Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2022. Bei Twitter schreibt Alexei Nawalny über Ilja Iwanowitsch Nawalny, der in Butscha wegen seines Nachnamens ermordet wurde. FAZ und Perlentaucher denken über das Ausmaß der deutschen und europäischen Mitverantwortung nach. Ein "Ukraine Support Tracker" des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zeigt, wie viel Deutschland der Ukraine gibt. Die FAZ und DeskRussie warnen vor der Rechtsextremistin Marine Le Pen.
Einer der vielen Ermordeten, die die russische Armee am Wegesrand von Butscha liegen ließ, hieß Ilja Iwanowitsch Nawalny. Da die Marodeure, die inzwischen von Putin einen Orden erhalten haben (mehr hier), den Pass des Mannes neben der Leiche platzierten, ist zu vermuten, dass sie ihn allein wegen seines Nachnamens ermordeten. Darüber veröffentlicht Alexei Nawalny einen Twitter-Thread: "Es ist jetzt die Pflicht eines jeden, zumindest einen kleinen Beitrag zu leisten, um diesen Krieg zu beenden und Putin zu entmachten."
1/9 A passport with the surname "Navalny" lies next to the dead body on the ground. This is one of the people killed in the Ukrainian village of Bucha. Ilya Ivanovich Navalny. pic.twitter.com/vxfdkrTmLv
Perlentaucher Thierry Chervel versucht das Ausmaß der Mitverantwortung zu ermessen, in das Deutschland und Europa gerieten, die dem Schlächter Putin zwei Jahrzehnte lang zusahen: "Wir haben noch gar nicht begriffen, dass wir bereits als Besiegte in die Auseinandersetzung hineingehen... Wir sind wie jene Menschen in einer der 'Alien'-Folgen, die vom Monster eingesponnen wurden, um sie als Wirtstiere für seine Fortpflanzung zu nutzen: Sie sind im Kokon gefangen und doch allerbester Laune, weil das Monster gelernt hat, ihnen eine Droge zu injizieren, die ihnen den Willen nimmt."
Deutschland hat durch sein Festhalten an Nord Stream 2, noch nach der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des Donbass, Russland geradezu zu seiner Kriegspolitik eingeladen, findet Reinhard Veser im Leitartikel der FAZ: "Dass Deutschland dennoch bereit war, die Energiebeziehungen mit Russland zu vertiefen, wurde in Moskau als Signal verstanden, dass die Deutschen nach einer angemessenen Schamfrist zu 'business as usual' zurückkehren und die Ukraine im Zweifelsfall opfern würden. Dieser Eindruck verstärkte sich angesichts der Unbeirrbarkeit, mit der Berlin über Jahre trotz immer neuer russischer Provokationen gegen die Ukraine sowie trotz des Protests der Vereinigten Staaten und eines großen Teils der EU-Partner an dem Projekt festhielt."
Christoph Trebesch und Kollegen vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel haben einen "Ukraine Support Tracker" erstellt, aus dem diese Grafik stammt. Hier wird die die Unterstützung für die Ukraine am Bruttosozialprodukt der unterstützenden Länder gemessen. "Die USA sind hier auf dem 6. Rang, Deutschland auf dem 12. Rang." Mehr in diesem Twitter-Thread.
Deutschland auf Platz 12. Grafik aus dem "Ukraine Support Tracker".
Russland hat wegen der Zerstörung der Stadt Mariupol auch die traditionellen griechischen Sympathien verspielt, denn in der Stadt lebt der größte Teil der griechischen Minderheit der Ukraine, schreibt Michael Martens in der FAZ: Die Angaben über ihre Anzahl "variieren stark. Laut der bisher letzten Volkszählung von 2001 ließen sich vor zwanzig Jahren etwa 91.000 Personen als Teil dieser Bevölkerungsgruppe registrieren... Griechisch sprechen die meisten Griechen in der Ukraine freilich nicht mehr. Ihre Muttersprache ist in der Regel Russisch, seltener auch Ukrainisch."
Außerdem: Bloomberg Newswill in einem nicht gezeichneten Hintergrundartikel einige Zeichen des Dissenses in Putins engerem Kreis ausmachen. Die Autorin Eva Ladipo hat vor sieben jahren einen Roman mit dem Titel "Wende" geschrieben, auf den sie heute in der FAZ zurückkommt. Der Plot: "Um Deutschland dazu zu bringen, seine Energieversorgung - also seine grundlegende Funktionsfähigkeit, sein wirtschaftliches Überleben und seine politische Stabilität - von russischen Gaslieferungen abhängig zu machen, müsste der Kreml dafür sorgen, dass alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden."
============== Marine Le Pen ist eine Rechtsextreme, die sich für die Dauer des Wahlkampfs Samthandschuhe angezogen hat, schreibt Niklas Bender in der FAZ. Der radikaler tönende Eric Zemmour sei da für sie sogar nützlich gewesen, weil sie in seinem Windschatten agieren konnte. Ein näherer Blick auf ihre Programme lehrt das Fürchten: "Le Pens radikalstes Projekt betrifft Frankreichs Verfassung. Über symbolische Gesetzesvorhaben wie die Wiedereinführung der Todesstrafe und ein Verschleierungsverbot hinaus, die sie derzeit aus taktischen Gründen relativiert, plant sie offen die institutionelle Neuordnung: Wenn sie gewählt wird, will sie innerhalb von sechs Monaten ein Referendum über Immigration und Identität abhalten lassen, aus dem ihre weitere Politik folgen solle. Dabei würde sie wesentliche Teile der Verfassung ändern."
Wenig kommentiert wurde in den deutschen Medien, dass in der ersten Wahlrunde in Frankreich 55 Prozent der Stimmen an Putin-Bewunderer (namens Marine Le Pen, Eric Zemmour, Jean-Luc Mélenchon, Nicolas Dupont-Aignan) gingen, und das obwohl der Krieg schon begonnen hatte und sich manche Politiker nur halbherzig von ihren früheren Positionen distanzierten. Und Marine Le Pen macht schon Pläne für eine Zukunft mit Putin, notiert Marie Mendras bei DekRussie: "Schon 14. April setzte Marine Le Pen in der französischen Außen- und Sicherheitspolitik wieder auf Entspannung. Sie erklärte ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie 'die Annäherung zwischen der Nato und Russland befürworten wird, wenn der Krieg vorbei ist'. Mit anderen Worten: Die Ukraine wird zerschlagen und das rechtsextreme Frankreich wird seine Geschäfte mit Putin und anderen wieder aufnehmen. Kein Wort für die Opfer."
Die Regierung von Boris Johnson hat einen wie sie findet cleveren Plan entwickelt, um sich Flüchtlinge vom Hals zu schaffen: Das zehntreichste Land der Welt will Ruanda, einem der ärmsten Länder der Welt, seine Flüchtlinge schicken, die sich dann von Ruanda aus um eine Aufenthaltsgenehmigung oder Asyl in Britannien bewerben dürfen. 150 Millionen Pfund hat Johson schon an Ruanda überweisen. Im Guardianfindet Joshua Surtees das ausgesprochen zynisch: "Die Bevölkerungsdichte Ruandas ist fast doppelt so hoch wie die Großbritanniens. Das Land ist fast doppelt so dicht besiedelt wie unseres. Dennoch beherbergt es pro Kopf bereits fünfmal so viele Flüchtlinge wie das Vereinigte Königreich. Ruanda nimmt nicht nur kongolesische und burundische Flüchtlinge auf, sondern hat sich kürzlich auch als Aufnahmeland für die Notevakuierung von Flüchtlingen angeboten, die in Libyen unter katastrophalen Bedingungen festsitzen."
Ruanda hat tatsächlich einen Aufschwung genommen und sich ein gutes Image geschaffen, schreibt der Nairobi-Korrespondent der NZZ Samuel Misteli, heute. "Hinter der Marke Rwanda jedoch verbirgt sich eine Entwicklungsdiktatur, die ihre Kritiker so hartnäckig verfolgt wie kaum ein anderes Land. Oppositionelle werden verhaftet und gefoltert, im Pressefreiheitsindex der Nichtregierungsorganisation 'Reporter ohne Grenzen' belegte Rwanda zuletzt Rang 156 unter 180 Ländern. Zudem gilt der starke Mann Kagame als paranoid und rachsüchtig; mehrere frühere Verbündete, die ins Ausland flüchteten, fanden unter ungeklärten Umständen den Tod."
Im Sommer vor fünfzig Jahren wies Idi Amin aus obskuren Gründen rund 28.000 asiatische Ugander aus, darunter Fiyaz Mughal, der sich im Guardian daran erinnert, wie schnell die Briten die Ausgewiesenen damals einbürgerten: "Bis Ende Oktober 1972 hatten etwa 18.000 ugandische Asiaten verschiedene Umsiedlungslager durchlaufen, und meine Familie war dem Lager der Royal Air Force in Stradishall in Suffolk zugewiesen worden. Der Evening Standard meldete am 2. November 1972, dass mindestens 7.000 von ihnen bereits in Städte umgesiedelt und dort untergebracht worden waren, wobei viele von ihnen Arbeit fanden, so dass sie ihr Leben weiterführen konnten. Einige Familien mussten nur wenige Wochen auf ihre Umsiedlung warten, während andere monatelang darauf warteten." Der Unterschied zu heute könnte nicht größer sein: "Innerhalb von 50 Jahren hat sich unser Land von der raschen Wiederansiedlung asiatischer Flüchtlinge aus Uganda und ihrer Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu einem Land entwickelt, das Flüchtlinge 4.000 Meilen weit weg zu einer ruandischen Regierung schickt, die eine sehr fragwürdige Menschenrechtsbilanz aufweist."
Willi Winkler erzählt in der SZ, wie der BND im Eichmannprozess dafür sorgte, dass aus Gründen der Staatsräson Adenauers Staatssekretär, der Nazi Hans Globke, nicht in den Prozess hineingezogen wurde: "Offenbar ist die Staatsräson bis heute, sechzig Jahre danach, bedroht, denn der Band 'Geheime Dienste' der Unabhängigen Historikerkommission über die Inlandsspionage des Bundesnachrichtendienstes (BND) kann nur mit zahlreichen Schwärzungen erscheinen. Das Kapitel über den Eichmann-Prozess ist zeilen- und absatzweise geschwärzt, einmal sind es gleich mehrere fortlaufende Seiten, die in dem druckfrischen Buch unleserlich gemacht worden sind."
Heute keine taz. Erklärt wird es auf der Homepage der Zeitung: "Am Mittwoch keine taz. Ein Stromausfall legte unserer Server nachhaltig lahm. Erstmals in 43 Jahren ist eine taz-Ausgabe ausgefallen. An diesem Dienstag kam uns .. ein Stromausfall in die Quere. Am 20. April 2022 erscheint keine gedruckte oder digitale Ausgabe der taz. Und auch unsere Webseite war bis eben nicht erreichbar."
Alles bleibt beim Alten in der New York Times, wo Chefredakteur Dean Baquet wegen Erreichens der Altersgrenze zurücktritt, schreibt Kyle Pope in der Columbia Journalism Review. Baquets Nachfolger ist Joe Kahn, der seit langem in der Times tätig war: "Kahn, der seit September 2016 den zweithöchsten Posten in der Nachrichtenredaktion innehat, war immer ein Favorit für die Spitzenposition. Er war Reporter im Washingtoner Büro, Büroleiter in Peking und internationaler Redakteur. Der heute 57-Jährige war Präsident der Studentenzeitschrift Crimson in Harvard, und sein Vater war Mitbegründer der Büroartikelkette Staples. Bei der Ankündigung von Kahns Ernennung nannte Sulzberger ihn 'einen brillanten Journalisten und eine mutige und prinzipientreue Führungskraft'."