9punkt - Die Debattenrundschau

Sich in eine pluralistischere Gesellschaft einbringen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2021. Polen ist "ganz an den Rand Europas" gerückt, fürchtet die FAZ nach dem gestrigen Auftritt des polnischen Premierministers  Mateusz Morawiecki vor dem EU-Parlament. geschichtedergegenwart.ch erzählt, warum es Griechenland und Bulgarien so schwerfällt, sich mit der Existenz Nordmazedoniens abzufinden. Die Aufregung um den Rauswurf Julian Reichelts ist immer noch sehr groß. Die SZ reduziert ihren Lokalteil um drei Seiten, schimpft das Münchner Lokalradio Lora.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2021 finden Sie hier

Europa

Gestern redete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im EU-Parlament und verteidigte den Abbau des Rechtsstaats in seinem Land, der vom folgsamen polnischen Verfassungsgericht abgesegnet wurde: Polnisches Recht habe Vorrang. Eric Bonse berichtet in der taz von der stürmischen Aussprache.

Christian Rath erläutert in einem zweiten Artikel, dass der "Vorrang des EU-Rechts bis heute nicht geregelt" ist. Auch zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht herrscht keine Harmonie: "Wie argumentiert der EuGH? Er erklärt, dass eine Rechtsgemeinschaft wie die EU (und damals die EG) nur funktionieren kann, wenn das gemeinschaftliche Recht dem nationalen Recht vorgeht. Der Vorrang muss deshalb auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht gelten. Wie argumentiert das BVerfG? Das EU-Recht gehe nur in den Bereichen vor, in denen die EU-Staaten der EU eine Kompetenz eingeräumt haben. Das BVerfG reklamiert für sich die Macht, zu entscheiden, ob im konkreten Fall der Vorrang des EU-Rechts gilt oder ob ein EU-Akt in Deutschland unwirksam ist."

Thomas Gutschker hat den Auftritt Morawieckis für die FAZ verfolgt: "Wenn dieser Tag, an dem das Europäische Parlament in Straßburg und die Europaminister in Luxemburg parallel über die Rechtsstaatlichkeit in Polen debattierten, eines gezeigt hat, dann dieses: Polen ist ganz an den Rand Europas gerückt. Seine Regierung sprach über die EU-Institutionen wie über eine fremde, gewalttätige Macht - als handle es sich um die Sowjetunion."

Polen hat mit seiner Entscheidung, polnisches Recht über europäisches zustellen, einen Konsens aufgekündigt, der eigentlich längst keiner mehr ist, meint Stefan Kornelius in der SZ: "Polen will ein anderes Europa - und zur Wahrheit gehört, dass es mit diesem Wunsch nicht alleine ist. Deutschland steht am anderen Ende des Spektrums und mag es gar nicht verstehen, dass die Verrechtlichung Europas nicht als Segen betrachtet wird. Für die künftige Bundesregierung und die Kommission gehört aber auch dies zur bitteren Erkenntnis: Es gibt kaum eine Sanktionsmöglichkeit. Um den Rechtsstaatsmechanismus umzusetzen, fehlt im Rat die qualifizierte Mehrheit. Für harte Sanktionen nach dem Artikel-7-Verfahren sind die Anforderungen noch weniger zu erfüllen."

In Spanien gab es Äußerungen des Bedauerns von Politikern, die der ETA nahestanden, auch wenn das Wort "Verzeihung" noch nicht gefallen ist, berichtet Paul Ingendaay in der FAZ. Der in Deutschland lebende Autor Fernando Aramburu habe mit seinem Roman "Patria", in Spanien ein Bestseller, viel dazu beigetragen: "'Genau wie in der deutschen Nachkriegsgeschichte', so der Autor, werde der Augenblick kommen, 'da baskische Jugendliche ihre Eltern fragen: Wer war denn das, der in dieser Straße umgebracht wurde? Und auf welcher Seite standet ihr?' Dieser Augenblick kommt näher. In gewissem Sinn pirscht sich die ganze spanische Gesellschaft an ihn heran, allein schon durch zeitlichen Abstand, durch Filme, Bücher und die Historisierung des Geschehenen, wie sie etwa das neue 'Gedenkzentrum für die Opfer des Terrorismus' in Vitoria betreibt."

Die Osteuropahistorikerin Nada Boškovska erzählt bei geschichtedergegenwart.ch den oft kleinlich wirkenden Konflikt um die Bezeichnung des Staates Mazedonien, der sich auf griechischen Druck in "Nordmazedonien" umbenannt hat. Damit war der Weg in die Nato gebahnt - nicht aber der in die EU, denn hier macht nun überraschender Weise Bulgarien Druck: "Da Mazedonien im Mittelalter kurzzeitig zum Bulgarischen Reich gehörte und da die ethnische und sprachliche Nähe der beiden südslawischen Völker groß ist, wurde und wird auf die Mazedonier:innen Anspruch erhoben. Es wird negiert, dass im jugoslawischen Teil Mazedoniens (Vardar-Mazedonien - das Territorium des heutigen Staates) im Verlauf der letzten hundert Jahre eine Nation entstanden ist, die sich als 'mazedonisch' bezeichnet und seit 1944 über eine kodifizierte Schriftsprache verfügt. Die Erkenntnis, dass Nationen moderne Konstrukte sind und es nicht seit dem frühen Mittelalter eine unveränderliche 'bulgarische Nation' gibt, hat sich bisher auch in der bulgarischen Geschichtswissenschaft kaum durchgesetzt."

In der Türkei, unter ihrem frommen Präsidenten Tayyip Erdogan, beweisen die Pandora-Paper das Ausmaß der Korruption, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Aus der Büchse der Pandora kam auch die Cengiz Holding zum Vorschein. Sie erhielt in der Erdogan-Ära Ausschreibungen über rund 40 Milliarden Euro von der Regierung und wird im Bericht der Weltbank als eines von drei Unternehmen geführt, das die meisten öffentlichen Ausschreibungen weltweit gewann. Auch die Cengiz Holding transferierte ihre Millionen in Steuerparadiese."
Archiv: Europa

Medien

"Compliance" war das Instrument, das die New York Times nutzte, um einen neuen Konkurrenten anzugreifen. Die Affäre um Bild-Chefredakteur Julian Reichelt (unsere Resümees) zeigt Michael Hanfeld in der FAZ, "dass ein Unternehmen mit großen Aspirationen (zuletzt unterstrichen durch den Kauf von Politico) auf den amerikanischen Markt dort keine Chance hat, wenn es von einer Missbrauchs-Führungskultur geprägt ist. Doch das sollte auch hier gelten."

Für Cornelius Pollmer (SZ) stellt sich die Frage: "Warum hat Döpfner so lange an Reichelt festgehalten? Seine Rolle in der Affäre Reichelt wie auch als Präsident des Bundesverbandes der Zeitungsverleger wird sehr genau zu prüfen sein. ... Ein betriebliches Umfeld, in dem sich etwa Frauen unwohl fühlen und Machtmissbrauch erleben, wird in aller Regel durch mehr geprägt als nur einen einzigen Mann an der Spitze. Reichelt ist jetzt weg - wie viel von der durch ihn geprägten Kultur im Haus bleiben wird oder nicht, ist lange nicht klar."

(Via dwdl.de.) Viel diskutiert wurde auf Twitter diese Frage des einstigen Zeit-online-Chefredakteurs Wolfgang Blau:

Der Axel Springer Verlag beeilt sich mitzuteilen, dass er die Übernahme des Politmagazins Politico abgeschlossen hat: "Politico ergänzt das Portfolio von Axel Springer als zukünftig zentraler Bestandteil der bereits heute starken Präsenz des Unternehmens auf dem dynamischen und zunehmend vielfältigen US-Medienmarkt."

Dass außerdem herausgekommen ist, dass Springer-Chef Mathias Döpfner in einem privaten Tweet die Bundesrepublik mit der DDR verglichen hat, offenbart SZ-Redakteur Nils Minkmar "beunruhigende Einsichten in die Kultur der Führungsetage bei Springer. Wie ist es da an der Spitze?" Am Ende ärgert ihn aber doch mehr die politische Einstellung des Verlags, die er in dem Springer-Film "Auf der Suche nach der verlorenen Auflage" verkörpert sieht, etwa wenn eine Managerin die Bedeutung der Unternehmenskultur betont: "Da wird nun aus Gründen gelacht werden, die gar nicht der Intention der Macher entsprechen dürften, denn wenn man sich die Zahl und die Qualität der Frauen besieht, die das Haus in der letzten Zeit verlassen haben, regt sich der Verdacht, solche Begriffe würden bei Springer nur satirisch gebraucht. All die Artikel in Bild und Welt gegen political correctness, gegen Genderwahn wirken nun wie Rechtfertigungsversuche für eine aus der Zeit gefallene Firmenkultur." Über die "Qualität der Frauen" in einer Konkurrenzzeitung zu schwadronieren, klingt allerdings auch nicht grad nach 21. Jahrhundert.

Außerdem zum Thema: Jochen Wegner unterhält sich für Zeit online über den Fall Springer mit dem New-York-Times-Journalisten Ben Smith, der ihm versichert: "Schon wegen fünf Prozent der bekannten Vorwürfe wäre ein amerikanischer Manager sofort gefeuert worden". In der SZ porträtiert Caspar Busse den Verleger Dirk Ippen, der die Geschichte seines eigenen Investigativteams über Reichelt und Springer abgewürgt hatte. Und Aurelie von Blazekovic stellt den Nachfolger Reichelts bei Bild vor, Welt-Redakteur Johannes Boie, der einst bei der SZ anfing.

(Via turi2) Leicht modifiziet hat die Süddeutsche Zeitung ihre Lokalberichterstattung laut eigener Meldung. Das Lokalradio Lora sieht das anders: "Der Teil 'Stadtviertel' bestand bis letzte Woche in der Regel aus vier Seiten, die nun wegfallen. Der Teil 'München' wurde seit gestern um zwei Seiten erweitert, wobei eine Seite unter dem Titel 'SZ Extra' die bisherige Donnerstags-Beilage ersetzen soll. Unterm Strich wird die Lokalberichterstattung um täglich rund drei Seiten reduziert. 'Leicht modifiziert' ist also ein ziemlich dreister Euphemismus."
Archiv: Medien

Politik

Schlimm, was der Westen in Afghanistan getrieben hat, findet Ilija Trojanow in seiner taz-Kolumne: "Obwohl das ursprüngliche Ziel des militärischen Einsatzes die Vernichtung von al-Qaida war und große Teile der Taliban mit dieser Terrororganisation nichts zu tun hatten, wurden die Taliban von Anfang an dämonisiert und zu keiner der vermeintlich inklusiven Konferenzen eingeladen. 19 Jahre lang wurde weiter Krieg geführt, obwohl der ursprüngliche Kriegsgrund weggefallen war, gegen Kräfte, die keine Möglichkeit hatten, sich in eine pluralistischere Gesellschaft einzubringen."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

Deutsche Archäologen haben auch die Osmanen vielfach übers Ohr gehauen, um Antiken nach Deutschland bringen zu können, behauptet Jürgen Gottschlich in seinem Buch "Die Schatzjäger des Kaisers" und bezieht sich dabei auf Briefe, die er im Archäologischen Institut in Berlin fand. Im Interview mit der FR führt er das näher aus: "Das Osmanische Reich war keine Kolonie, aber es war in vielfacher Hinsicht abhängig. Das kam dem Kolonialzustand doch sehr nahe. Das Osmanische Reich war pleite. Es stand unter massivem Druck von Russland, das mehrfach versuchte, über den Bosporus einen Zugang zum Mittelmeer zu bekommen. Die Osmanen brauchten Verbündete - und fanden sie in den Deutschen, die sie dann mit Antiken dafür bezahlten. Deren Erwerb geschah unter Druck und war deshalb unredlich."
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Stichwörter: Osmanisches Reich

Geschichte

Florian Coulmas besucht für die NZZ die Ausstellung "Macht - 800 Jahre Binnenhof" in Den Haag. Der Binnenhof, in dem die beiden Kammern des niederländischen Parlaments tagen, soll generalsaniert werden, da empfiehlt sich auch mal ein Blick zurück: "Die Ausstellung erzählt die niederländische Geschichte aus einem exquisiten Blickwinkel: als Geschichte eines etwas heruntergekommenen Gebäudes. Dargestellt werden die Kontroversen, die Konfrontationen und die Konflikte, die in den Wandelgängen, Hallen, Hinterzimmern oder vor dem Binnenhof ausgetragen wurden. Selten war es in den Niederlanden unumstritten, wer die Macht hatte, und nicht immer vollzog sich der Übergang von einem Herrscher zum anderen auf friedliche Weise."
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Stichwörter: Niederlande, Den Haag

Gesellschaft

Statistische Zahlen über die sinkende Lebenserwartung zeigen die Auswirkungen der Corona-Pandemie, schreibt Hella Camargo bei hpd.de: "Männer in den USA und in Litauen haben am meisten eingebüßt. Ihre Perioden-Lebenserwartung fiel um 2,2 beziehungsweise 1,7 Jahre. Insgesamt fiel für Männer in elf der 27 untersuchten Länder die Perioden-Lebenserwartung um mehr als ein Jahr. Für Frauen sank sie in acht Ländern um mehr als ein Jahr. '"Diese Zahlen unterstreichen das historische Ausmaß der Pandemie', sagt Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock."

Auch psychisch hinterlässt die Pandemie Spuren, warnt Roman Bucheli in der NZZ: "Krisen hinterlassen im Verhalten und im Bewusstsein der Menschen Narben, die selbst in der Phase realer Normalisierung nicht sogleich verschwinden. Sie halten als selbstverstärkende Rückkoppelungseffekte die Erinnerung an die Gefahren wach und verhindern eine vollständige Rückkehr zu den alten Lebensgewohnheiten von vor der Krise. Die Welt wird nun als risikoreicher wahrgenommen, als sie in Wirklichkeit ist. Je schneller es in einer Krisensituation gelingt, das Vertrauen in selbstheilende Kräfte zu stabilisieren, desto geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit der Narbenbildung und damit die Gefahr anhaltender Folgeschäden."

In Berlin wird so fröhlich über die nächste Koalition verhandelt, als hätte es die blamablen Fehler bei der Wahlorganisation nie gegeben, staunt in der SZ Jens Bisky, der die halbgaren Entschuldigungen - Großstadt ist nun mal chaotisch - nicht mehr hören kann: "Um sich das Desaster vor Augen zu führen: Es ist etwas grundsätzlich anderes, ob ich, wie in Berlin üblich, monatelang auf einen neuen Reisepass oder einen Termin auf dem Standesamt warte - oder ob in Berlin die Regeln freier, gleicher und geheimer Wahlen verletzt werden. ... Wer jetzt zur Tagesordnung übergeht, gefährdet die Selbstachtung der Stadtgesellschaft und sorgt dafür, dass sie ihr wichtigstes Problem verkennt: Die dysfunktionale Verwaltung dieser Stadt ist das entscheidende Problem der Berliner Gegenwart."
Archiv: Gesellschaft