9punkt - Die Debattenrundschau

Zeitalter des totalen Bauernhofs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2018. In ganz Europa gewinnen die AbtreibungsgegnerInnen, begünstigt durch den Rechtspopulismus, die Oberhand, konstatiert die taz. In der Welt beklagt Francis Fukuyama einen Mangel an konservativen Intellektuellen. Der Tagesspiegel findet: Die Medien haben zuviel "Haltung" bei Chemnitz und zu wenig im Hambacher Forst. Die SZ geißelt die Monopolisierung der Nacktmulle durch Google.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.09.2018 finden Sie hier

Europa

Am Samstag findet in Berlin der "Marsch für das Leben" statt. In Moldau traf sich die Bewegung der AbtreibungsgegnerInnen gerade zu ihrem Weltkongress. Für die taz berichten Patricia Hecht und Christian Jakob über immer stärkere Restriktionen im Zeichen des triumphierenden Rechtspopulismus: "In Italien machen, beflügelt vom Wahlsieg der rechten Lega Nord, die Kirchen mobil. Immer mehr GynäkologInnen beugen sich dem Druck und weigern sich, Abtreibungen durchzuführen. In der Provinz Bozen in Südtirol erreicht ihr Anteil mittlerweile rund 93 Prozent."

Die Brexit-Verhandlungen sind mal wieder auf Grund gelaufen. Nach dem EU-Gipfel in Salzburg sieht sich Theresa May gedemütigt, weil die EU ihren Chequers-Plan, der eine freie Zirkulation der Waren, aber nicht der Dienstleistungen will, nicht anerkennt - mit dem Argument, dass man nicht ein halbes Mitglied der EU sein kann. Mays Position geht zu weit für die EU und nicht weit genug für die harten Brexit-Gegner in der eigenen Partei, kommentiert Jonathan Freedland im Guardian und sieht schwarz: "Das übliche Muster in europäischen Verhandlungen ist, dass der Stillstand bis zur 59. Minute der 12. Stunde andauert, bis die Politiker dann aus nächtlicher Sitzung auftauchen und einen trübäugigen Kompromiss präsentieren. Aber das wird immer schwerer vorstellbar. Großbritannien fordert etwas, was vielleicht unmöglich ist - was bedeutet, dass die Aussicht auf ein Brexit ohne Deal wächst. "

Die FAZ präsentiert ein ganzseitiges Manifest für eine Erneuerung der EU, das angeblich "deutsch-französisch" initiiert ist und akademisch geprägt zu sein scheint - bei den Unterzeichnern ist allerdings kein Deutscher zu finden. Das Papier beruft sich auf Etienne Balibar und beklagt eine mangelnde Sozialpolitik: "Die Korrosion der Systeme von Solidarität - ob es sich um öffentliche Dienste und Infrastrukturen, um Arbeitsrecht oder um soziale Sicherheit handele - ist paradoxerweise sowohl einer der sichtbarsten Effekte der Integration Europas als auch ein Hauptfaktor seiner Desintegration."

Zu feige, zu "altbacken" und zu "modisch" erscheinen dem Schriftsteller Robert Misik die Sozialdemokraten, für deren europaweite Krise er in der NZZ nach Gründen sucht: "Die Sozialdemokraten haben sich von der linken 'Identitätspolitik' anstecken lassen und machen sich viel zu sehr gegen die Diskriminierung von Minderheiten stark. Sie haben damit die große Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern vergessen, die auch nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Sie verachten sie sogar. Sie kümmern sich um alles, was die Gesellschaft bunter macht, und haben vergessen, dass es auch um Zusammenhalt geht. Sie sind, so nennen das manche, zu liberal geworden."
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Geschichte

Markus Wehner erinnert in der FAZ an die Gründung der DKP vor fünfzig Jahren, die im Zeichen der Entspannungspolitik als Ersatz für die einst verbotene KPD zugelassen wurde. Sie kam zwar bei Bundestagswahlen nie auf mehr als 0,3 Prozent, war aber nicht ohne Einfluss: "In der Honecker-Ära erhielt die DKP rund 70 Millionen D-Mark im Jahr aus Ost-Berlin; Ende der achtziger Jahre unterhielt sie einen Apparat mit 500 hauptamtlichen Funktionären."
Archiv: Geschichte

Ideen

Im Welt-Interview spricht der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, der vor dreißig Jahren durch die These, mit der liberalen Demokratie sei der Endpunkt der Geschichte erreicht, schlagartig bekannt wurde, über Donald Trump, Identitätspolitik und seinen Bruch mit den Neokonservativen: "In meinen Augen drehen wir uns immer wieder im Kreis. Die Politik an den Universitäten hat sich kaum weiterentwickelt. Eine Menge alter Ideen kommt wieder an die Oberfläche. Dieses Mal ist die Reaktion, die sie hervorrufen, jedoch weniger produktiv, weil sie von Rechten übernommen wurden, die keine Intellektuellen sind. In den Achtzigern gab es eine Menge ernst zu nehmende, konservative Intellektuelle. Heute gibt es solche Figuren auf der Rechten nicht mehr, was ich schade finde, weil wir auf beiden Seiten reflektierte Menschen mit guten Ideen brauchen."

Die NZZ bringt einen Auszug aus einem große autobiografischen Gespräch zwischen Hans Ulrich Gumbrecht und Rene Scheu, das in Gumbrechts neuem Buch "Der Weltgeist im Silicon Valley" abgedruckt ist. Der deutsch-amerikanische Romanist spricht über Lyotard, Foucault und den Drogenkonsum von Derrida, kommunistische Desillusion und seine frühe Amerika-Begeisterung: "Ich glaube, es war in der Tat die kindliche Begeisterung aus den 1950er Jahren, die mich zusammen mit der Begeisterung für die großen amerikanischen Universitäten - vor allem nach zwei Gastprofessuren in Berkeley 1980 und 1983 - nach Amerika getragen hat. Die Entdeckung und Kritik Amerikas durch europäische Intellektuelle im 20. Jahrhundert - und da schließe ich Tocqueville natürlich aus - kam mir immer wie an den Haaren herbeigezogen vor, spätkolonialistisch, von Ressentiment und Neid getrieben. Natürlich gibt es immer einige Highlights - so Baudrillards Beschreibung des Fahrstils auf amerikanischen Freeways. Aber das allermeiste ist europäischer Intellektuellen-Provinzialismus."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt der Soziologe Hans-Peter Müller zum hundertsten Todestag von Georg Simmel.
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Internet

Google wird zwanzig Jahre alt. Die SZ bringt dazu ein launiges Dossier, in dem man unter anderem erfährt, dass fast alle Nacktmulle dieser Welt Google gehören: "Einfach züchten kann man Nacktmulle nicht. Sie leben in streng hierarchischen Kolonien, in denen nur ein Weibchen fruchtbar ist, die Königin. Aber das ist nicht der Grund für die weltweite Mullknappheit. Begehrlichkeiten wecken die Tiere, seit man weiß, dass sie so gut wie immun gegen Krebs und Schmerz sind. Deshalb steigt das Sterberisiko bei Nacktmullen nicht mehr an, sobald sie ausgewachsen sind. Es bleibt konstant bei 1:10 000. Was Google sehr neugierig macht."

Im Mobilitätszeitalter haben wir die "agrarische Ortsgebundenheit" keineswegs überwunden, schreibt der Kulturtheoretiker Jörg Scheller in der NZZ: "Dass unsere technischen Geräte und Kommunikationsmedien immer handlicher werden, ist faktisch keine Befreiung von der Ortsgebundenheit der alten agrarischen Gesellschaften, sondern der Eintritt in ein Zeitalter des totalen Bauernhofs. Wie Bauern an ihre Höfe gekettet waren, ketten wir uns an Kommunikationsgadgets und Miniaturwerkstätten der immateriellen Arbeit. Mehr noch: Der Bauernhof des mit portablen technischen Prothesen ausgestatteten Menschen erstreckt sich nun über den gesamten Globus."

Weitere Artikel: Stefan Betschon bahnt sich in der NZZ einen Weg durch verschiedene Meinungen und Mythen zum Thema "Künstliche Intelligenz".
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Urheberrecht

Noch ist das Internet nicht verloren, sagte die EU-Politikerin Julia Reda auf der Konferenz "Das ist Netzpolitik" in Berlin, von der Alexander Fanta bei netzpolitik.de berichtet, auch wenn die EU-Parlamentsabstimmung zu Leistungsschutzrecht und Upoadfilter eine Niederlage für Verfechter eines modernen Urheberrechts war: "Die Reform wandert nun hinter verschlossene Türen. Verhandler des Parlaments entscheiden nun in den nächsten Wochen gemeinsam mit der Kommission und dem Rat der Mitgliedsstaaten im sogenannten Trilog über einen endgültigen Text. In diesem könne noch das Schlimmste verhindert werden, sagt die Piratin. 'Es wird wichtig sein, auf Deutschland und auch auf Österreich während der Trilog-Verhandlungen öffentlich Druck auszuüben.'"
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Gesellschaft

Ahmad Mansour, Autor des Buchs "Klartext zur Integration", wendet sich in der taz gegen den Relativismus vieler Linker beim Thema Islam: "Das Grundgesetz gilt für alle - für Muslime ebenso wie für Neonazis. 'Verständnis' für Antisemitismus sollte es weder im Fall der einen noch im Fall der anderen geben. Oder wollen Linke wirklich in Kauf nehmen, dass Juden von Muslimen attackiert, kleine Mädchen durch Kopftücher sexualisiert und Islamkritiker bedroht werden, nur um rechte Kritik 'nicht zu bedienen'? Das wäre ein fataler Kollateralschaden, ein Opfer auf dem Altar falsch aufgefasster 'Korrektheit'."

Die Evangelische Akademie Bad Boll veranstaltet eine Tagung zum Nahostkonflikt, in der fast ausschließlich Anhänger der Israelboykottbewegung diskutieren, berichtet Martin Niewendick in der Welt: "Zu den Referenten gehört etwa die Linke-Politikerin Annette Groth. Sie unterstützt die BDS-Bewegung, welche von ihrer eigenen Partei als antisemitisch eingestuft wird. 2010 war sie Passagierin auf der Gaza-Flotille 'Mavi Marmara' - ein Schiff, das die israelische Seeblockade zum Gazastreifen durchbrechen wollte. Schon beim Ablegen in Istanbul gab es antisemitische Sprechchöre; an Bord befanden sich auch Islamisten."

Cathrin Kahlweit porträtiert in der SZ die höchst umstrittene Feministin Germaine Greer, die ein höchst umstrittenes Büchlein zum Thema Vergewaltigung vorgelegt hat: "Das Buch hat drei zentrale Thesen: Frau ist nur dann ein ewiges Opfer, wenn sie sich dazu machen lässt. Und: Die Gesellschaft versucht, Frauen einzutrichtern, dass Missbrauch das schlimmste aller Verbrechen an Frauen sei - was eine groteske Überschätzung der Bedeutung des männlichen Geschlechtsorgans wie der Folgen von Vergewaltigungen zur Voraussetzung habe... Und drittens: Weil sich Vergewaltigung so schwer belegen lässt, erleiden viele Frauen ein größeres Trauma durch ein Gerichtsverfahren als durch den Akt selbst."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Christoph von Marschall wirft den deutschen Medien im Tagesspiegel zu viel "Haltung" in Chemnitz und zu wenig im Hambacher Forst vor: "Wo hat es mehr Rechtsbrüche und Verwundete gegeben, in Chemnitz oder im Hambacher Forst? Der Ton in vielen Medien ist umgekehrt. Chemnitz wird als verabscheungswürdige braune Stadt vorgeführt. Trotz der erschreckenden Gewalt gegen Polizisten im Hambacher Forst scheint in vielen Berichten eine unjournalistische Sympathie mit den Aktivisten durch. Die Proteste, wird betont, seien friedlich oder weitgehend friedlich verlaufen. Wäre die Überschrift 'Friedliche Proteste in Chemnitz' ebenso denkbar?"

Die taz will die Printausgabe mit Ausnahme der Wochenend-taz demnächst einstellen. Zur Lage von Zeitungen bringt sie heute ein kleines Dossier. Geschäftsführer Kalle Ruch bekräftigt seine Position nochmal.

Und ein Blick auf die anderen Medienhäuser zeigt, dass Ruch nicht ganz falsch liegen kann. Eine kleine Tour d'horizon der Zeitung resümiert zu Springer: "Während Welt und Bild noch Journalismus machen dürfen, kommen die Gewinne längst woanders her: von Immowelt und Stepstone, den digitalen Stellen- und Immobilienanzeigen. 80 Prozent der Vorsteuergewinne steuert das Digitalgeschäft bei. Und so lässt es sich vermutlich etwas besser verschmerzen, dass die verkaufte Auflage des wichtigsten Blatts des Hauses, der Bild, zurückgeht. Gewaltig zurückgeht. Lag sie im zweiten Quartal 1998 bei gut 4,6 Millionen Exemplaren täglich, waren es zehn Jahre später noch 3,4 Millionen und jetzt, im zweiten Quartal dieses Jahres, lag die gedruckte und verkaufte Auflage nur noch bei 1,643 Millionen - obwohl die B.Z. und die Fußball-Bild eingerechnet werden."

Zum Dossier gehört auch ein Interview mit Donatien Huet von Mediapart, der den großen Erfolg des rein zahlbaren Internetmediums in Frankreich erklärt.
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