9punkt - Die Debattenrundschau

Übrig bleibt eine destruktive Kraft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2018. Was wir in Paris sehen, ist der Aufstand der Peripherie gegen das Zentrum, schreibt Christophe Guilluy im Guardian. Und Emmanuel Macron ist ein allzu naiver Repräsentant des Zentrums und der Hochqualifizierten, ergänzt der Historiker Gérard Noiriel in Libération. Aber ein Ziel haben haben die "Gilets jaunes" nicht, konstatiert die SZ ratlos. Im Deutschlandfunk spricht sich Ahmad Mansour für einen gemeinsamen Religionsunterricht der Kinder aus. Netzpolitik staunt über einen Staat, der seinen Bürgern Datenschutz verspricht und alle Daten selber will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.12.2018 finden Sie hier

Europa

Solche Ausschreitungen hat es in Paris seit 1968 nicht gegeben. Links- und Rechtsextremisten mischten sich unter die "Gilets jaunes", was nicht heißt, dass diese nicht selbst zu Gewalt fähig wären. Libération bringt eine Bilderstrecke aus Paris und den Regionen.

Die Bewegung der "Gilets jaunes" ist ein Wendepunkt für den bisher recht selbstherrlich agierenden Emmanuel Macron, meint Laurent Joffrin in Libération: "Kann sich Frankreich den Herausforderungen des beginnenden Jahrhunderts stellen, ohne die Bevölkerung mitzunehmen? Dies ist der Weg, der seit 18 Monaten eingeschlagen wurde. Unter dem wohlwollenden Blick der herrschenden Klassen, setzt man ein vom Himmel gefallenes Reformprogramm um, ohne zu diskutieren, weder mit Organisationen, noch mit der Bevölkerung, und folgt einer hektischen Agenda, die die Begünstigten begünstigt, bevor man sich über die Kaufkraft der großen Mehrheit der Franzosen Gedanken macht."

Ebenfalls in Libération unterhält sich Alexandra Schwartzbrod mit dem Historiker Gérard Noiriel, Autor einer "Histoire populaire de la France", der bekundet, wie verblüfft er bei der Lektüre von Emmanuel Macrons Buch "Révolution" gewesen sei: "Die populären Klassen kommen darin überhaupt nicht vor. In seinem Pantheon gibt es keinen Jaurès und keinen Léon Blum. Dass ein Präsident, der doch das ganze französische Volk repräsentieren soll, derart die arbeitende Bevölkerung vergisst, sagt eine Menge aus über einen Ethnozentrismus, der nun gegen ihn ausschlägt. Es ist nicht mal Verachtung, es ist Klassenblindheit. Er ist der Repräsentant der Hochqualifizierten... Der Graben ist noch vertieft worden durch seine mangelnde Erfahrung als Abgeordneter vor seiner Wahl, was für viele Mitglieder seiner 'République en marche' gilt. Und darum hat eine Dieselsteuererhöhung zu einer Explosion des Zorns und einer Personalisierung geführt."

In Paris blickt Nadia Pantel (SZ) ratlos auf die Demonstranten, die die französische Hauptstadt am Wochenende ins Chaos stürzten: "Die Menschen an Straßensperren und Barrikaden haben wie ihr Präsident das Vertrauen in die Volksparteien verloren. Doch in ihrer Enttäuschung wenden sie sich nicht Macron zu - sie wehren alles ab, was nach übergeordneter Autorität klingt. Parteien, Steuern, Medien, Polizei. Oder einfach nur die Idee, dass man eine Demonstration anmelden könnte. Übrig bleibt eine destruktive Kraft. Die Proteste sind nicht nur bemerkenswert brutal, sie sind auch bemerkenswert unentschieden. Der einzige Slogan, auf den sich alle einigen können, lautet 'Marchons, marchons'. Es ist der Marschier-Refrain der französischen Nationalhymne. Nur marschiert gerade niemand in irgendeine Richtung."
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Ideen

Der Geograf Christophe Guilluy, Autor mehrerer Bücher zum Thema, hat frühzeitig auf das Rumoren in der Provinz gelauscht und weist im Guardian angesichts der heftigen Pariser Krawalle an diesem Wochenende auf Parallelen in vielen Ländern hin: "Die Bewegung der gelben Westen ist in der Peripherie Frankreichs entstanden. In diesen Regionen der Peripherie hat die gesamte westliche Welle des Populismus ihren Ursprung. Das periphere Amerika brachte Trump ins Weiße Haus. Das periphere Italien - der Mezzogiorno, ländliche Gegenden und kleine norditalienische Industriestädte - ist die Quelle des Populismus. Es protestieren jene Klassen, die vor langer Zeit einmal der Referenzpunkt einer politischen und intellektuellen Welt war, bevor sie sie vergaß."

Erstaunlich, dass eigentlich noch kaum jemand darüber nachgedacht hat, was es in einer Leistungsgesellschaft bedeutet, nicht gut genug zu sein, überlegt Andreas Zielcke in der SZ. "Viele Wähler von Populisten, sei es im amerikanischen Rust Belt oder in Südamerika, in den tieferen Provinzen Englands oder Ost- und Südfrankreichs, in Teilen Ostdeutschlands oder auch in Osteuropa - viele dieser Wähler in ländlichen, industrieverlassenen oder unterentwickelten Regionen verfügen über deutlich geringere Bildungs-, Fremdsprachen- und Professionalitätsressourcen als ihre städtisch-weltstädtischen Pendants. Auf dem Wettbewerb des Marktes gelten sie damit als hochgradig gehandicapt. Wenn aber ganze Bevölkerungsgruppen als chancenlos stigmatisiert und de facto ausgemustert werden, spiegelt das nicht einfach ein normales Politikversagen wieder, sondern einen schwer zu reparierenden Mangel der demokratischen Gesellschaftshierarchie."
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Überwachung

Während die EU mit der Datenschutzgrundverordnung angeblich den Bürger vor den privaten Datenkraken schützen will, so will sie andererseits von diesen Kraken gern selbst alle gewünschten Daten. Das sieht ein Gesetzesvorschlag der EU-Kommission vor, der unter dem Namen unscheinbaren Namen e-Evidence mit möglichst wenig Diskussion durchgewunken werden soll, berichtet Alexander Fanta auf netzpolitik: "Ermittler in Europa wollen schnelleren Zugriff auf elektronische Beweismittel, auch über Ländergrenzen hinweg. ... Die Behörden eines Landes dürfen laut Entwurf in strafrechtlichen Ermittlungen in fast ganz Europa Zugriffsanordnungen an Netzbetreiber und Anbieter schicken. Dienste-Anbieter werden damit zur Herausgabe von Verbindungsdaten oder sogar Inhalten von privaten Nachrichten verpflichtet. Facebook muss dann etwa WhatsApp-Metadaten von Verdächtigen herausgeben. ... Für Betreiber von Online-Diensten ärgerlich sind die hohen Strafandrohungen: Bei Nichterfüllung der Anordnungen können Anbieter mit bis zu zwei Prozent ihre globalen Jahresumsatzes bestraft werden, heißt es in der Ratsposition." Die Daten, die Google, Facebook und Co unter Strafandrohung nicht sammeln sollen, sollen sie jetzt also unter Strafandrohung an staatliche Ermittlungsbehörden übergeben?
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Religion

Im Gespräch mit Andreas Main vom Deutschlandfunk spricht sich Ahmad Mansour, der zur Initiative säkularer Islam gehört, für einen gemeinsamen Religionsunterricht von Kindern aus: "Ich halte einen Religionsunterricht, der 2018 getrennt nach religiöser Zugehörigkeit geführt ist, für nicht zeitgemäß. Ich halte es für hochproblematisch, dass wir Kindern schon mit acht oder neun sagen: Ja, was bist du? Du bist Christ, Protestant. Dann in Klasse A gehen. Die Moslems in Klasse B und die Juden in Klasse C. Das geht nicht. Die Kinder müssen zusammengeführt werden, vor allem in diesen Zeiten, wo viele Vorurteile entstanden sind, wo viel Unwissen da ist."

Die Spiegel-online-Autorin Ferda Ataman glaubt nicht an Gott. Und darum fühlt sie sich auch von der Islam-Konferenz nicht betroffen: "Ich will da auch nicht vertreten werden. Es ist schließlich eine ISLAM-Konferenz. Meinetwegen soll sich der Staat ruhig mit den konservativen Verbänden austauschen, das kann nicht schaden - genauso wie 'mit Rechten reden'. Natürlich muss er auch liberale Muslime einbinden. Und er soll Strukturen für praktizierende Muslime im Alltag schaffen. Aber mich soll er da raushalten. Ich will nicht integriert werden in einen staatlichen Dialog über den adäquaten 'deutschen Islam'."
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Wissenschaft

Die Genforscher Bettina Schöne-Seifert, Bärbel Friedrich und Ernst-Ludwig Winnacker haben einen Kongress ihrer Disziiplin in Hongkong besucht, wo auch ihr Kollege Jiankui He sprach, der behauptet, zwei Babies qua Crispr gegen Aids immunisiert zu haben. Sie berichten in der FAZ: "Viele Details über Faktizität, Ablauf und Motivation, Hintermänner und Strafwürdigkeit der Erzeugung der angeblichen Crispr-Babys bleiben zu klären. Klar ist, dass die versammelten Wissenschaftler Hes Experiment unisono als unverantwortlich und als Anschlag auf die Reputation der Genforschung anprangern."
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Stichwörter: Crispr, Hongkong