9punkt - Die Debattenrundschau

Radikale Geschichtsklitterung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2023. In der SZ warnt François Hollande: China und Russland wollen die Länder des Globalen Südens verführen, dagegen brauche es eine gemeinsame Strategie. In der FR erzählt die somalische Aktivistin Hibo Wardere, wie sie mit sechs Jahren beschnitten wurde, um "heiratsfähig" zu sein. Mit den starken Männern in der Politik kommen die starken Religionsinterpretationen, warnt der Tagesspiegel. In der SZ bittet Dirk Oschmann, die Ossis nicht mehr zur AfD zu befragen, sonst werden sie bockig. Auch der Postkolonialismus ist ein kleines Erbstück der Aufklärung, erinnert Axel Honneth in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Unter dem Titel "Los Wochos in Lostdeutschland" hatte Cornelius Pollmer Dirk Oschmanns "Der Osten eine westdeutsche Erfindung" in der SZ bitterböse besprochen. Nun ist das Buch - vor allem im Osten - ein Bestseller und Pollmer, der seinen damaligen Verriss ein wenig bedauert, trifft sich mit Oschmann zum Gespräch, der den scharfen Fragen des Interviewers allerdings meist ausweicht. "In Ihrem Buch wird man als Ostdeutscher die ganze Zeit offensiv gestreichelt, Botschaft: An dir liegt's nicht, dir ist übel mitgespielt worden, und ich, Dirk Oschmann, sehe das. … Ist das okay?", fragt Pollmer, worauf der Leipziger Germanist antwortet: "Ich wollte eben nicht das hunderttausendste Buch schreiben, in dem der Osten mit einbezogen wird in den Diskurs." Dazu befragt, warum er den "teilweise braunen Boden im Osten" ignoriert, antwortet Oschmann: "Nach meiner Wahrnehmung ist das so oft und immer wieder herausgestellt worden, dass die Problembeschreibung selbst schon zu einem Problem geworden ist und dass sie auch zu einer gewissen Bockigkeit in der Bevölkerung geführt hat. Es ist ja wohl nicht anzunehmen, dass alle, die AfD wählen, stramm rechts sind und auch NPD wählen würden. Da gibt es Anteile von Frustration und Protest, und da wäre es Aufgabe der politischen Arbeit, die zurückzuholen."
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Ideen

Unter dem Titel "Die Zukunft des Westen" startet die Zeit eine neue Serie, in der sie Intellektuelle aus aller Welt befragt, ob die Werte der Aufklärung noch zu retten sind. Den Auftakt macht der Sozialphilosoph Axel Honneth, der dem Postkolonialismus noch ein bisschen Aufklärung lassen will. "Der Westen ist keineswegs schon auf dem postkolonialen Weg der Läuterung", schreibt er: "Aber so richtig es ist, dem zerstörerischen Überschwang des Westens mit aller Macht Einhalt zu gebieten: Es wäre naiv zu glauben, die Verbrechen und die beklemmende Präsenz des Kolonialismus ließen sich wie im Schnellkurs ins Bewusstsein des Westens heben. Solche massiven Korrekturen an der kollektiven Selbstwahrnehmung lassen sich nicht per Dekret verordnen." Zudem dürfe die Kritik am Westen "nicht so weit gehen, mit dem Bade des sich über die Natur erhebenden Menschen gleich auch das Kind seiner reflexiven Zurechnungsfähigkeit auszuschütten. Wer heute das Naturverständnis außereuropäischer Weltbilder rehabilitieren, wer das Unrecht der Vergangenheit wiedergutmachen möchte, der kann sich nicht einer Fundamentalkritik verschreiben, die dem Menschen nicht nur sein Vermögen zur rationalen Distanznahme, sondern auch die Verantwortung für sein Tun und Lassen nehmen möchte. Auch der Postkolonialismus bleibt an dieses kleine Erbstück der Aufklärung gebunden, solange er seine Kritik am westlichen Denken als eine moralische Aufforderung zur kulturellen Umorientierung auffasst.
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Politik

Die Wiederaufnahme Assads in die arabische Liga ist auch "ein Triumph über den Westen", kommentiert Eva Kogel in der Welt: "Und zwar nicht nur über seine Werte, sondern durchaus realpolitisch über Gestaltungsmöglichkeiten in, machen wir uns ehrlich, der europäischen Nachbarschaft. Wir können nicht ernsthaft über die Bewältigung der Flüchtlingsherausforderung sprechen und gleichzeitig Syrien Assad überlassen. Der wiegt sich allein deswegen in Sicherheit, weil Moskau sich als Garant militärischer Stärke angeboten hat - ohne jedoch jemals nachhaltig für diese Stabilität sorgen zu können. Moskau und Damaskus verbreiten gemeinsam die Erzählung eines funktionierenden Staates. Ihr Syrien wird jedoch getragen von demselben Geist aus Repression durch die Sicherheitsapparate und Straflosigkeit für deren Schergen, auf dem die Macht des Assad-Zirkels über Jahrzehnte fußte."

Ob in den USA, der Türkei oder Israel - "mit dem Aufstieg autoritärer, illiberaler und rechter Bewegungen ist auch ein Erstarken ebensolcher Religionsinterpretationen verbunden", schreibt Malte Lehming im Tagesspiegel: "In den USA ist es das Christentum in Gestalt der Evangelikalen, in der Türkei der Islam in konservativ-sunnitischer Prägung, in Israel das Judentum in der Auslegung durch ultraorthodoxe Haredim ('die Gottesfürchtigen'). Allerdings bewirkt dieses Erstarken nicht etwa einen 'Clash of Civilizations' (Samuel Huntington). Große Teile der drei monotheistischen Weltreligionen schweißt die Wahrnehmung der Realität vielmehr zusammen. Sie bilden eine Ökumene der Anti-Liberalen. Fundamentalistische Christen, Muslime und Juden stehen zusammen im Kampf gegen Säkularismus, religiöse Antipathie, Frauenemanzipation, LGBTQ. Sie verteidigen gemeinsam die traditionelle Familie, das Recht auf Verschleierung, Beschneidung und öffentliche Präsenz."
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Religion

Im FR-Gespräch erzählt die Aktivistin Hibo Wardere, die in den Siebzigern in Somalia aufwuchs und deren Buch "Cut" über Genitalverstümmelungen bereits 2016 auf Englisch erschienen ist, wie sie im Alter von sechs Jahren zur Beschneidung gezwungen wurde, um "heiratsfähig" zu sein: "An diesem Morgen erfuhr ich, was Schneiden bedeutet und was man braucht, um eine schöne Frau oder allgemein eine Frau zu werden. Es war auch der Morgen, an dem ich das grausame, entsetzliche Abschlachten kennenlernte, so möchte ich es nennen. Plötzlich zwangen mich die Menschen, denen ich vertraute, mich nackt hinzusetzen und zogen meine Beine auseinander. Als würden meine Beine abgetrennt werden. Und dann die fremden Blicke auf meine Genitalien und die damit verbundene Verlegenheit und das Unbehagen, das ich empfand.Was sie dann taten, werde ich nie vergessen. Mit schmutzigen Rasiermessern rissen, schnitten und schnitten sie, was mir wie eine Ewigkeit vorkam. Ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, sie würden mir ein Stück nach dem anderen abnehmen, bis ich sterbe. Sie müssen sich vorstellen, dass all dies ohne Schmerzmittel oder irgendeine Form der Anästhesie geschah."
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Europa

China und Russland wollen die Länder des Globalen Südens "verführen", in dem sie versuchen, "alte Ressentiments über den Imperialismus der USA und den Neokolonialismus des Westens zu nähren", schreibt der ehemalige französische Staatspräsident François Hollande, der in der SZ für eine gemeinsame deutsch-französische Strategie wirbt: "Erstens müssen sie sich eingestehen, dass sich in der Nato ein Europa der Verteidigung organisieren muss. Zweitens müssen sie ihren Armeen bedeutende Haushaltsmittel zur Verfügung stellen und ihre Verteidigungsindustrie europäisieren. Die europäischen Länder müssen aber auch verstehen, dass der Schutz, den ihnen die USA gewähren, keinesfalls für die Ewigkeit zugestanden sein muss. Schon die kommenden Wahlen in den USA könnten das transatlantische Verhältnis gefährden."

In der taz erinnert Inna Hartwich daran, dass Menschen wie Alexander Nawalny, Wladimir Kara-Mursa oder Ilja Jaschin, die alle jahrelange Strafen absitzen müssen, einen hohen Preis für ihre politischen Überzeugungen bezahlen. Und sie sind nicht die einzigen. Nawalny, der am Sonntag 47 Jahre alt wurde, bekam zum Geburtstag vom Staat einen neuen Prozess geschenkt. "'Bin ich wirklich gut gelaunt oder tue ich nur so?', hieß es in einem in seinem Namen veröffentlichten Tweet zu seinem Geburtstag. 'Ich bin es wirklich', folgte als Antwort an dem Tag, an dem weltweit Hunderte von Menschen für seine Freilassung auf die Straße gingen, auch in Russland. Vereinzelt stellten sich Männer wie Frauen in mehreren russischen Städten, einmal mit Plakat, einmal mit einem Luftballon, hin, um den 47-Jährigen so an seinem Ehrentag zu grüßen. Es dauerte nur Sekunden, weil Russlands Spezialpolizei die Menschen sofort abführte, mehr als hundert in 23 russischen Städten zählte die Bürgerrechtsorganisation OWD-Info."
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Geschichte

Immer mehr Inder kommen zum Studium nach Deutschland. Da könnte es zum Problem werden, meint der Indologe Axel Michaels in der FAZ, dass die Regierung Modi die Schulbücher im Sinne ihres Hindu-Nationalismus umschreiben lässt: "Federführend in dieser radikalen Geschichtsklitterung ist der von der Regierung bestellte Nationale Rat für Bildungsforschung und Ausbildung (NCERT). Dabei wird in den Schulbüchern, die für die sechste bis zwölfte Klasse verpflichtend sind, alles weggelassen, was den Ruhm des Hinduismus und die Regierung des Ministerpräsidenten infrage stellen könnte. So ist die lange, prägende Mogul-Geschichte (1526 bis 1858), der Indien viele architektonische Monumente, darunter das Taj Mahal, und höchste kulturelle Leistungen in Literatur, Musik und Malerei verdankt, nahezu ausradiert. Aber auch Reform- und Protestbewegungen wie etwa der bäuerliche Widerstand gegen den Bau des Narmada-Staudamms kommen nicht mehr vor. Stattdessen wird die Geschichte monokulturell dargestellt und mythologisiert, indem Götter wie Rama zu historischen Figuren erklärt werden. Auch das Kastensystem und die Rolle Modis als damaligem Ministerpräsidenten Gujarats bei den blutigen Pogromen von 2002, bei denen über eintausend Menschen - meist Muslime - umkamen, werden ebenso verharmlost" wie der rechtsradikalen Hintergrund des Gandhi-Attentäters Nathuram Vinayak Godse.
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Stichwörter: Geschichtsklitterung

Wissenschaft

In der FAZ zieht Felix Ackermann den Hut vor den Holocaustforscher Jan Grabowski und Shira Klein, die in einer Langzeitbeobachtung Änderungskampagnen bei Einträgen in der englischsprachigen Wikipedia zum Verhältnis von jüdischen und nicht jüdischen Bürgern in Polen während des Zweiten Weltkriegs nachgewiesen haben. "Die beiden Forscher zeigen, wie Wikipedia-Autoren mit Pseudonymen wie Volunteer Marek, Piotrus und Poeticbent durch eine Vielzahl von kleineren Veränderungen das Bild der nicht jüdischen polnischen Gesellschaft aufhellten, indem sie die Folgen eines weitverbreiteten Antisemitismus verringerten und die Zahl von Polen, die Juden trotz von deutscher Seite drohender Todesstrafe halfen, erhöhten. Streit entfachte sich um Formulierungen in neuralgischen Einträgen, in denen sich die Interpretationen des polnischen Binnenverhältnisses im Angesicht der deutschen Gewaltherrschaft kristallisieren." Da man in der Wikipedia jede Änderung nachverfolgen kann, waren Klein und Grabowski erfolgreich mit ihrer Untersuchung: einige der Wikipedia-Autoren wurden für die Bearbeitung der entsprechenden Kapital gesperrt. Die Methode der beiden Forscher "sollte in jedem Proseminar eingeübt werden", empfiehlt Ackermann.

In der taz bekennt Mathias Geffrath, dass er wenig Ahnung von neuen Technologien wie Chat-GPT und ihren Auswirkungen hat - wie die meisten Menschen. "Und während Kulturkritiker und Soziologen noch versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt: in der globalen Privatisierung der digitalen Infrastrukturen, im 'Chip War' zwischen den beiden Supermächten. Die KI-Revolution ist global, sie erfordert eine globale Kontrolle - der Satz ist wirkungsloser als die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz. Europa humpelt hinterher, auch das ist ein Allgemeinplatz ohne Folgen. Belastbare Ahnungen vom Umfang kommender Arbeitslosigkeiten gibt es so wenig wie Ideen über ihre Kompensation. Politische Metaphysiker halten sich an Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Dazu braucht es aber mehr Diskussionen und vor allem mehr Bildung, so Greffrath. "Vor ein paar Tagen haben hundert Verbände hundert Milliarden für Bildung gefordert. Haben Sie heute davon noch etwas gehört? Vielleicht hilft ja wirklich nur noch Festkleben."
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