9punkt - Die Debattenrundschau

Üblicherweise per Fax

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2020. Netzpolitik staunt über die Datenübermittlungstechnik der Gesundheitsämter. In der SZ hat das Wort "Überkapazität" für den Soziologen Steffen Mau einen ganz anderen Geschmack als noch vor zwei Wochen. Friedrich Christian Delius ist ebenfalls in der SZ ganz froh über die Errungenschaften der Moderne. Im Guardian konstatiert der Politologe David Runciman die Rückkehr der Nation. Nutzt Amazon die Krise, um das E-Book durchzusetzen? Die Branche soll sich gegen Amazon wehren fordert der Agent Thomas Montasser  in einem offenen Brief.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2020 finden Sie hier

Wissenschaft

Deutschland ergreift drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise. Aber weder das Bundesgesundheitsministerium (BMG), noch das Bundesforschungsministerium (BMBF) begleiten diese Maßnahmen mit Forschungsprogrammen, die sie auf ihre Wirksamkeit untersuchen, berichtet Heike Haarhoff in der taz: "Wie kann das sein? Auf welcher Grundlage werden Millionen Kinder vom Schulunterricht ausgeschlossen, werden weitere Millionen arbeitende Menschen ins Homeoffice verbannt oder in die Arbeitslosigkeit geschickt, wenn diese Maßnahmen - zeitnah ihre Durchführung begleitend- nicht auch wissenschaftlich überprüft und hinterfragt werden?" Immerhin, nach Impfstoffen und Medikamenten gibt es inzwischen laut Manfred Ronzheimer auch in Deutschland intensive Forschung.

Daniel Laufer untersucht in einem instruktiven Artikel für Netzpolitik, wie die Daten über Neuerkrankungen im föderalen Deutschland mit seinen Dutzenden von Gesundheitsämtern überhaupt zustande kommen. Nicht immer ist die neueste Technologie im Einsatz: "Das Infektionsschutzgesetz schreibt vor, wie Meldungen abzulaufen haben. Stellt ein Labor anhand einer Probe fest, dass sich ein Patient mit dem Coronavirus infiziert hat, teilt es das Ergebnis dem örtlichen Gesundheitsamt mit. Dazu nutzt es ein vorgefertigtes Meldeformular, das es üblicherweise per Fax verschickt. Zudem informiert das Labor die für den Patienten zuständige Ärztin. Sie soll die Meldung etwa durch Kontaktdaten des Betroffenen ergänzen und sie ebenfalls an das Gesundheitsamt übermitteln. Recherchen zeigen, dass auch dies meist per Fax passiert."

Wir wissen genug über die Pandemie, um uns aus dem "Lockdown zu befreien", schreibt der Arzt Alexander Kekulé auf Zeit Online. Er rät ebenfall zum Tragen von Masken, zu "Smart Distancing", also vor allem dem Schutz von Risikogruppen und zu "individueller Vigilanz": "An Covid-19 Erkrankte sind in der Regel nur wenige Tage ansteckend. Durch das vorgeschlagene Smart Distancing können die meisten Infektionen, insbesondere von Risikopersonen, vermieden werden. Zusätzlich muss jeder Einzelne bei einem Verdacht auf Covid-19 konsequent und verantwortungsvoll reagieren - wer hustet oder Fieber hat, bleibt zu Hause, bis ein Testergebnis vorliegt. Für diesen Fall sollten Hotlines eingerichtet werden, die die Testung auf Covid-19 und erforderlichenfalls auch die Versorgung mit Lebensmitteln organisieren (hierfür und für die Versorgung der Risikopersonen wäre übrigens eine Smartphone-App nützlich - das Geo-Tracking infizierter Personen ist dagegen Unsinn)."

Außerdem: Das Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit sei sehr wohl sinnvoll, und auch Hauptorakel Christian Drosten hätte seine Position dazu verändert, berichten Malte Kreutzfeldt und Mareike Andert in der taz. "Das Virus wird nicht schwächer, es mutiert nicht", sagt Elisa Vicenzi, Forschungsleiterin am Krankenhaus San Raffaele in Mailand laut Linkiesta - und annonciert einen schwierigen April und möglicherweise ein Ende der Krise im Mai. Die Bundesregierung will Tests massiv ausweiten, berichtet die SZ. Und bei heise.de stellen Sebastian Müller und Guido Burger einige "Maker" vor, die qua 3D-Drucker einfach nachzubauende Beatmungsgeräte entwickeln - sie haben sich bei dem  #WirVsVirus-Hackathon (unser Resümee) kennengelernt.
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Europa

Schlimmer als der Iran? Bitter schildert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne die Beklämpfung des Corona-Krise unter Tayyip Erdogan: "Unmittelbar nach dem Eingeständnis der Corona-Krise verbot der Iran das Freitagsgebet, das gläubige Männer gemeinschaftlich verrichten, und setzte die Fußball-Ligen aus. Welche Maßnahme ergriffen die Regierenden der Türkei nach dem ersten offiziellen Corona-Fall? Sie schlossen Gaststätten mit Alkoholausschank! Die Freitagsgebete, zu denen jede Woche rund zwanzig Millionen Männer strömen, liefen weiter." Lokal-Reporter, die die Behörden beschuldigten, die Zahlen zu manipulieren, wurden dagegen festgenommen.

Nicht erst seit der Corona-Krise "schwelt ein kalter Bürgerkrieg" zwischen der antidemokratischen PiS-Regierung und der polnischen Zivilgesellschaft, schreibt der polnische Journalist Jaroslaw Kurski in der Welt. Statt die Präsidentschaftswahlen zu verschieben, nutze die PiS die Umstände, um ihre Macht zu festigen: "Wie in Zeiten des Kommunismus streuen die regierungstreuen Medien Erfolgsmeldungen einerseits, verunglimpfen die Opposition, die freien Medien und die EU andererseits. Das staatliche Fernsehen übernimmt die russische Argumentationsweise, nach der nur homogene Nationalstaaten erfolgreich seien im Kampf gegen das Virus. Die EU dagegen 'hat versagt'. Die parteitreuen Medien schweigen sich darüber aus, dass die EU Polen allein mit 7,5 Milliarden Euro Schnellhilfen im Kampf gegen die Pandemie unterstützt."
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Ideen

Auch politisch lehrt uns die Corona-Krise ein paar "harte Wahrheiten", notiert der Politologe David Runciman ("So endet die Demokratie") im Guardian. Zum Beispiel diese: "Es kommt tatsächlich auf nationale Regierungen an, und es ist wichtig, unter welcher Regierung man sich befindet. Obwohl die Pandemie ein globales Phänomen ist und an vielen verschiedenen Orten ähnlich erlebt wird, werden die Auswirkungen der Krankheit in hohem Maße von den Entscheidungen der einzelnen Regierungen beeinflusst. Unterschiedliche Ansichten darüber, wann und wie weit man handeln soll, bedeuten auch, dass keine Nation die gleiche Erfahrung macht wie die anderen."

Die neue "Wissenschaftsgläubigkeit" der Politiker hat auch ihre Schattenseiten, konstatiert der Philosoph Markus Gabriel in der NZZ. Der gegenwärtige "virologische Imperativ" bedarf auch einer "ethisch-philosophischen Reflexion", fährt er fort. Über die ethische Berechtigung einer Ausgangssperre in liberalen Demokratien wurde ebenso wenig nachgedacht wie über deren Folgen: "Wie steht es mit den konkreten Gefahren für unser Gesundheitssystem, die durch den wirtschaftlichen Schockzustand der bevorstehenden Wirtschaftskrise erst geschaffen werden? Wie mit den Einsamen und Suchtkranken, den Menschen, die nicht den Luxus haben, sich in ein sicheres Zuhause mit Garten zurückziehen zu können, sondern denen durch die Ausgangssperren häusliche Gewalt und Missbrauch drohen? Und welche Risiken bestehen für unsere Sicherheitsapparate, wenn plötzlich Geschäfte in E-Meetings abgewickelt werden, die ohne große Schwierigkeiten abgehört werden können?"

Weitere Artikel: In der Welt nimmt Slavoj Zizek die Krise wieder einmal zum Anlass, um den Kommunismus zu preisen. In der NZZ fürchtet Olivier Kessler, Vizedirektor des Liberalen Instituts, indes eine zunehmende "Verstaatlichung, Zentralisierung und Knechtschaft" der Gesellschaft. Ebenfalls in der NZZ versucht die Philosophin Ursula Renz die Krise mit Spinoza-Lektüre zu bewältigen.
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Gesellschaft

Die gemeinsame Risikoerfahrung wird nicht nur unsere Solidarität "mobilisieren", sondern auch unseren Blick auf die Daseinsvorsorge des Staates verändern, konstatiert der Soziologe Steffen Mau in der SZ, auch mit Blick auf die Geschichte krisenbedingter Veränderungen: "Vielerorts trieb man die Ökonomisierung voran, baute Personal ab, verdichtete das Arbeitspensum. Die Durchleuchtung aller öffentlichen Einrichtungen auf der Suche nach Einsparreserven hat dazu geführt, dass nur noch Dinge finanziert werden, die sich 'rechnen'. Aber mit der betriebswirtschaftlichen Brille kann ein vorgehaltenes, aber wenig genutztes Intensivbett kaum rentabel sein. Schon heute klingt das Wort 'Überkapazitäten' so ganz anders als noch vor ein paar Wochen, das Lamento über die 'überhöhte Bettendichte' des deutschen Gesundheitssystems wird wohl so schnell nicht wieder aufleben."

Ebenfalls in der SZ möchte sich Friedrich Christian Delius nicht an den Gedankenspielen der Soziologen beteiligen, die darüber sinnieren, wie die Krise den Neoliberalismus verändern wird: "Das ist schon deshalb unappetitlich, weil noch gar nicht auszudenken ist, wie die armen Länder, wie die Afrikaner, die Inder, die Lateinamerikaner durch diese Katastrophe kommen werden." Stattdessen meint er: "Das neue Virus ist gnädiger als die alten Kriege, es trifft eher die Alten als die Jungen. Die Gesellschaften werden sich, auch das scheint sicher, verjüngen. Doch auch wir Älteren haben es besser, zumindest in unseren Breiten. Anders als unsere Vorfahren können wir uns rund um die Uhr informieren und mit den Nächsten austauschen, haben Telefon und Internet, Lieferketten und verantwortungsvolle Regierungen, Aufklärung und Ablenkung, Post und Mail, Skype, Video und Facetime, Facebook und haltbare Bücher. Und, ganz wichtig, wir sind nicht dazu verdonnert, uns militärisch verbiegen zu lassen und unsere Nachbarländer als Feinde zu hassen und zu vernichten."
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Kulturmarkt

Die Buchhandlungen haben geschlossen, und Amazon schränkt den Buchverkauf ein, um die höhere Nachfrage nach anderen Gütern zu bedienen. Die Verlage sehen ihre Absatzwege also doppelt blockiert. Der Autor und Literaturagent Thomas Montasser richtet einen Offenen Brief an die Branche, mit der Aufforderung, Amazon stärker die Stirn zu bieten. Er ist zum Beispiel bei buchmarkt.de veröffentlicht: "Amazon, entlarve dich doch nicht selbst als Lügner! Du hast Tausende Sortimentsbuchhandlungen weggebissen. Jetzt nutzt du deine Marktmacht schamlos aus, um das E-Book durchzusetzen. Die Läden sind dicht, die Alternativen beschränkt. Mach es den Leuten so schwer wie möglich, ein Printbuch zu erwerben, dann nehmen sie schon das E-Book. Ist ja auch fein: Dafür brauchst du nämlich keine Mitarbeiter, die bezahlt werden müssten, keine Zulieferer, die ihren Anteil bekommen, du hast keine Lagerkosten und keine Lieferkosten - großartig! Am besten, du drängst die Kunden so intensiv wie möglich ins E-Book-Streaming!"

Dass Amazon heute eine so gewaltige Marktposition im deutschen Markt hat, ist auch die Schuld von Bertelsmann, sagt Perlentaucher Thierry Chervel, der im Tagesspiegel von Markus Ehrenberg zu zwanzig Jahren Perlentaucher befragt wird: "Als wir anfingen, war Thomas Middelhoff noch Chef bei Bertelsmann und posaunte, dass er Amazon schlagen will. Immerhin wurde BOL zweitgrößter Online-Buchhändler in Deutschland und hätte diese Position wohl heute noch, wenn die Bertelsmann-Manager den Laden nicht zugemacht hätten, als sie Middelhoff feuerten."
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