9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn Lenin länger gelebt hätte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2018. Was an den "Gilets jaunes" so irritiert, ist, dass sie keinen angenehm manichäischen Diskurs zulassen, sagt der Philosoph Frédéric Gros In Libération. Nicht alle "Gilets jaunes" leben im Elend, wie ein Blick auf zwei Protagonisten der Bewegung zeigt. Im Guardian setzt Timothy Garton Ash seine Hoffnung auf ein zweites Referendum, das den Brexit wieder einkassiert. Sonst drohe der EU Ärger. Edward Kanterian wirft in der NZZ einen Blick auf einige der vielen linken Brexit-Gegner.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.12.2018 finden Sie hier

Europa

Der Philosoph Frédéric Gros ("Désobéir") erklärt die Randale der "Gelben Westen" im Gespräch mit Sonya Faure von Libération wie für französische Phlosphen üblich mit steigender Ungleichheit und einem weitverbreiteten Gefühl, dass man "die Schnauze voll" habe. Interessanter klingt, was er über die Reaktion der Politiker sagt: "Die heterogene und uneinheitliche Natur der Mobilisierung erzeugt Unbehagen: Sie macht es unmöglich, eine Gruppe zu stigmatisieren und einen angenehm manichäischen Diskurs zu gestalten. Sie hat bei den intellektuellen oder politischen 'Eliten' für ein Erschrecken gesorgt. Sie verstehen nicht, was da passiert, und sehen sich in ihrer Fähigkeit zu repräsentieren, der komfortablen Gewissheit ihrer Legitimität in Frage gestellt."

Wer sind die Gelben Westen? Gestern hatte Edouard Louis geschrieben, wer die Gelben Westen beleidige, beleidige seinen Vater, und alle, die in Frankreich im Elend leben müssten (unser Resümee). Einer der in allen Medien präsenten Sprecher der Bewegung, ist Jean-François Barnaba, 62 Jahre alt. Journalisten haben recherchiert und laut Express "herausgefunden, dass der Mann von 62 Jahre ein Beamter ist, der seit zehn Jahren keine Aufgabenstellung mehr hat. Seinem Dienstgrad gemäß verdient er 2.600 Euro netto im Monat."

Eine andere Repräsentantin ist die 33-jährige Priscillia Ludosky, die einen kleinen Online-Handel für Biokosmetik betreibt. Aline Leclerc hat sie letzte Woche in Le Monde porträtiert. Sie hatte eine Petition gegen die Erhöhung der Benzinsteuern lanciert und lebt südlich von Paris. "Als Wohnungsbesitzerin hätte sie lieber näher an Paris gekauft, um ihre Wege zu reduzieren. 'Aber das war für mein Budget zu teuer.' Durch die Erhöhung des Benzinpreises würde ihr Unternehmen noch nicht untergehen, 'aber das Geld, das ich in den Transport stecke, könnte ich auch für anderes einsetzen.'"

Im politischen Teil der SZ skizziert Nadia Pantel die verschiedenen Bewegungen innerhalb der Gelben Westen: "Laut einer Umfrage des Instituts Elabe begrüßen 72 Prozent der Franzosen die Aktionen der 'Gilets jaunes'. Daran ändert weder die Tatsache etwas, dass in den Facebook-Foren der 'Gelben Westen' zunehmend rechte Verschwörungstheorien verbreitet werden, noch der Umstand, dass viele in der Bewegung ohne großes Zaudern gewalttätig wurden."

Ein zweites Brexit-Referendum könnte auch für Tories schon bald attraktiv werden, sagt im Tagesspiegel-Gespräch mit Anna Sauerbrey der britische Historiker Timothy Garton Ash, der das absolut begrüßen würde. Für die Zeit nach dem Brexit baut er eine schöne Drohkulisse für die Europäer auf: "Wenn es schlecht geht, könnte Großbritannien sogar langfristig zurückkehren zum alten Spiel der Europapolitik: Teile und herrsche. Können wir wirklich sicher sein, dass unter den europäischen Ländern nicht irgendwann einige sein werden, die sehr unzufrieden mit einer karolingisch geführten Europäischen Union sind? Ist Griechenland zufrieden, Portugal, Polen? Großbritannien könnte versucht sein, sich diese unzufriedenen Staaten zu Verbündeten zu machen."

Von der Ungewissheit, wie es mit in Großbritannien lebenden Ausländern nach dem Brexit weitergeht und den Pöbeleien gegen Zuwanderer, schreibt indes der in Rumänien geborene und in Kent lehrende deutsche Philosoph Edward Kanterian in der NZZ. Auf zwei Podiumsdiskussionen an der London School of Economics und in Canterbury erlebte er allerdings auch, wie die EU von links angegriffen wird: "Meine vier englischen Mitdiskutanten waren alle links und 'anti-EU', drei von ihnen sogar bekennende Kommunisten. Einer hat ein Buch darüber geschrieben, wie wunderbar die Welt heute aussähe, wenn Lenin länger gelebt und dem Sozialismus zum globalen Durchbruch verholfen hätte. Den Brexit bezeichnete er als eine 'Granate' gegen die EU, die alle Demokratie verschlinge, Hunderte von Afrikanern jede Woche im Mittelmeer ermorde und für die rechten Regime in Polen und Ungarn verantwortlich sei. Sein Kollege stimmte ihm bei und begrüßte den neuen Populismus als Gegenmittel gegen die Brüsseler 'Diktatur', die angeblich den Wohlfahrtsstaat und den Kosmopolitismus untergrabe."

Wer sich mit der türkischen Regerung gutstellt, dem kann eigentlich nichts passieren, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Beim Autobahnbau des Konsortiums Cengiz-Limak-Kolin, das für eine Vielzahl von Megaprojekten der Türkei den Zuschlag erhielt, kam es zu einem furchtbaren Arbeitsunfall. Drei Arbeiter starben unter einem einstürzenden Betonblock. Was meinen Sie, tat die Regierung unverzüglich? Statt den Unfall aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen, verfügte sie, dass über den nicht berichtet werden durfte."
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Gesellschaft

Muslimische Frauen haben auch im Feminismus keine "Lobby", ärgert sich der Berliner Gymnasiallehrer Rainer Werner in der Welt. Während die #meToo-Enthüllungen mediale Aufmerksamkeit erfuhren, werde das Leid junger Musliminnen einfach hingenommen: "2016 teilte das Bundesinnenministerium auf eine Anfrage der Grünen mit, dass es in Deutschland circa 1500 Ehen mit minderjährigen Mädchen gibt. Davon waren 361 Mädchen jünger als 14 Jahre alt. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, weil viele Ehen im Verborgenen geschlossen werden. Durch die Zuwanderung seit 2015 steigen die Zahlen weiter an. So hat in Berlin die Zahl der Zwangsehen innerhalb von drei Jahren um 19 Prozent zugenommen, wie der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung im November 2018 mitteilte. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes schätzt, dass in Deutschland 65.000 Frauen leben, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben. In Berlin sind es knapp 4000. Pro Jahr seien 5000 Mädchen der Gefahr ausgesetzt, in den Ferien im afrikanischen oder arabischen Heimatland diese Form der Verstümmelung zu erfahren. Beides - Zwangsheirat und Genitalverstümmelung - sind Menschenrechtsverletzungen und in Deutschland auch Straftaten."

Im Gespräch mit Adrian Lobe (Berliner Zeitung) erklärt Falk Garbsch, Sprecher beim Chaos Computer Club, die technischen Hintergründe des Honey Pot, also jener vom ZPS präparierten Benutzeroberfläche, mit denen Rechte angelockt wurden: Das folgende Tastaturtracking sei "gängige Praxis", etwa bei Googles Autovervollständigung, so Garbsch weiter. Er bezweifelt aber, "dass man mit solchen Systemen relevante und korrekte Daten erheben kann. Nicht jeder, der nach seinem Namen sucht, sei ein Nazi. Man könne auch einfach seinen Nachbarn denunzieren, den man für einen Nazi hält. Die Herausforderung bestehe darin, die Datensätze zu filtern, so Garbsch. Das Zentrum für Politische Schönheit hat sich das relativ einfach gemacht. Es unterstellt eine quantitative Gruppenzugehörigkeit: Wessen Name also häufig gesucht wird, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, zum gesuchten Personenkreis in Chemnitz zu gehören."

Außerdem: Die FR bringt ein Pro und Contra zu Soko Chemnitz, der inzwischen abgebrochenen Aktion des Zentrums für politische Schönheit.
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Internet

Auch gegen "terroristische Inhalte" plant die EU Uploadfilter. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen, aber die Pläne klingen alarmierend, berichtet Tomas Rudl bei Netzpolitik: "So sollen künftig alle Online-Dienste, auf denen Nutzer Kommentare, Videos oder Bilder veröffentlichen können, innerhalb einer Stunde nach Meldungseingang möglicherweise illegale terroristische Inhalte entfernen. Zudem sollen sie 'proaktiv' - mit der Hilfe von Uploadfiltern, Hash-Datenbanken und Künstlicher Intelligenz - nach solchen Inhalten Ausschau halten, um deren Veröffentlichung schon im Vorfeld zu unterbinden. Kommen die Diensteanbieter diesen Vorgaben nicht ausreichend nach, dann drohen ihnen saftige Strafen von bis zu vier Prozent des weltweiten Umsatzes."

Der britische Unterhausabgeordnete Damian Collins hat am Mittwoch interne Facebook-Dokumente veröffentlicht. In ihnen stellt sich heraus, das Facebook nicht  nur Cambridge Analytica privilegierten Zugang zu Nutzerdaten verschafte, sondern auch Firmen wie Netflix, Airbnb und Tinder, berichtet Dirk Peitz bei Zeit online: "Bislang ist unklar, ob Nutzerinnen und Nutzer durch App-Anmeldungen über Facebook oder über Likes von Pages etwa von Netflix womöglich unwissend diesen Datenzugang freigaben - und den für ihren gesamten Freundeskreis noch dazu."
Archiv: Internet