9punkt - Die Debattenrundschau

Zuletzt nur noch eine Option

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2018. Emmanuel Macron hat seine Rede ans Volk gehalten und eine Erhöhung des Mindestlohns und weitere Erleichterungen versprochen. Libération ist dennoch nicht zufrieden. Theresa Mays Entscheidung, die Parlamentsabstimmung über den Brexit zu verschieben, ist für Jonathan Freedland im Guardian fatal, weil sie den notwendigen politischen Klärungsprozess aufhält. Der Humanistische Pressedienst fragt: Wo und warum trägt Annegret Kramp-Karrenbauer Kopftuch? Die FR erinnert daran, dass die universalen Menschenrechte, wie sie von der UN vor siebzig Jahren forumliert wurden, keine spezifisch westliche Idee waren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.12.2018 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macron hat seine viel erwartete Rede an die Bürger gehalten, eine Erhöhung des Mindestgehalts und weitere Erleichterungen für Arbeitnehmer und Rentner in Aussicht gestellt. Unternehmen sollen ihren Arbeitnehmern eine Prämie zahlen. Auch die geplante Benzinsteuer soll wegfallen, dafür will sich Macron mit "Reichen" und Unternehmenschefs treffen, die mehr zahlen sollen. Mehr hier und hier. Libération ist nicht zufrieden und titelt mit "Ich habe euch ein bisschen verstanden.."

"Wer die Gelben Westen beleidigt, beleidigt meinen Vater", hatte der schwule und sehr linke Autor Edouard Louis vor ein paar Tagen geschrieben und über die niederen Instinkte der Demonstranten großzügig hinweggesehen. Jan Feddersen erwidert in der taz: "Tja, so dachten auch viele kommunistische und linkssozialistische Bewegungsmenschen in der Weimarer Republik: Was der antijüdische Pöbel und die antisemitischen Kleinbürger sagen, meinen sie nicht wirklich ernst. Sie haben sich nur in der Wortwahl vergriffen. Und mit dem 30. Januar 1933 hatte es sich mit diesen Theorien der Uneigentlichkeit dann für mehr als zwölf Jahre."

Ziemlich empört äußert sich Pascal Bruckner im Interview mit Guillaume Perrault im Figaro über die linken Unterstützer der "Gelben Westen" (die selbst keineswegs nur "links" sind): "Wer das Land mit dem größten sozialen Schutz als gewalttätig, repressiv oder faschistisch bezeichnet, muss schon auf den Kopf gefallen sein. Um die Ausschreitungen der Demonstranten zur rechtfertigen, stellt man sie als Opfer dar, die in unserer christlichen Kultur sakralisiert werden. 'Unterdrückung' verleiht das Recht, kaputtzuschlagen, zu brandschatzen, ja zu morden, wenn ihnen danach ist. Aufgrund des erlittenen Unrechts schuldet man uns alles, sagen einige Aufständische."

Theresa Mays Entscheidung, die Parlamentsabstimmung über den Brexit zu verschieben, ist für Jonathan Freedland im Guardian fatal: "Britannien hätte die Katharsis der Abstimmung am Dienstag gebraucht. Nicht aus therapeutischen Gründen, sondern um dem Brexit-Schlammassel nach und nach zu entkommen. Die Abstimmung wäre der erste Schritt in einem notwendigen Klärungsprozess gewesen, durch den die  Abgeordneten die verschiedenen Optionen erkundet und eine nach der anderen ausgeschlossen hätte. May hätte eine Niederlage erlitten. Labour hatte wie versprochen versucht, die Regierung abzuwählen und Neuwahlen zu bekommen. Auch dies wäre vermutlich gescheitert. Und dann hätten die Commons ernstmachen können und ein Norwegen-Plus-Abkommen oder ein zweites Referendum anstreben können, bis es zuletzt nur noch eine Option gäbe."
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Überwachung

Reporter der New York Times haben die Daten ausgewertet, die eine Firma im Jahr 2017 von Handys gesammelt hat. Sie zeigen in schockierenden Details, wo sich gerade jemand aufhält. Die meisten Nutzer wissen zwar, "dass Apps die Bewegungen von Menschen verfolgen können. Aber da Smartphones allgegenwärtig und technologisch präziser geworden sind, hat sich eine Branche von Schnüfflern in den täglichen Gewohnheiten der Menschen verbreitet und ist immer aufdringlicher geworden. Mindestens 75 Unternehmen erhalten anonyme, präzise Standortdaten von Apps, deren Nutzer es den Standortservices ermöglichen, lokale Nachrichten und Wetterinformationen oder andere Informationen zu erhalten, fand die Times. Mehrere dieser Unternehmen behaupten, bis zu 200 Millionen mobile Geräte in den Vereinigten Staaten zu verfolgen - etwa die Hälfte davon im letzten Jahr. Die von der Times überprüfte Datenbank - eine Stichprobe von Informationen, die 2017 gesammelt und von einem Unternehmen aufbewahrt wurden - enthüllt die Reisen der Menschen in erstaunlichen Details, die bis auf wenige Meter genau sind und in einigen Fällen mehr als 14.000 Mal täglich aktualisiert wurden."
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Religion

Annegret Kramp-Karrenbauer gilt als Merkel 2.0. Doch es gibt einen  Unterschied: Anders als Merkel ist sie sehr sehr katholisch und betont es auch. Sie lehnt die "Ehe für alle ab" und befürwortet ein Informationsverbot über Abtreibung. Und es gibt mehr Äußerungen, über die Florian Chefai im Humanistischen Pressedienst berichtet: "Als Retterin des christlichen Abendlandes inszenierte sich Kramp-Karrenbauer auch, indem sie sich gegen eine Entscheidung des Saarbrücker Amtsgerichts wandte, Kreuze aus den Sitzungssälen entfernen zu lassen: 'Das Kreuz verdeutlicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist', so Kramp-Karrenbauer laut Saarländischem Rundfunk. Die NS-Justiz habe gezeigt, was es bedeute, wenn sich der Mensch zum absoluten Richter mache. 'Deswegen hat es für mich keinen Sinn, das Kreuz generell aus Gerichtssälen zu verbannen'. (...) Doch damit nicht genug: In der Monatszeitschrift Herder Korrespondenz äußerte sich Kramp-Karrenbauer kritisch gegenüber dem islamischen Kopftuch, da es als 'ambivalentes Symbol' auch für die Unterdrückung der Frau stehe. Der Witz an der Sache: Sie selbst verschleierte sich, als sie 2013 Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger besuchte."
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Gesellschaft

Der Antisemitismus ist zum Bestandteil des Alltags von Juden in Europa geworden, lernt Michael Hanfeld (FAZ) aus einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in zwölf europäischen Ländern. "89 Prozent registrieren demzufolge in den vergangenen fünf Jahren zunehmenden Antisemitismus in ihrem Land - besonders ausgeprägt in Frankreich (95 Prozent) und in Deutschland (85 Prozent)." Aus der Kriminalstatistik lernt man das nicht, so Hanfeld: "Wenn achtzig Prozent von mehr als sechzehntausend befragten jüdischen Europäern sagen, sie gingen schon gar nicht mehr zur Polizei, weil das ohnehin nichts nutze, und in Deutschland 41 Prozent im vergangenen Jahr antisemitisch angegangen worden sind, zeigt sich einmal mehr: Es hat viel zu lange gedauert, bis Vertreter jüdischen Lebens in Europa, angefangen bei der französischen Philosophin Elisabeth Badinter, mit der schon flehentlichen Mahnung Gehör gefunden haben, dass man sie mit der gerade in den letzten Jahren und im Zusammenhang mit der Migration rapide angewachsenen Judenfeindlichkeit nicht allein lassen dürfe."

In der FR erinnert der Sozialphilosoph Gunzelin Schmid Noerr daran, wie Eleanor Roosevelt vor siebzig Jahren die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" (AEMR) der UN verkündete. Diese Menschenrechte, die von 58 Staaten ohne Gegenstimme angenommen wurden, "sind kein spezifisch 'westliches' Produkt", so Schmid Noerr. "Ihre Akzeptanz stieß auch in Europa auf massive Widerstände, insbesondere seitens der christlichen Kirchen und konservativer Kreise. Sie waren eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. In ihr wurde Herrschaft nicht mehr durch überkommene Hierarchien, sondern durch rationale Begründungen im Rahmen funktionale Differenzierungen gerechtfertigt. Da der Prozess der Modernisierung heute längst im globalen Maßstab stattfindet, gibt es weltweit Menschenrechtsbewegungen und einzelne mutige Vorkämpfer. Dagegen wird das Argument der kulturellen Unangemessenheit regelmäßig von den politischen Eliten vorgebracht wird, die ihre Macht durch den Menschenrechtsdiskurs bedroht sehen."
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Kulturpolitik

In Tervuren bei Brüssel eröffnete vorgestern das große Kolonialmuseum (heute Afrikamuseum) des Königs Leopold neu. So vieles hat sich gar nicht geändert, berichtet in der taz Fabian Busch, der sich von Direktor Guido Gryseels durch die Sammlung hat führen lassen. Aber das Museum setzt sich jetzt kritisch mit dem Kolonialismus auseinander und lädt afrikanische Wissenschaftler und Künstler ein. Beim Thema Restitution fahre Gryseels einen Schlingerkurs. "Er betont, dass die Afrikaner ein Recht darauf hätten, ihre Werke zurückzubekommen. Er erklärt sich bereit, über konkrete Forderungen an seine Sammlung zu verhandeln. Aber das neugestaltete Museum thematisiert die Restitution nicht. Sie ist für Gryseels ein langfristiges Projekt: Erst müsse die Infrastruktur in Afrika entstehen, für Lagerung und Restauration der Werke. Doch schon im kommenden Jahr soll das neue Nationalmuseum in Kongos Hauptstadt Kinshasa eröffnen. Vielleicht muss er schon bald verhandeln."
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