fonds für extremistisch erklärt - vom selben Moskauer Stadtgericht, vor dem der Prozess gegen ihn selbst nun stattfindet. Bei einer Verurteilung drohen Nawalny nach eigenen Angaben 30 weitere Jahre Haft. Hier soll ein Regierungsgegner vernichtet werden."

Laut einer Umfrage an mehr als 500 russischen Universitäten will ein Drittel der Befragten Russland verlassen, schreibt die in Russland geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Irina Rastorgujewa in ihrer regelmäßigen Presseschau russischer Medien in der NZZ. Vor allem berichtet sie von den zahlreichen Repressionen: "In Tscherepowez schlug die Polizei zwei Mädchen brutal zusammen, bevor sie sie wegen ihrer Graffiti verhaftete. In der Polizeistation erhielten die Mädchen mehrere Tage lang keine Nahrung und konnten Wasser nur aus der Toilettenschüssel trinken. Bislang ist nicht bekannt, was genau man ihnen vorwirft. (…) Eine 34-Jährige aus Moskau, die nach Wladikawkas flog, wurde festgenommen, weil sie während des Fluges ein Buch auf Ukrainisch las. Sie war von den Passagieren des Flugzeugs denunziert worden. (…) Außerdem soll eine neue Gefängnisstadt für Russen gebaut werden. Insgesamt 22 Hektaren Land in der Nähe des Dorfes Knewitschi in der Region Primorje sind für den Bau eines neuen Untersuchungsgefängnisses vorgesehen."

Im FR-Gespräch mit Bascha Mika glaubt Can Dündar nicht, dass Erdogan die vollen fünf Jahre im Amt durchhalten wird. Außerdem kritisiert er die deutsche Bundesregierung für die Entscheidung, Erdogan nach Berlin einzuladen: "Leider hat die Bundesregierung den Willen von 25 Millionen türkischen Wählern ignoriert, die sich der Autokratie widersetzten. In ihren früheren Glückwunschbotschaften verzichtete sie sogar darauf, demokratische Prinzipien zu betonen. Es ist traurig zu sehen, wie westliche Regierungen ihre Prinzipien zugunsten ihrer täglichen Interessen aufgeben." Zugleich spricht er sich dafür aus, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht einzustellen: "Ich möchte die Türkei immer noch als Teil der europäischen Familie sehen. Europäische Institutionen wie der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sollten die türkische Regierung dazu zwingen, die von ihr unterzeichneten Konventionen einzuhalten."

Auch eine dieser grausamen Geschichten aus den französischen Vorstädten. Vor zwei Jahren wurde die 15-jährige Shaïna mutmaßlich von ihrem Freund bei lebendigem Leib verbrannt. Sie war von ihm schwanger, und er wollte keinen "Bastard" von einer Hure, soll er im Gefängnis gesagt haben. Laure Daussy berichtet für Charlie Hebdo über den Prozess: "Über diesen Prozess hinaus ist es die schreckliche Geschichte einer jungen Frau, die zum Opfer von Justiz und Polizei und des Sexismus in unserer Gesellschaft und mehr noch des übersteigerten Sexismus in dem Viertel, in dem sie aufwuchs, wurde. Shaïna war einer der 146 Femizide des Jahres 2019, aber ihr Tod erinnert an den von Sohane Benziane, die ebenfalls 2002 in einer Siedlung in Vitry-sur-Seine bei lebendigem Leib verbrannt starb, ermordet von einem abgewiesenen Jungen, der sich rächen wollte. Bei unseren Ermittlungen in Creil haben uns andere junge Frauen erzählt, dass sie Angst davor haben, das gleiche Schicksal wie Shaïna zu erleiden. Viele von ihnen leben unter der ständigen Kontrolle der Blicke bestimmter Jungen, trauen sich nicht, sich so zu kleiden, wie sie wollen, und sind zu absoluter Diskretion verurteilt, wenn sie einen Freund haben."

Gestern hat der Europäische Gerichtshof erneut festgestellt, dass die Justizreform der PiS-Regierung gegen EU-Recht verstößt. "Das Gesetz ist so antidemokratisch, dass Kritiker es gar als stalinistisch bezeichnen. Eine neue Qualität, selbst für die PiS", kommentiert Viktoria Großmann in der SZ: "Denn dass Polen sich bereits seit 2016 in einem ständigen Clinch mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg sowie mit der EU-Kommission befindet, das mag für viele abstrakt sein. Trotz Bruch des EU-Rechts fließt ja immer noch EU-Geld nach Polen, gut erkennbar an überall ordentlich angebrachten Plaketten, die auf solche Subventionen hinweisen. Nun werden neue Strafen gegen Polen verhängt, bestimmte EU-Mittel weiter zurückgehalten. Doch Einknicken wird die PiS-Regierung nicht, das Urteil wird sie für ihre Erzählung über die übergriffige, anti-polnische, quasi-imperialistische EU nutzen."

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel spricht die Russland-Expertin und ehemalige Trump-Beraterin Fiona Hill, die 2019 gegen Trump aussagte, (und deren viel diskutiertes Buch "There is nothing for you here" über Populismus in Russland und den USA bisher erst auf Englisch erschienen ist) über die "Verfassungskrise der USA", ihre Sorge, dass Trump nach einem erneuten Wahlsieg eine uneingeschränkte Exekutive schaffen könnte, den Wahlerfolg der AfD im Osten und die ausgeprägten Vorbehalte vieler Ostdeutscher gegen die deutsche Unterstützung für die Ukraine: "Mit seiner Invasion hat Russland geschickt den weltweit tief sitzenden Widerstand gegen die globale Dominanz der USA ausgenutzt. Die Art und Weise, wie Menschen den Krieg in der Ukraine bewerten, wird dadurch definiert, wie sie auf die USA blicken. Der sogenannte 'Whataboutism'. Sie fragen: 'Aber was ist mit der Rolle der USA im Irak, in Afghanistan oder Vietnam?' Und meinen, es stünde uns nicht zu, die russische Invasion in der Ukraine zu kritisieren. 'Russland macht doch nur das, was die USA gemacht haben', sagen sie. Manche Leute glauben, dass in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg der USA oder dem 'kollektiven Westen', also den USA und ihren Verbündeten, gegen Russland herrscht. Das ist Putins Propaganda. Und Propaganda funktioniert nur, wenn sie auf einer Welle reitet, die bereits existiert. Putin nutzt die vorhandene Stimmung sehr geschickt aus."

Der Tagesspiegel startet die Serie "Letters on Democracy", in der fünf Schriftsteller in fünf Briefen Visionen für die Zukunft Europas entwerfen. Heute schreibt der niederländische Autor Arnon Grünberg, der, ohne besonders konkret zu werden, den Begriff der liberalen Demokratie sehr weit fasst: "Für mich setzt liberale Demokratie voraus, dass ich mit Menschen zusammenleben kann, die sich für Dinge einsetzen, die ich verachte, dass ich sogar mit ihnen am selben Tisch essen kann. Etwas übertrieben ausgedrückt bedeutet dies, dass ich mit Menschen zusammenleben kann, die mich umbringen wollen. Solange sie das nicht wirklich tun, habe ich kein besonderes Problem mit ihren Wünschen. Vorausgesetzt, sie respektieren das Gesetz, haben sie ein Recht auf ihre Fantasien und ihre Hobbys. Das ist für mich ein weiteres Merkmal der liberalen Demokratie, dass ich mich durch das Gesetz geschützt fühlen kann, dass es nicht notwendig ist, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen oder Polizisten, Richter und Staatsanwälte zu bestechen."
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Politik

Warum wählen die Lateinamerikaner in ihren eigenen Staaten populistische Regime und wandern dann aus in die USA, wo genau der Kapitalismus herrscht, den sie so verachten, fragt sich der Schriftsteller Mario Vargas Llosa in der NZZ. "Man muss sich nur Venezuela anschauen, ein Land, in dem früher einmal alle Lateinamerikaner arbeiten wollten, weil es attraktiv und eine Zeitlang gar als 'Saudi-Venezuela' bekannt war. Heute ist es nach den wütenden Verstaatlichungen ruiniert. Nicht weniger als sieben Millionen Venezolaner haben das Land verlassen, um woanders Arbeit zu suchen. Ich erwähne Venezuela, weil es der dramatischste Fall ist. Sein schlechtes Beispiel hat die Runde gemacht und Kolumbien erreicht, ein ehemals vernünftiges Land, wo heute, in den Händen von Gustavo Petro, alles immer schlimmer wird." Die Lösung dieses Dilemmas ist eigentlich einfach, denkt sich Vargas Llosa: "Sie bestünde darin, eine Situation zu schaffen, in der die Lateinamerikaner ihre Länder nicht verlassen müssen, da es die wirtschaftlichen Modelle, nach denen sie verlangen, in ihrer Heimat gäbe, wenn sie sich nur trauten, diese zu verwirklichen."
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Gesellschaft

Der 1984 in Halle/Saale geborene, heute in Leipzig lebende Schriftsteller Matthias Jügler ist bass erstaunt über das aufgehübschte DDR-Bild, das die nur ein Jahr jüngere Katja Hoyer in ihrem Buch "Diesseits der Mauer - Eine neue Geschichte der DDR" zeichnet. Über ihren Erfolg (und den von Dirk Oschmann) wundern kann er sich jedoch nicht: Ostdeutsche werden nach wie vor stark diskriminiert, meint er, und die Wessis hören einfach nie zu: "Von den dreizehn kommenden Lesungen Oschmanns, die aktuell auf der Homepage seines Verlags zu finden sind, findet eine einzige in Westdeutschland statt. Der Großteil der Westdeutschen, die ich in den letzten Tagen auf diese so intensiv geführte Debatte angesprochen habe, wusste gar nichts davon. Eine Debatte, die nur einseitig geführt wird, ist nicht viel wert. Dabei müssten selbst diejenigen, die sich nicht für Ostbiografien interessieren, sich eingestehen, dass die Wahlergebnisse im Osten auch Auswirkungen auf sie selbst haben". Man muss deshalb ja nicht unbedingt Hoyer oder Oschmann lesen, Jügler empfiehlt Daniel Schulz' "Wir waren wie Brüder" und Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück".
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Kulturpolitik

Für die SZ resümiert Jörg Häntzschel einen Abend in der Berliner FU, wo ein Team von Forschern aus Berlin und Dschang in Kamerun unter dem Titel "Atlas der Abwesenheit: Kameruns Kulturerbe in Deutschland" die Ergebnisse ihrer Recherchen vorstellten: "Was die Forscher fanden, hat sie nicht nur wegen der blutigen Begleitumstände der Plünderungen schockiert, sondern auch der schieren Dimensionen wegen: In deutschen Museen liegen über 40 000 Objekte aus Kamerun, mehr als irgendwo sonst, mehr als in Kamerun selbst. Die vielen tausend weiteren, die verkauft oder zerstört wurden, sind in der Zahl nicht enthalten. Die Forscher haben aus Museumsinventaren, Tagebüchern und Briefwechseln nicht nur Zeugnisse unzähliger Verbrechen entblättert. Sie dokumentieren auch, wie ein sich wissenschaftlich gebendes Milieu in den ethischen Abgrund fuhr. (…) Was diese Berichte umso erschütternder macht, ist die Tatsache, dass viele deutsche Museen ihre mit so viel Eifer zusammengerafften Bestände kaum je öffentlich gezeigt haben. Das Berliner Völkerkundemuseum, das mit 500 000 Objekten eines der größten der Welt ist, hat sich bis 1939 mit nur 25 der 6000 Objekte aus Kamerun beschäftigt. Als in den Siebzigerjahren dann die ersten unabhängig gewordenen afrikanischen Länder Restitutionsforderungen an das Berliner Völkerkundemuseum stellten, verbarg man die Inventare bewusst, weil mit diesen 'Begehrlichkeiten erst recht geweckt' würden."

"Warum hat die Bundesrepublik 25 Jahre nach der Washingtoner Erklärung noch kein Raubkunst-Gesetz?", fragt in der SZ Catrin Lorch mit Blick auf Max Pechsteins "Selbstbildnis, liegend", das von dem Arzt Walter Blank 1936 angeblich an einen Kölner Sammler verkauft wurde und dessen Erben nun Restitutionsansprüche geltend machen. "Die Selbstverpflichtung, sich um Aufklärung und Restitution zu bemühen, gilt nur für die Museen und öffentlichen Sammlungen. Private Kollektionen sind nach wie vor nicht betroffen", erinnert Lorch: "Noch jede Regierung scheiterte an der Finanzierung. Denn ein Staat, der privates Eigentum der Verpflichtung zur Rückgabe unterwirft, muss dem Sammler den entstandenen Verlust ausgleichen. Viele der belasteten, womöglich tausenden von Kunstwerken, die unauffindbar in deutschen Sammlungen hängen, wurden in der Nachkriegszeit 'gutgläubig' erworben, wie es im Juristendeutsch heißt. Um diese Sammler zu entschädigen, wären enorme Summen nötig. Es heißt, solche Lösungen wären in der Vergangenheit am 'Nein' der zuständigen Finanzminister gescheitert."

Schön, dass Claudia Roth sich bei der Wiedereröffnung des "Hauses der Kulturen der Welt" so eindeutig vom BDS distanziert hat. Aber wie sieht es mit den Vertretern der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" aus, zu der die höchsten Vertreter der von Roths Behörde geförderten Bundeskultur gehören, fragt Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. "Deren Antisemitismus-Erklär-Programm  -  BDS sei eine 'marginalisierte Stimme', die für 'kulturelle Vielfalt' streite, für eine 'kritische Perspektive' und ein 'Klima der Vielstimmigkeit' usw., tatsächlich marschiert BDS quer durch Berlin und brüllt 'Tod den Juden'  -  hängt noch immer im digitalen Showroom etwa des Humboldt Forums". Roth wird sich hier durchsetzten müssen, meint Wessel: "Entweder ist BDS 'kritisch' oder antisemitisch, entweder 'weltoffen' oder unsolidarisch, entweder stimmt, was die Intendanten flöten, oder Roth hat recht. ... Sie selber hätten eine durchaus 'privilegierte Position' inne, schreiben die Mitglieder der 'Initiative Weltoffenheit' über sich. Zu Roths Aufgaben gehört es jetzt, diese privilegierten Positionen  -  ganz wie von der Initiative selber formuliert  -  'kritisch zur Disposition' zu stellen."

Die Publizistin Stella Leder hat ein "Netzwerk antisemitismuskritischer und jüdischer Künstler" gegründet, mit dem sie unter anderem der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" entgegentreten will. Im Gespräch mit Joshua Schultheis von der Jüdischen Allgemeinen kritisiert sie eine Art Gleichschaltung in den Institutionen: "Ich befürchte eine stille, unbemerkte Abwanderung von jüdischen und antisemitismuskritischen Personen aus diesen Institutionen heraus. Juden, die nicht antizionistisch sind, überlegen es sich dreimal, bei israelfeindlichen Aussagen oder Kunstprojekten etwas zu sagen. Der Druck auf Kulturschaffende, insbesondere wenn sie jüdisch sind, sich auf der 'richtigen' Seite des Nahostkonfliktes zu positionieren, ist enorm."
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