9punkt - Die Debattenrundschau

Etwa zweieinhalb Meter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2019. Die aktuellen Proteste im Iran könnten die größte Herausforderung für das Mullah-Regime seit dem Krieg mit dem Irak werden, berichtet politico.eu. Die NZZ erklärt, warum wir alle ein Pokerface aufsetzen müssen, wenn die App Affectiva kommt. Bei Zeit online ist sich der Klimaforscher Anders Levermann sicher: Venedig wird untergehen. hpd.de weiß, warum Rheinland-Pfalz keinen konfessionsübergreifenden Religionsunterricht will. Und die Friedrichs haben jede Menge Ärger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.11.2019 finden Sie hier

Medien

Die Friedrichs, das neue Verlegerehepaar der Berliner Zeitung, haben sich jetzt so richtig schön in den Fängen der übrigen Presse verheddert. In der NZZ hatte Holger Friedrich von berlin.de gesprochen, einer Website, wo Berliner digitale Behördengänge erledigen und die ihm zum großen Teil mitgehört. Dort wollte er etwa, dass Neu-Berliner ihre Personalausweise einscannen. Der Verwaltung war davon nichts bekannt, berichtet Robert Kiesel im Tagesspiegel: "Von spontan einberufenen Krisentreffen ist die Rede, wohl auch in der für die Zusammenarbeit mit BerlinOnline und damit Friedrich verantwortlichen Senatskanzlei. Aus allen Richtungen das Dementi: Die Vision des erst Ende der vergangenen Woche wegen seiner Stasi-Vergangenheit in die Schlagzeilen geratenen IT-Unternehmers, Zugriff auf die Daten von Millionen Berlinern zu bekommen, wird nie Realität." Für Friedrich vielleicht etwas peinlich, präsentiert die Berliner Verwaltung ihre Pressemitteilung dazu ausgerechnet auf berlin.de. Mehr zum Thema auch bei Spiegel online, wo auch berichtet wird, dass die frühere Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler, und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bei der Aufarbeitung der Stasi-Akten Friedrichs behilflich sein werden. Daniel Bouhs berichtet bei Zeit online, dass Friedrich unter anderem wegen der schnellen Entrümpelung der Website der Zeitung durchaus noch Rückhalt bei der Belegschaft genießt.

(Via turi2) Jahrelang haben sich die Zeitungen vehement gegen Subventionen verwahrt. Nun sollen sie 40 Millionen Euro jährlich für die Zustellung bekommen, um zu kompensieren, dass sie für Zusteller neuerdings den Mindestlohn zahlen müssen, und jammern, das sei viel zu wenig (unser Resümee). Dem stimmt der der Medienforscher Horst Röper im Interview mit dem Branchendienst medienpolitik.net zu: "Wollte man die Pressekonzentration stoppen oder zumindest eingrenzen, müsste der Staat das Problem viel umfassender angehen. Zuständig dafür wären die Bundesländer und dort wird das Problem überwiegend negiert, am liebsten nicht wahrgenommen."

Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) empfiehlt in einem noch vorläufigen Entwurf eine Anhebung des Rundfunkbeitrags von 17,50 Euro auf 18,36 Euro pro Monat, meldet heise.de. Auf der Medienseite der FAZ resümiert Helmut Hartung (Chefredakteur des Medienblogs medienpolitik.net) aktuelle Diskussionen um den Rundfunkbeitrag und das Indexmodell.
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Überwachung

In der NZZ stellt der Kultur- und Medienwissenschafter Roberto Simanowski die App Affectiva vor, die den Überwachungswahn in ganz neue Dimensionen treibt. Sie zielt auf Erkennung all der nonverbalen Zeichen, die Auskunft darüber geben können, was wir denken (oder was uns manchmal sogar selbst nicht bewusst ist), aber nicht sagen. "Dieses Vorhaben erinnert eine Radiomoderatorin nicht zu Unrecht an 'thoughtcrime' in Orwells Roman '1984' und an 'precrime' in Spielbergs Film 'Minority Report'. Völlig verständlich also ihre Frage, ob jene 93 Prozent nicht besser unanalysiert bleiben sollten, weil man doch auch einen gewissen Schutzraum für seine Gedanken brauche. Die Antwort der Mitbegründerin und CEO von 'Affectiva'? Sie schwärmt von einer Welt, in der wir kein Pokerface brauchen, sondern ohne Furcht und mit Gewinn unser Innerstes mitteilen können." Klar, weil wir in dieser Welt niemals auf den Gedanken kämen, sie könne eine neugierige Kuh sein.
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Politik

Die aktuellen Proteste im Iran (über die hier noch recht wenig berichtet wird) könnten die größte Herausforderung für das Mullah-Regime seit dem Krieg mit dem Irak werden, schreibt Christian Oliver bei politico.eu. Denn hier geht's um den subventionierten Benzinpreis, der die ärmeren Bevölkerungsschichten ruhiggestellt hat und den das Regime nun wegen der amerikanischen Sanktionen aufgeben muss - der Preis soll um 50 Prozent angehoben werden. "Schon längst haben sich die Subventionen als Fluch erwiesen. Das ultrabillige Benzin führte dazu, dass potenzielle Exporterlöse verprasst wurden, und es verpestete die Städte mit einem Smog, der Kopfschmerzen erzeugt. Das billige Benzin hat auch den Schmuggel angeheizt und die Korruption in epidemische Höhen getrieben, weil die Iraner Wege fanden, das Benzin auszuführen und es im Ausland zu wesentlich höheren Preisen zu verkaufen."
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Stichwörter: Iran, Irak, Proteste im Iran

Wissenschaft

Inwiefern die Überschwemmung von Venedig von Venedigs Bürgermeister auch hausgemacht ist, dazu sagt der Klimaforscher Anders Levermann im Interview mit  Zeit online nichts. Aber dass auch der Klimawandel dabei eine Rolle spielt, ist für ihn klar: "Für jedes Grad, den sich die Erde erwärmt, werden wir nach unseren Berechnungen, die der Weltklimarat IPCC in seiner Einschätzung übernommen hat, einen Anstieg des Meeresspiegels um etwa zweieinhalb Meter erleben. Das passiert zwar sehr langsam - möglicherweise innerhalb Hunderter von Jahren -, es heißt aber auch: Langfristig wird Venedig unter dem Spiegel der Weltmeere liegen. Hielten wir das 2-Grad-Ziel vom Pariser Klimaabkommen ein, müssten wir auf lange Sicht mit etwa fünf Metern Meeresspiegelanstieg rechnen. Venedig wird definitiv untergehen. Große Küstenstädte wie Hamburg, Shanghai, Hongkong oder auch New York müssten sich ebenfalls darauf einstellen, dass dann weite Teile meterweit unterhalb des Meerespiegels liegen."
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Religion

Die Landesschüler*innenvertretung Rheinland-Pfalz hat neulich einen konfessionsübergreifenden Ethik- und Religionsunterricht gefordert und damit erbitterte Gegenreaktionen ausgelöst, berichtet Daniela Wakonigg bei hpd.de: "Dass sich die Kirchen gegen die Forderung der Landeschüler*innenvertretung aussprechen würden, war wenig verwunderlich, dient der konfessionelle Religionsunterricht doch vor allem der kindlichen Prägung auf eine bestimmte Religion. Sozusagen eine Förderung des kirchlichen Nachwuchses auf staatliche Kosten. Überraschend jedoch war die ebenfalls eindeutig negative Reaktion von Politik und staatlichen Organen. " Das mag mit einem Satz in der Verfassung des Bundeslands zu tun haben, der Wakonigg doch erstaunt: "'Die öffentlichen Grund-, Haupt- und Sonderschulen sind christliche Gemeinschaftsschulen', heißt es bisher in Artikel 29 der rheinland-pfälzischen Landesverfassung."
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Stichwörter: Religionsunterricht

Europa

Die Intellektuellen der Ukraine haben so ihre Schwierigkeiten mit dem neuen Präsidenten Wolodimir Selenski, der aus einer Fernsehsatire über das Präsidentenamt ins tatsächliche Amt augfgestiegen ist, schreiben Larysa Denysenko und Alexander Kratochvil in der taz. Autoren wie Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder Serhij Zhadandas betrachteten das mit Skepsis: "Im April wurde eher der Serienheld gewählt als ein echter Präsidentschaftskandidat. Selenski und sein Team konstruierten sehr erfolgreich eine Scheinwelt, an die sie offensichtlich selbst glauben. Das Erwachen in der Wirklichkeit könnte jedoch sehr enttäuschend werden für die Bevölkerung."
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Ideen

Daniele Dell'Agli stellt im zweiten Teil seines Perlentaucher-Essays über Klimaschutz und die Idee der "Commons" (hier Teil 1) die Systemfrage, und zwar nicht nur für die Menschheit. Er bezieht sich dabei auf Christoph Menkes "Kritik der Rechte": "Im Fehlen einer rechtlichen Repräsentation des Nichtmenschlichen in den Grundrechtskatalogen moderner Verfassungen kann man, Menke folgend, die historische Tragik und heutige Brisanz der von ihm rekonstruierten Inthronisierung des individuellen Eigenwillens erkennen. Da ist es nur konsequent, dass gesellschaftskritische Rechtswissenschaftler die Diskussion seiner Arbeit zum Anlass nehmen, 'Gegenrechte' ebenso zu erwägen wie 'subjektlose' oder 'transsubjektive Rechte', die dann endlich auch nichtmenschlichen Akteuren eine Stimme verleihen könnten."

In der taz unterhält sich Sabine Seifert mit der Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski, die über den Begriff der Heimat forscht und ihn als etwas Fluides sehen will. Ein Menschenrecht auf Heimat will sie nicht anerkennen: "Die Vertriebenen wollten 1950, dass dies im internationalen Recht anerkannt wird. Dazu ist es nie gekommen. Ich bekam nach einem Interview die Zuschrift einer Wissenschaftlerin, die in Neuseeland über den Heimatbegriff der Maori forscht. Doch: Auch die neuseeländischen 'Ureinwohner' haben nicht 'immer schon' dort gelebt. Kaum jemand hat immer schon an einem Ort gelebt. Die meisten ethnischen Gruppen oder Stämme sind irgendwann von woanders gekommen."
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