9punkt - Die Debattenrundschau

Das Publikum findet's lustig, haha

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2020. Befremdung löst die große Anti-Corona-Demo vom Wochenende aus. Und auch ins Links-Rechts-Schema lässt sie sich nicht so recht einordnen, findet die taz. Auch jenseits von Corona tosen vor allem die Shitstorms: Dieter Nuhr darf nicht mehr für die DFG werben, weil er Follow Friday kritisierte. Er ist aber auch eine dubiose Figur, findet die SZ. In Amerika befriedet sich dagegen das Klima in den sozialen Netzen - die Konservativen ziehen einfach ab, und so bleiben die Blasen schön getrennt, nicht zur Zufriedenheit der NZZ. Die Migration qualifizierter Briten in die EU hat rasant zugenommen, notiert der Observer.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.08.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Bert Schulz wundert sich in der taz über die doch fast unheimlich große Anti-Corona-Demo in Berlin am Samstag, wo er übrigens  viel schwäbischen Akzent hörte: "Wahrscheinlich ist es gar nicht so schwer, auch als aufgeklärter Mensch in diese Gruppe abzurutschen. Genervt sein über den Mund-Nasen-Schutz; dazu ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat oder Frust über eine Steuernachzahlung, und dann vielleicht eine gute Freundin, die ein bisschen esoterisch drauf ist und die mensch dann auf eine solche Demo begleitet. Jedenfalls ist es unmöglich geworden, den Protest - wie weite Teile der Debatte zum Umgang mit Corona - auf einem Rechts-links-Schema einzuordnen."

Viele der Parolen auf der Demo waren "antisemitisch konnotiert" oder zumindest verschwörungstheretisch, sagt Levi Salomon vom "Jüdischen Forum für Demokratie" im Interview mit Christian Jakob in der taz: "Der häufigste Inhalt auf den Plakaten am Samstag war: 'Gib Gates keine Chance'. Dahinter steckt die Vorstellung, der Milliardär Bill Gates habe Corona entweder selbst in die Welt gesetzt oder nutze es aus, um Menschen zwangsweise zu impfen und damit zu unterjochen. Viele Menschen haben sich mit dieser Verschwörungstheorie lange auseinandergesetzt. Es gab Faktenchecks dazu und viel sachliche Aufklärung. Trotzdem wurden diese Plakate am Samstag vielfach getragen. Denn es gibt Menschen, die sich verschlossen haben. Was nicht passieren darf, ist, dass sie neue Anhänger für ihre Ideen gewinnen."

Als für keinerlei Argumente zugänglich erlebte auch FAZler Hannah Bethke die Demonstrierenden: "Man dürfe hier ja gar nichts mehr, sagt eine Frau, die siebzig Jahre alt ist. Das Tragen der Maske sei furchtbar lästig, und die Lokale seien alle geschlossen, und demonstrieren dürfe man auch nicht. Aber das tue sie doch gerade? 'Na, wir machen das eben einfach.' Dass das Versammlungsverbot nicht mehr gilt und die Lokale längst wieder geöffnet sind, beeindruckt sie nicht. Sie weiß, wer ihr die Freiheit klaut: die Regierung und die Lügenpresse."

Die Wirtschaft schrumpft. Aber können die Prediger des "Degrowth" jetzt jubeln? Die "Nachhaltigkeitsforscherin" Maja Göpel steht mit ihrem Buch "Unsere Welt neu denken" auf Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste, auch der Bestseller-Autor Richard David Precht möchte ohne Kreuzfahrten auskommen. Spiegel-online-Kolumnist Alexander Neubacher widerspricht. "Auch wenn es in Göpel- und Precht-Büchern anders steht: Die beiden Ziele 'Weniger Wachstum' und 'Weniger Armut' gehen leider nicht Hand in Hand. In der echten Welt sieht der statistische Zusammenhang so aus: Schrumpft die Wirtschaft, wächst die Not. Zigtausende Firmen stehen vor der Pleite, Hunderttausende Menschen fürchten um ihren Job. Precht mag ohne Kreuzfahrten prima leben können. Die Beschäftigten von MV Werften in Rostock und Meyer in Papenburg sehen das anders."

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ein Video des Kabarettisten Dieter Nuhr gelöscht, das zu den Promi-Stimmen gehört, die die DFG  für ihre Kampagne #fürdas Wissen sammelt. (Unter diesem Hashtag lassen sich nun die vielen Äußerungen gegen Nuhr nachlesen.)


Irgendetwas Anstößiges ist in dem Beitrag Nuhrs eigentlich nicht zu hören - er mokiert sich allerdings sanft über das Motto "Folgt der Wissenschaft" der Follow-Friday-Bewegung. Auf Twitter hat es darum einen Shitstorm gegeben, vielen gilt Nuhr als "rechts", weil er sich nicht ausschließlich über Rechte lustig macht. Nicht die Angriffe auf Twitter, sondern das Zurückweichen der DFG halte er für den eigentlichen Skandal, notiert Nuhr in einem empörten Facebook-Post: "Es gibt nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter Klimawissenschaftlern unterschiedliche Szenarien und verschiedenste Lösungsstrategien. Es ist sogar Grundbedingung von freier Forschung, dass unterschiedliche Thesen zugelassen sind und diskutiert werden. Das passiert ja auch in der Wissenschaft. In der Öffentlichkeit aber wird Meinungsvielfalt zunehmend aktiv durch Denunziation unterdrückt. Einzelne Gruppen proklamieren unantastbare Wahrheiten, behaupten, die Wissenschaft sei auf ihrer Seite und behandeln dementsprechend kritische Denker als Ketzer."

Im FAZ.Net kommentiert Michael Hanfeld: "Damit gibt die DFG auf erbärmliche Weise ihre Prinzipien preis. Sie leistet als Wissenschaftsorganisation einen Offenbarungseid." Felx Hütten findet Nuhr auf sueddeutsche.de dagegen problematisch: "So lässt er sich gerne über die Maskenpflicht aus, unterstellt Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie sei dem Virologen Christian Drosten verfallen, und insinuiert, dass Aktivistin Greta Thunberg mit ihren Forderungen nach mehr Klimaschutz den Hungertod von Millionen Menschen in Kauf nehme. Das Publikum findet's lustig, haha."

Ein bisschen ähnlich die Aufregung um die Feministin Güner Balci, die in Berlin-Neukölln zur Integrationsbeauftragten ernannt wurde - Grüne und Linkspartei wetterten dagegen, berichtet die BZ Berlin: "'Was für eine bizarre Fehlbesetzung! Hey, hier ist nicht mehr Buschkowsky-Time', postete auf Facebook die Grünen-Abgeordnete Susanna Kahlefeld."

Außerdem: In der taz greift Peter Weissenburger nochmal den Streit zwischen der Rechtsextremismexpertin Natascha Strobl und dem Welt-Kolumnisten Don Alphonso auf, dessen ergebene Gefolgschaft Strobl auf Twitter mit seinem Shitstorm überzogen (unser Resümee)  - aber das sind ja schon die Aufgeregtheiten von vor dem Wochenende.
Archiv: Gesellschaft

Internet

Amerikanische Konservative wenden sich ab von Twitter und Co und anderen Plattformen zu, weil sie sich zensiert fühlen. In der NZZ ist Adrian Lobe zwiegespalten: In den sozialen Netzwerken "zumindest findet noch Kommunikation zwischen den verfeindeten Lagern statt. Selbst wenn man einen Nutzer blockiert, ist das noch eine Form der sozialen Interaktion. Wenn nun aber immer mehr konservative Nutzer Plattformen wie Facebook oder Twitter den Rücken kehren und sich in alternativen Foren organisieren, droht die Öffentlichkeit in immer kleinteiligere Neben- und Scheinöffentlichkeiten zu zerfallen - in homogene 'gated communities', in denen man gar nicht merkt, was auf der anderen Seite der Mauer stattfindet. Die Diskussionen verlaufen dann zwar gesitteter, sind aber auch tendenziell selbstreferenzieller."
Archiv: Internet
Stichwörter: Soziale Netzwerke

Kulturmarkt

Bei den Fans ist Joanne K. Rowling offenbar noch nicht unten durch. Der Online-Buchhändler Momox veröffentlicht (offenbar erstmals?) seine Bestsellerliste fürs erste Halbjahr, meldet das Börsenblatt:

"1. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Halbblutprinz (Band 6)
2. Joanne K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (Band 7)
3. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Orden des Phönix (Band 5)
4. Joanne K. Rowling: Harry Potter und die Kammer des Schreckens (Band 2)
5. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Feuerkelch (Band 4)
6. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Band 3)
7. Wolfgang Herrndorf: Tschick"
Archiv: Kulturmarkt

Geschichte

In der NZZ berichtet der Historiker Ulrich Schlie von einem Bericht über die Vorläufer des Bundeslandwirtschaftsministeriums im Nationalsozialismus, den eine unabhängige Historikerkommission erstellt hat: "Es geht um die Frage, warum gerade im deutschen Ernährungsministerium der Nachkriegszeit unter den leitenden Beamten ein besonders hoher Anteil an ehemaligen Parteigenossen der NSDAP und ehemaligen SS-Mitgliedern beschäftigt war - im Jahr 1959 wies man das Allzeithoch aller Bundesministerien aus. ... Noch 1984 wurde mit Walther Florian ein ehemaliger SS-Mann und Angehöriger der 'Kampfgruppe Fegelein' trotz Protesten der jüdischen Opferverbände zum Staatssekretär berufen, der in dem bei seinem Eintritt ins Ministerium eingereichten Lebenslauf seine einstige SS-Mitgliedschaft 'vergessen' hatte. Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte des Hauses war von ihm nicht zu erwarten."

Ebenfalls in der NZZ porträtiert Judith Leister Hugo Marcus vor, einen homosexuellen deutschen Juden, der in den 1930er Jahren zum Islam konvertierte: "Der philosophische Zugriff, mit dem Hugo Marcus den Islam adaptierte, ist ebenso originell wie synkretistisch. Wie viele Aufklärer, insbesondere Lessing, deutete Marcus den Islam als universalistische Toleranzreligion. Von einer Massenkonversion erhoffte sich der Kulturkonservative eine lichtere Zukunft für Deutschland. Den 'Olympier' Goethe, Autor des 'West-östlichen Divans' und der 'Mahomet'-Gedichte, präsentierte er als Schlüsselfigur eines europäischen Islam. Aus Goethes Äußerungen zur Religion las er 'die Worte eines echten Moslems' heraus. Und nicht nur das. Marcus, der seine Homosexualität eher zu verbergen suchte, erblickte in Goethes Leben und Werk ein Vorbild für homosexuell gefärbte Männerbünde."
Archiv: Geschichte

Europa

Toby Helm berichtet im Observer über eine deutsch-britische Studie, die zeigt, dass die Migration von Briten in die Europäische Union rasant zugenommen hat. Hintergrund ist natürlich der Brexit. "Darüber hinaus ergab die Studie, dass die britischen Migranten zu den qualifiziertesten Personen aller Herkunftsnationen gehören, mit einer der höchsten Nettodurchschnittseinkommensraten, was darauf hindeutet, dass Brexit eine stetige Abwanderung der talentiertesten und produktivsten Menschen auf den Kontinent eingeleitet hat."
Archiv: Europa
Stichwörter: Brexit, Europäische Union

Medien

Ganz happy ist Gregory Lipinski bei Meedia darüber, dass die SZ und die FAZ ihre Printanzeigen künftig gemeinsam vermarkten wollen - so können sie Mediaagenturen eine größere Reichweite anbieten (und nebenbei sind sie davor gefeit, ihre Preise zu unterbieten, was Lipinski nicht erwähnt). Nebenbei streift Lipinski aber auch, dass die FAZ ihre Sonntagsausgabe auf Samstag ziehen wolle. "Zusammen mit der bestehenden Samstagsausgabe verstärken die Printhäuser hierdurch ihre Stellung auf dem lukativen Markt der Wochenendtitel. So werden die Platzhirsche für Kombi-Anzeigen attraktiver." Äh, und es gibt nur noch eine Wochenendausgabe der FAZ?

Außerdem: Stefan Niggemeier erzählt in Übermedien, wie es die Soulsängerin Joy Denalane und die Rockmusikerin Ilgen-Nur fast aufs Cover des deutschen Rolling Stone schafften, wo sie zu Sexismus in der Branche interviewt werden. Aber dann brachte der Rolling Stone doch lieber ein 45 Jahre altes Bild von Bruce Springsteen!
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Geld für die Kultur gibt es in Frankreich: vom Staat und bald auch von den Streamingdiensten, die bis zu 25 Prozent ihrer in Frankreich erwirtschafteten Einnahmen für die nationale Kultur berappen sollen. Nur die Kulturpolitik, die ist tot - behauptet jedenfalls Emmanuel Macrons bisheriger Redenschreiber Sylvain Fort, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ. "Seit Jahren, stellt Fort fest, beschränke sie sich darauf, 'die Kulturszene vor dem Mark zu schützen'. Es gibt keine Konzepte mehr. Jede einzelne Klientel will bedient werden. Vom Verlagswesen bis zur Filmindustrie habe jede Sparte die staatliche Hilfe nur für sich eingefordert. Unter den Dutzenden von Petitionen gab es keine einzige, in der ein Schauspieler und Sänger gemeinsam für die Rettung der Kultur plädiert hätten."
Archiv: Kulturpolitik