9punkt - Die Debattenrundschau

England ohne London

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2020. Der neue Antisemitismus ist nicht neu, sagt der Autor Natan Sznaider in der taz. Als er in den Siebzigern zur Schule ging, war's eher noch schlimmer. Im Standard fragt der Autor Yishai Sarid, wie ein künftiges Gedenken an Auschwitz ohne Zeitzeugen aussehen soll. In der NZZ spricht die in Deutschland lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar über die Lage im Iran. Die FAS berichtet über Verwerfungen im Musikmarkt: Die Künstler hätten gern einen größeren Anteil der Streaming-Einnahmen -  und zwar von der Musikindustrie. Und außerdem: Diese Woche ist wirklich Brexit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2020 finden Sie hier

Europa

"Antisemitismus in Westdeutschland damals, das war normal, ganz ohne Internet und ohne viel Medienspektakel", sagt der bekannte Autor Natan Sznaider, ein Sohn von "Displaced Persons", der mit 16 Jahren zwar die deutsche Staatsbürgerschaft bekam, aber sich inzwischen allein als Israeli definiert, im Gespräch mit Jan Feddersen von der taz: "Ich war lange Jahre der einzige jüdische Junge in meiner Klasse. Leute reden heute über den aufkommenden Antisemitismus in Deutschland. Doch das war damals viel stärker, viel offensichtlicher, vor allen Dingen viel normaler. Wenn es in meiner Schule zu laut wurde, wurde, ohne mit der Wimper zu zucken, von Lehrern gesagt: 'Das ist doch keine Judenschule hier!'"

Heutiger Antisemitismus, der aus unterschiedlichen Richtungen kommt und sich eher verschärft, wird zwar ernst genommen, konstatiert Andreas Breitenstein in der NZZ, aber er beobachtet auch eine Veränderung des politischen Klimas, durch die Antisemitismus wieder besser gedeihen kann: "Es scheint weltanschaulich etwas ins Rutschen zu geraten. Ein von der Komplexität der Gegenwart entlastendes, durch die sozialen Netzwerke befeuertes Freund-Feind-Denken grassiert und wirft mentale Strukturen durcheinander, so dass das Altbewährte nicht mehr greift: der aufklärerisch-rationale, moralisch-historische Diskurs gegen den Irrationalismus von Judenhass und Antisemitismus."

Die Zeitzeugen sterben. "Es wird viel schwieriger werden, neuen Generationen den Holocaust zu erklären", fürchtet der Schriftsteller Yishai Sarid ("Monster") im Gespräch mit Mia Eidlhuber vom Standard: "Es wird alles viel abstrakter für junge Menschen werden. Es wird eine wichtige Aufgabe der Kunst sein, das Gedenken lebendig zu erhalten, nicht nur in Geschichtsbüchern und an formellen Gedenktagen, sondern in den Herzen der Menschen."

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube zieht im Leitartikel der Zeitung eine Lehre aus der Geschichte der Vergangenheitsbewältigung: "Wir haben Jahrzehnte des über alle Kanäle verbreiteten Wissens über Auschwitz hinter uns, aber in den Umfragen will der Antisemitismus nicht abnehmen. Das spricht nicht im Geringsten gegen den Unterricht und die Forschung und die Museen. Aber es weckt Zweifel daran, von ihnen allein die Vertreibung der Vorurteile und der Unmenschlichkeit zu erwarten."

Diese Woche ist nun wirklich Brexit. Boris Johnson wird die Glocken schlagen lassen (wenn auch nicht die des Big Ben) und Münzen prägen lassen. Nationalismus und Populismus haben gesiegt. Das Ironische ist nur, "dass Britannien nie ein Nationalstaat war", schreibt der irische Kolumnist Fintan O'Toole im Guardian. "Im größten Teil seiner Geschichte war es nicht Herz einer nationalen Politik, sondern eines riesigen multinationalen und polyglotten Reichs. Und das vereinigte Königreich selbst ist ein Amalgam aus den vier Nationen England, Schottland, Wales und Nordirland. Es gibt keine Prä-EU-Nation, zu der man zurückkehren könnte und kein vereintes 'Volk', dem die Macht zurückgegeben würde. Und dies ist der Widerspruch, den das Brexit-Projekt nicht anerkennen oder gar auflösen kann." Brexit, so O'Toole, ist der nationale Mythos eines Orts, den Anthony Barnett von Opendemcracy.org 'England ohne London' nennt."
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Ideen

In einem persönlichen Essay setzt sich Justus Bender in der FAS mit Theorie und Praxis der "Critical Whiteness" und Postkolonialismus auseinander, die jede Idee des Universalismus ablehnen und nach Benders Eindruck den Rassismus neu installieren: "In ganz Deutschland finden regelmäßig Workshops statt, in denen 'Critical Whiteness' vermittelt wird. Dort passiert etwas Seltsames. Die Teilnehmer werden sortiert nach ihrer Ethnie, in Weiße und Nichtweiße. Im März zum Beispiel findet ein Workshop von 'Brot für die Welt' statt. Er richtet sich laut Einladung 'ausschließlich an weiße Menschen'. Ein anderer Workshop für 'Schwarze und indigene Menschen und People of Color findet im Herbst statt'. In einem Workshop der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln wurden Weiße definiert als 'Personen, die nicht rassistisch diskreditierbar sind'. Im Programm stand, welche Ethnie an welcher Veranstaltung teilnehmen durfte. Es kommt mir vor wie eine Einteilung in Täter und Opfer. Ich bin aber kein Täter."

In der SZ wirft Mirjam Brusius, Historikerin am Deutschen Historischen Institut London, ethnologischen Museen und Antikensammlungen in Deutschland vor, sich nicht mit dem Rassismus und der Kolonialisierung auseinanderzusetzen. Schließlich hätten gerade Artefakte aus dem Nahen Osten zu europäischen "Rassetheorien" beigetragen. Zugleich behauptet Brusius, dass "Museen erst dann glaubwürdig sind, wenn sie Kuratoren- oder Forschungsstellen mit Zuwanderern oder ihren Nachfahren besetzen und die imperiale Politik des Westens als Fluchtursache in ihren Ausstellungen ansprechen. Nicht zuletzt, um mit neuen Ideen ein vielfältigeres Publikum anzuziehen. Selbst beim Berliner Humboldt-Forum, wo man den 'Dialog' so groß schreiben will, wurden bislang alle maßgeblichen Stellen mit weißen Männern besetzt. Gab es wirklich keine ebenso qualifizierten anderen Kandidatinnen oder Kandidaten?"
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Kulturmarkt

Die Manager von Stars wie  Rammstein, Helene Fischer, Sarah Connor, Peter Maffay, Marius Müller-Westernhagen, Kelly Family, Silbermond und Prinzen haben sich zusammengetan und fordern die Bosse der Plattenindustrie auf, den Musikern bessere Konditionen beim Streaming ihrer Musik zu geben, berichtet Marcus Theurer im Wirtschaftsaufmacher der FAS. Die Vertriebskosten aus dem CD-Zeitalter sind schließlich längst weggefallen. "Bei vielen Musikern kommt vom Geldregen aus der Streaming-Wolke wenig an. Zwar reichen Spotify und Co. typischerweise rund 70 Prozent ihrer Einnahmen an die Rechteinhaber weiter. Doch den größten Teil davon bekommen nicht selten die Plattenfirmen. Die Musiker kriegen dagegen häufig nur einen kleinen Anteil ab. Insider rechnen vor, dass die Musiker von einem monatlichen Abo-Entgelt von 10 Euro, das ein Streamingkunde zum Beispiel an Spotify zahlt, nur gut 50 Cent erhielten - manchmal auch noch weniger. In den Kassen der Plattenfirmen landeten dagegen rund 3 Euro."
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Geschichte

Die geschichtsrevisionistischen Äußerungen Wladimir Putins beinhalten eine Leugnung, und diese Leugnung ist nicht neu, schreibt Nikolai Klimeniouk in der FAS: "Diese Art der Relativierung kennt man bereits aus der Sowjetunion: Dort wurden die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus stets unter die Gesamtverluste der jeweiligen Staaten subsumiert, vor allem wenn es um sowjetische Juden ging. Über Babyn Jar in Kiew, wo die Nazis 33.000 Juden erschossen hatten, hieß es zum Beispiel, dort seien soundso viele Sowjetbürger ermordet worden. Es sollte keine besonderen Opfer geben. Das wahre Verbrechen Hitlers, das einzige, was nach der alten sowjetischen und der aktuellen russischen Lesart wirklich zählt, war der heimtückische Überfall auf die Sowjetunion."
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Politik

In der Welt staunt Johannes Boie, dass der Dresdner Opernball ausgerechnet den ägyptischen Staatschef Abdel Fattah al-Sisi ehren will. Dieser sei "Hoffnungsträger und Mutmacher eines ganzen Kontinents", ein "herausragender Brückenbauer und Friedensstifter" und "ein Anker" für "die Menschen und ihre Hoffnungen", heißt es in der Begründung. Vielleicht hätte man "wenigstens mal auf Wikipedia gucken können, wo Sisis Eintrag ein eigenes Kapitel 'Hinrichtungen' beinhaltet", meint Boie. "Aber dann sah ich, dass die Dresdner schon 2009 Wladimir Putin ausgezeichnet haben. Und mir wurde klar: Nicht nur in meiner Branche wählen Jurys gleich mehrfach die Falschen."

Im Interview mit der NZZ erklärt die seit 1991 in Deutschland lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar, mit welcher Wucht die iranische Regierung die Tötung ihres Generals Kassem Soleimani für ihre Propaganda ausgenutzt hat. Ob ihr das viel helfen wird? Die wirtschaftliche Lage im Iran ist nach wie vor sehr schlecht, so Forouhar: "Die letzten beiden Male, als ich in Iran war, stach mir die verzweifelte Wirtschaftslage ins Auge, die Menschen versinken zunehmend in Armut und Ratlosigkeit. Mir ist aber auch aufgefallen, dass die Iraner dennoch versuchen, ihren Alltag aufrechtzuerhalten. Das hat mich stark berührt. Das hatte etwas von Widerstand ... Ich weiß nicht, ob die jüngsten Proteste den Anfang vom Ende der Islamischen Republik befeuern. Vor zwei Jahren gab es aber bereits die Parole 'Unser Feind ist hier und nicht in den USA'. Sogar gegen den Revolutionsführer gibt es mittlerweile Parolen, das war früher undenkbar. Die Proteste haben sich radikalisiert, weil die Menschen keine Hoffnungen mehr auf Reformen innerhalb des Systems haben.
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Medien

In der NZZ erinnert Manfred Schneider daran, dass gerade mal vor hundert Jahren das Radio in die Haushalte einzog. Und zack wurde es auch sofort für Propaganda missbraucht: "Niemand begriff so schnell die politische und mediale Macht der Radionachrichten wie der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Er funkte am 12. November 1917 das soeben vom Sowjetkongress beschlossene Friedensdekret 'An alle. An alle'. Diese Adresse war der Taufspruch für das Radio. ... Noch im Jahr 1930 hoffte Albert Einstein auf der Berliner Funkausstellung, dass der Rundfunk zur Völkerversöhnung beitragen werde. Das 'An alle' schien ein solches Versprechen zu enthalten. Aber kaum zehn Jahre später war es allen Deutschen untersagt, neben dem Nazi-Staatsrundfunk anderen Sendern zu lauschen. Aktualisiert lautete Döblins Diktum jetzt: 'Radio, dein Mund heißt Goebbels!'"

"Es ist nicht alles schlecht im Deutschlandfunk, doch auf die Dauer entfaltet das Programm anästhesierende Wirkung", schreibt Hansjörg Müller ebenfalls in der NZZ, dessen Selbstversuch mit dem Sender wir nachtragen: Zwei Tage lang hat er sich ausschließlich über den Sender informiert, mit zwiespältigem Ergebnis: "Ausgewogenheit beginnt in der Themensetzung. Wer die oftmals aufgeregten Debatten in den sozialen Netzwerken verfolgt und dann den Deutschlandfunk einschaltet, meint, in ein anderes Land ausgewandert zu sein. Kriminalität, Integrationsprobleme und Asylpolitik spielen zumindest an diesen zwei Tagen praktisch keine Rolle; Umwelt- und Klimapolitik dominieren."
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Internet

Im Interview mit Zeit online ist Vinton Cerf, einer der Mitbegründer des Internets und heute Vizepräsident und Chief Evangelist von Google, doch recht unglücklich darüber, wie sich das Netz mit seiner Massenverbreitung entwickelt hat. Trotzdem möchte er es grundsätzlich offen halten. Was allerdings nicht heißt, dass man sich über ein paar Regeln und Einschränkungen Gedanken machen könnte: "Die erste ist Technologie, die schlechtes Verhalten erkennt und automatisch stoppt. Die nächste Stufe heißt Post-Hoc-Enforcement: Wer bei Handlungen erwischt wird, die unsere Gesellschaft für unangebracht hält, muss die Konsequenzen dafür tragen. Wir wissen, dass wir auf diesem Wege nicht alle erwischen werden - genauso wie eine Geschwindigkeitskontrolle nicht jeden erwischt, der zu schnell fährt. Aber eben doch ein paar. Und dann gibt es noch die dritte Komponente. Die besteht darin, Menschen zu verstehen zu geben, dass in unserer Gesellschaft bestimmte Dinge einfach nicht akzeptabel sind. Das klingt etwas schwach. Aber wenn wir als Gesellschaft bestimmte Normen anerkennen, dann erzeugt das einen gewissen Druck, dass Menschen sich im Einklang mit diesen Normen verhalten. Und das kann manchmal so mächtig wirken wie Verbote."
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Stichwörter: Cerf, Vincent

Kulturpolitik

Im Interview mit der FR verteidigt Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig die Kosten von über 800 Millionen Euro für einen Neubau von Oper und Schauspiel, den kürzlich Niklas Maak in der FAZ kritisiert hatte (unser Resümee): "Dass es sich gleich um zwei große Bühnen handelt, relativiert ein Stück weit die Kosten. Man muss außerdem bedenken, dass wir in Zeiten eines Baubooms leben, der die Baukosten in die Höhe treibt. Und es gibt unzählige Vorschriften, die das Bauen verteuern. Die uns jetzt vorliegenden Zahlen sprechen eine klare Sprache: Eine Sanierung dieser Anlage, an der ich und viele andere Menschen durchaus hängen, ist nicht sinnvoll. Die Kosten sind zu hoch, die Vorteile zu gering. Ich kann eine Sanierung daher nicht empfehlen. Nur der Neubau gibt uns die Möglichkeit, die Bedingungen der Bühnen entscheidend zu verbessern und die Kosten im Griff zu behalten."
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Gesellschaft

Den einst verspotteten sparsamen Bürger gibt es noch kaum - heutige Bourgeois versuchen, Glamour zu verbreiten, beobachtet Pascal Bruckner in der NZZ und endet mit einem Plädoyer für die ursprünglichen bürgerlichen Tugenden: "Mag sein, dass es dem alten Bürger manchmal an Schneid mangelte; gut möglich, dass er mit seiner Biederkeit zuweilen lächerlich wirkte. Aber niemals darf man die Kernidee vergessen, auf der sein ganzer Aufstieg beruhte: Mit dem Bürger sind wir in eine Welt eingetreten, in der Arbeit und Talent das Vorrecht der Geburt ersetzten. "

FAZ-Redakteur Niklas Maak ist entzückt, auf wie viele unterschiedliche Arten "bescheidene Mode" auftreten kann und wie anmutig sich muslimische Frauen das Kopftuch binden. Erfahren hat er es in der Ausstellung "Mode modeste et récits de soi" der Fotografin Maud Delaflotte im Centre Marc Bloch, Berlin: "Der westliche Generalverdacht, dass muslimische Frauen ein Kopftuch tragen, weil sie in jedem Fall entweder von Haus aus unterdrückt werden oder mit der Verhüllung ein repressiv-mittelalterliches Rollen- und Weltbild zur Schau tragen wollen, zerfällt angesichts dieser Aufnahmen." Na, da kann sich der Herr von der FAZ ja beruhigt zurücklehnen.
Archiv: Gesellschaft