9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn die eigene Regierung den Verstand verliert

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2019. In der NZZ erklärt John Le Carré, warum er Angst vor einem Aufstieg des Faschismus hat. Schrumpft die City, ruft Nicholas Shaxson im Guardian - ein zu großer Finanzsektor mache die ganze übrige Gesellschaft arm. Die New York Times veröffentlicht einen offenen Brief von Facebook-Mitarbeitern gegen politische Werbung auf dieser Plattform. In der NZZ beklagt Hans Ulrich Gumbrecht den Niedergang der Geisteswissenschaften. Emma konstatiert: Nur die Frauen verhinderten, dass die AfD in Thüringen stärkste Partei wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.10.2019 finden Sie hier

Europa

All die Wahlanalysen zu Thüringen, wo die CDU nun eventuell mit der Linkspartei koalieren muss, seien der Tagespresse überlassen. Herausgegriffen sei, was  Sabine am Orde in der taz zum Wahlergebnis des Rechtsextremen Björn Höcke sagt, der die AfD auf über 23 Prozent brachte: "Die Wahl aber hat auch gezeigt: Mit Höcke, dem großen Polarisierer am rechten Rand der AfD, der Teilen der AfD maßgeblich die Beobachtung durch den Verfassungsschutz eingebracht hat, kann die Partei nicht in neue Dimensionen vorstoßen. Das Ergebnis in Thüringen bleibt klar hinter dem in Sachsen zurück, wo die AfD im September 27,5 Prozent geholt hat - mit einem blassen, bis zur Wahl weitgehend unbekannten Spitzenkandidaten."

Die Wählerinnen haben Thüringen davor bewahrt, dass die AfD stärkste Partei wird, analysiert Chantal Louis bei emma.de. Auf die Gesamtheit bezogen hat nur die Gruppe über 60 häufiger Linkspartei als AfD gewählt, schreibt sie: "Bei den Thüringerinnen hingegen ist die Linkspartei in allen Altersgruppen stärkste Partei. Jede dritte Wählerin (33 Prozent) wählte links - und 'nur' jede fünfte rechts (18 Prozent). Das macht bei der AfD einen gewaltigen Gender Gap von elf Prozent!"

Für die NZZ hat Thomas David John le Carré getroffen, den das Brexit-Fiasko nochmal an die Schreibmaschine getrieben hat: In seinem neuen Thriller "Federball" rechnet er mit der britischen Politik der Gegenwart ab (mehr dazu bereits hier): "Die Angst, die ich habe, ist für jeden real, der etwas über den Aufstieg des Faschismus weiß", sagt der Autor. "Die Voraussetzungen für eine rechtsextreme Regierung sind gegeben. Für einen Despotismus nach dem Vorbild Trumps. Wenn wir aus denen, die Boris Johnson entlassen hat, ein Kabinett bilden würden, hätten wir ein gutes Kabinett", doch "jetzt haben wir eine Art Flohzirkus. ... Wem schenkt man seine Loyalität, wenn die eigene Regierung den Verstand verliert?"
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Ideen

Der Rechtspopulismus wurde im Osten nicht erst in den Nachwendejahren populär, meint der Zeithistoriker Martin Sabrow im Interview mit dem Tagesspiegel. Irgendwie ist es der AfD aber gelungen, "sich im Osten in das Erbe von 1989 einzuschreiben. Dass ein solcher politischer Wechselbalg in Thüringen wie in Sachsen und Brandenburg ein Viertel der Wählerschaft zu binden vermag, ohne dass die Differenzen in der rechtsextremen Rhetorik der jeweiligen Spitzenkandidaten merklichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, lässt sich ohne Blick auf '89 kaum erklären. Es drängt sich die Vermutung auf, dass es den ostdeutschen AfD-Wählern weniger um das rechtspopulistische Programm geht als um die Tradition einer Verweigerungshaltung und des Ressentiments gegen die vom Staat verkörperte Werteordnung."

Landflucht ist einer der Gründe für die Erfolge rechtspopulistischer Parteien, schreibt Uwe Ebbinghaus in der FAZ. Und "abgehängt" ist das Land tatsächlich. "Stand das Land einmal für 'Lebensmittel' im euphorischen Sinn, gute Luft und Naherholung, wird es heute, und nicht ganz zu Unrecht, mit industrieller Landwirtschaft, Glyphosatverpestung, AfD-Sympathie und wegen der vielen frei stehenden, ölbeheizten Häuser mit dem Klimaverderben assoziiert. Das Internet zudem ist lahm, und wenn man Pech hat, wird einem die Schule vor der Nase geschlossen."
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Politik

In Haiti gibt es seit Wochen, von der internationalen Öffentlichkeit unbemerkt, Aufstände gegen die von UNO und westlichen Staaten eingesetzte Regierung und deren unter anderem von Venezuela ausgehende Korruption. Dabei spielt die haitianische Diaspora in den USA und Kanada eine wichtige Rolle, berichtet die Menschenrechtsaktivistin Katja Maurer in der taz: "So blockierte die haitianische Diaspora in Montréal und New York Auftritte von Haitis Ex-Präsidenten Michel Martelly, der nach dem schweren Erdbeben 2010 von den USA und der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt wurde. Seither bestimmt eine gut gebildete junge Mittelschicht in- und außerhalb Haitis den Ton der Debatte. Es geht nicht mehr nur um einen Regierungswechsel - gefordert wird ein Systemwechsel", der laut Maurer erst einmal Umverteilung der Reichtümer bedeute.

Säkulare Flüchtlinge werden oft nicht beachtet, berichtet hpd.de: "Völkerrechtlich wird nur als Flüchtling anerkannt, der sein Land aus 'Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung' verlassen hat (Art. 1 der Flüchtlingskonvention). Während also die Bedrohung aufgrund einer anderen religiösen Einstellung als Fluchtgrund anerkannt wird, werden Religionsfreie und Säkulare von UN-Flüchtlingskonvention nicht erfasst, weil sie keine Religion vorweisen können, wegen der sie verfolgt werden." Der Hinweis auf die politische Einstellung als möglichem Fluchtgrund reicht nicht aus, so die Autoren, weil Atheismus oder die Weigerung nach der Scharia zu leben in muslimischen Ländern bereits ein Grund zur Verfolgung sein können.
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Gesellschaft

Schrumpft die City, ruft Nicholas Shaxson im Guardian. Nach dem Brexit will Britannien das Steuerparadies Nummer 1 werden, das es im Grunde jetzt schon sei, führt er aus. Aber ein Finanzsektor, der größer ist, als es eine Volkswirtschaft braucht, höhle die Gesellschaft als ganze aus: "Ein übergroßer Finanzsektor führt auch zu zerstörerischen Finanzkrisen. Schmutziges Geld aus dem Ausland, das in den britischen Immobilienmarkt fließt, hilft dem oberen einen Prozent, aber schadet dem Vereinigten Königreich insgesamt..., indem es die Preise für Eigentum in die Höhe treibt, Millionen Menschen auf die Armutsleiter oder noch tiefer in die Schulden schubst. Kurz, zu viel Finanzwirtschaft macht uns arm."
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Internet

Facebook startet einen News-Dienst, wohl auch um kritische Medien ruhigzustellen. Allerdings gehört auch die rechtsextreme Postille Breitbart zu den Medien, die dort auftauchen. Daniél Kretschmar kommentiert in der taz: "Mark Zuckerberg hatte in einer kürzlich an der Georgetown University gehaltenen Rede das Recht auf irreführende Wahlwerbung zum unbedingten Teil der Meinungsfreiheit erklärt. Ob Facebook ohne äußeren regulatorischen Eingriff, ausschließlich der eigenen Expansion und Profitmaximierung verpflichtet, überhaupt eine Wahl im Umgang mit Falschnachrichten und Hassrede hat, wird zunehmend zweifelhaft."

Bei den Mitarbeitern von Facebook selbst gibt es spürbaren Unmut gegen politische Wahlwerbung mit Halbwahrheiten und Fake News. Die New York Times veröffentlicht einen aufsehenerregenden offenen Brief Hunderter Facebook-Mitarbeiter an die Leitung des Konzerns: "Freie Rede und bezahlte Rede sind nicht dasselbe. Desinformation betrifft uns alle. Unsere derzeitigen Richtlinien zur Überprüfung von Personen im politischen Amt oder von Personen, die sich um ein Amt bewerben, stellen eine Bedrohung für das dar, wofür FB steht. Wir lehnen diese Politik in ihrer jetzigen Form entschieden ab. Sie schützt nicht die Meinungsfreiheit, sondern ermöglicht es Politikern, unsere Plattform als Waffe einzusetzen, indem sie sich an Personen richten, die glauben, dass die von politischen Persönlichkeiten veröffentlichten Inhalte vertrauenswürdig sind."

Josh Constine kommentiert diesen offenen Brief in Techcrunch und fordert ganz allgemein eine Abschaffung politischer Werbung auf Facebook - Politiker könnten sich immer noch auf ihren unbezahlten Facebook-Seiten äußern. Wenn Facebook, "politische Werbung nicht abschaltet, dann sollte sie einem Fact Check unterzogen werden".
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Wissenschaft

Der emeritierte Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht beklagt in der NZZ den Niedergang der Geisteswissenschaften, die, statt selbst zu denken, vor den "Regeln interner Professionalisierung in die Knie" gingen. "Unter ihnen dominiert die zur bedingungslosen Verpflichtung geratende Empfehlung, 'Netzwerke' von Beziehungen zu entwickeln - mit prominenten Fachvertretern, Vorsitzenden akademischer Verbände und natürlich Herausgebern von Fachzeitschriften. Am Ende muss diese besessene Arbeit an Lobbystrukturen die Geisteswissenschafter einander immer ähnlicher machen - und in der Tat erklärt sie, warum mittlerweile intellektuell herausragende, provozierende Protagonisten kaum mehr in Erscheinung treten, die die Isolierung ihrer Welt wenigstens gelegentlich aufheben."
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