9punkt - Die Debattenrundschau

Dauernd am Rand der Erschöpfung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2020. Die Coronakrise legt lange verdrängte Schwachstellen im deutschen Kulturbetrieb offen, schreiben Dieter Haselbach und Pius Knüsel in der Welt: Zeit für Reformen. Politico.eu erzählt, wie schwer sich die Brüsseler Institutionen tun, die prostaatliche Medienkonzentration in Ungarn zu bekämpfen. In der SZ erklärt Ruben Verborgh, warum es wichtig wäre, seine Daten in ein anderes soziales Netzwerk mitnehmen zu können. und in der FR erklärt Micha Brumlik, warum er einen offenen Brief gegen den Antisemitismusbeauftragen der Bundesregierung unterzeichnet hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.08.2020 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die Coronakrise legt lange verdrängte Schwachstellen im deutschen Kulturbetrieb offen, schreiben Dieter Haselbach und Pius Knüsel (Autoren des Buchs "Der Kulturinfarkt") in einem Welt-Essay mit einer gewissen Sprengkraft. Das Publikum wird nicht mehr in die Theater und Konzerstsäle zurückkehren wie vor der Krise, prophezeien sie - denn es gehört großenteils zur Risikogruppe. Nun wäre die Chance, den Betrieb umzubauen, wie die Autoren am Theater exemplifizieren: "Im deutschsprachigen Raum gibt es ein engeres Netz von öffentlichen Theaterbetrieben als irgendwo auf der Welt. Zu diesem Netz gehören in Deutschland circa 140 öffentliche Theater und hudnert Orchester. Wie hier Theater produziert wird, ist nach internationalem Maßstab außergewöhnlich: Jeder Standort inszeniert sein eigenes Programm. Wenn das lokale Publikum nach fünf oder zwanzig Aufführungen erschöpft ist, ist die Produktion erledigt. Das Verhältnis von Probenzeiten und Produktionskosten zur Zahl der Aufführungen ist extrem ungünstig. Überall und ständig braucht es neue Premieren; die 'deutsche Theater- und Orchesterlandschaft' produziert so dauernd am Rand der Erschöpfung. Es ist teuer - und frustrierend. Die Theaterapparate, die Chöre und Orchester werden wie öffentlicher Dienst behandelt, nur Künstlerinnen und Künstler werden eher mager honoriert. Woanders in der Welt bleiben erfolgreiche Stücke lange auf dem Markt, sie reisen zum Publikum. Das ist preisgünstiger."

Die Autoren verweisen auf eine Essayreihe der Kulturpolitischen Gesellschaft zum Thema.
Archiv: Kulturpolitik

Internet

Nina Rehfeld berichtet auf der Medienseite der FAZ über die Vorladung der Chefs von Apple, Amazon, Googles Mutterfirma Alphabet und Facebook vor den Kartellausschuss im amerikanischen Kongress. Der Vorwurf: Alle vier sollen ihre Machtstellung benutzt haben, bevorzugt eigene Produkte zu verkaufen. Aber eine Zerschlagung der Konzerne ist wohl kaum zu befürchten, meint Rehfeld - "dank veralteter Gesetzgebung, politischer Polarisierung und einer uramerikanischen Faszination für wirtschaftlichen Erfolg." Das Kartellrecht, das vor allem gegen Preisabsprachen vorgeht, greife bei den vier nicht recht: "Die Tech-Konzerne bieten ihre Leistungen scheinbar gratis oder besonders günstig an - im Austausch für die Preisgabe persönlicher Informationen. Die gesammelten Datenmengen sind der Rohstoff, mit dem die Tech-Firmen nicht nur den jeweiligen Markt dominieren."

Immerhin hat die öffentliche Debatte über Datenkontrollverlust der User und die Manipulation der öffentlichen Meinung schon einige Veränderungen bei den Big Four bewirkt. Aber das reicht nicht, meint Ruben Verborgh, Professor für Webtechnologie in Gent, in der SZ, solange es fast unmöglich ist, seine Daten in ein anderes soziales Netzwerk mitzunehmen: "Gemeinsam mit dem Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, arbeite ich an digitalen Datentresoren, die es ermöglichen werden, unsere Daten sicher zu speichern und Informationen mit Kontakten zu teilen, die eine andere Plattform verwenden. Diese Art von Lösungen wird uns nicht nur vor großen Datenlecks schützen. Auch Innovationen von unabhängigen App-Entwicklern werden wieder möglich sein."
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Gesellschaft

Meron Mendel vom Anne-Frank-Institut in Frankfurt philosophiert in einer taz-Kolumne über "cancel culture", die in Deutschland angeblich schlimmer ist als in den USA und hat noch eine Frage an die sechzig Intellektuellen, die eine Absetzung des Antisemitismusbeauftragten fordern: "Ich persönlich vermisse unter den Unterzeichner*innen einen Sprachphilosophen, der sich wissenschaftlich mit dem Paradox befasst, wie man glaubwürdig im Namen der Meinungsfreiheit ein Sprechverbot für Herrn Klein erlassen soll."

Ziemlich verwundert legt Ralf Balke in der Jüdischen Allgemeinen das Buch "Streitfall Antisemitismus" zur Seite, das vom ehemaligen Antisemitismusforscher Wolfgang Benz herausgegeben wurde. An sich versprach er sich eine anregende Lektüre über das komplexe Thema: "Doch nach wenigen Seiten bereits stellt sich bei der Lektüre ein mulmiges Gefühl ein. 'Wenn selbst Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit 'Du Jude' beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden, dann läuft etwas ziemlich schief', erklärt beispielsweise Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemtismusforschung. Jüdische Schüler, die entsprechend gemobbt wurden, dürften das wohl anders sehen. Doch das hat für die Expertin keinerlei Relevanz: 'Selbst betroffen zu sein, ist nicht gleichzeitig auch eine Gewähr dafür, die Situation nüchtern einschätzen zu können.'"

Im Interview mit der FR erklärt Micha Brumlik, warum er den offenen Brief der sechzig Intellektuellen an Angela Merkel mit unterschrieben hat, der den den Umgang mit Antisemitismus-Vorwürfen und mit Israel-Kritik in Deutschland kritisiert: "Das geht so weit, dass eine jüdisch-israelische Sängerin vor ihrem Auftritt unterschreiben sollte, dass sie nicht BDS-nah sei", empört er sich. "Ich bezeichne das als eine neue Form des McCarthyismus. Der funktioniert über das Prinzip der Kontaktschuld. Das heißt, es kommt überhaupt nicht darauf an, einer Person nachzuweisen, dass sie tatsächlich etwas getan oder geschrieben hat. Es reicht schon, wenn man unterstellt, sie habe diesen oder jenen gekannt, der mit dieser oder jener Organisation in Verbindung stehe. ... wenn man immer befürchten muss, dass öffentliche Debatten möglicherweise gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verstärken, darf man bald über gar nichts mehr reden. Das widerspricht grundsätzlich meinen liberalen Überzeugungen. Diese Gefahr muss man dann eben in Kauf nehmen."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

In der NZZ erinnert Florian Coulmas an den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren und die Diskussion danach: "Wie soll Hiroshima in die Geschichte eingehen? Einigkeit besteht darüber bis heute nicht. Krieg ist kein Unglück, das über uns kommt wie eine Flutwelle, unter der alle leiden. Kriege passieren nicht, sie werden gemacht von Akteuren, die dafür verantwortlich sind. Dass Umstände verwickelt sein können und der Ausbruch eines Krieges von Fehlkalkulationen und Dummheiten begleitet sein kann, will man nicht unbedingt wissen. Für ein geordnetes Weltbild ist es besser, wenn es die Guten gibt und die Bösen, wie im Western. Deshalb verhallen die Stimmen derer, die sich nicht damit zufriedengeben, dass 'alles in allem', 'unterm Strich' A gut und B böse war, eher ungehört." In der Berliner Zeitung schreibt Thorsten Wahl und weist auf einige Fernsehsendungen zum Thema hin.
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Europa

Lili Bayer und Paola Tamma schildern in politico.eu, wie schwer es für die Brüsseler Institutionen ist, die prostaatliche Medienkonzentration in Ungarn zu bekämpfen. Dort hat man im letzten Jahr 400 Pro-Orban-Medien in einer staatsnahen Holding namens KESMA ("Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung) zusammengefasst. Eine Hoffnung der EU zur Bekämpfung illegaler Wettbewerbsverzerrung ist das Wettbewerbsrecht. 2016 und 2019 erhielt die Kommission zwei Klagen über die ungarische Medienkonzentration. "Die Klage von 2019, die von Politico eingesehen wurde, zitiert Daten des Medienforschungsunternehmens Kantar, die zeigen, dass ein Medium aus der KESMA-Holding, das Magazin Figyelö, 74,1 Prozent seiner gesamten Werbeeinnahmen aus staatlichen Anzeigen erhielt, während das unabhängige Magazin HVG nur 3,5 Prozent seiner Einnahmen damit bestritt."

Hubertus Knabe kommt in seinem Blog auf das Vermögen der SED (heute Die Linke) zurück, das irgendwie in einem schwarzen Loch der Geschichte verschwunden zu sein scheint. Die Zahlen waren sogar in der offiziellen Version exorbitant: "Die Partei selbst bezifferte ihre Geldbestände zum 1. Dezember 1989 auf die für Ostdeutsche unvorstellbare Summe von 6,13 Milliarden DDR-Mark. Dieses Vermögen wurde im Zuge der Währungsunion zum Kurs von 2:1 auf D-Mark umgestellt. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet, waren dies - ohne Inflationsausgleich und Kaufkraftverlust - mehr als 1,5 Milliarden Euro. Hinzukamen rund 90 Millionen D-Mark auf ausländischen Konten, deren Existenz die Partei verschwiegen hatte. Zum Vergleich: Mit 136 Millionen Euro (2018) besitzt die CDU in Gesamtdeutschland heute weniger als ein Zehntel dieser Summe."

Am 9. August wird in Weißrussland gewählt. Präsident Lukaschenko hat im Vorfeld praktisch jeden verhaften lassen, der ihm gefährlich werden könnte. Die Opposition singt zur Aufmunterung "Mauern", ein Lied, dessen Musik Lluís Llach 1968 als Hymne des katalanischen Kampfes gegen die Franco-Diktatur komponiert hatte, die Verse wurden 1978 von dem polnischen Liedermacher Jacek Kaczmarski für den Kampf der Solidarnosc verfasst, erzählt Felix Ackermann in der FAZ. In Weißrussland werde der Refrain allerdings in leicht abewandelter Version gesungen: "'Wenn du mit dem Rücken drückst und wenn wir gemeinsam drücken, dann werden die Mauern fallen, fallen, fallen, und wir werden frei aufatmen.'" Die Originalversion war weitaus weniger optimistisch, so Ackermann und zitiert: "Er betrachtet den Gleichschritt der Massen, / Schweigt vertieft in das Getöse der Schritte, / Und die Mauern, sie wuchsen, wuchsen und wuchsen, eine Kette wiegt um die Beine." Nun, in Polen hatte die Geschichte ausnahmsweise den Optimisten Recht gegeben.

Hier die Kaczmarski-Variante:



Auch in Russland gibt es einige unverwüstliche Optimisten, erzählt Maxim Kireev auf Zeit online. Sie demonstrieren in Chabarowsk für einen Gouverneur, Sergej Furgal, den sie gewählt haben, den Putin jetzt aber ins Gefängnis stecken will: "Die jüngsten Proteste in Chabarowsk sind in vielerlei Hinsicht anders als andere Proteste und neu für Russland. Nicht nur, weil die Menschen für Furgal auf die Straße gehen, einen Politiker, der nicht zu der liberalen, prowestlichen Moskauer Opposition gehört. Sondern auch, weil die Proteste diesmal fernab der Hauptstadt eine ganze Region im Bann halten. Kritiker von Wladimir Putin sehen in Chabarowsk nun einen Beweis dafür, dass dessen kürzlicher Triumph beim Verfassungsreferendum nur ein Scheinsieg für Russlands Präsidenten war. Gleichzeitig zeigt der Protest, wie angespannt mittlerweile das Verhältnis zwischen der Hauptstadt Moskau und seinen Provinzen ist - in einem Land, das eigentlich eine Föderation ist, jedoch weitgehend zentralistisch regiert wird. Umso mehr könnte Chabarowsk eine Blaupause sein für künftige Konflikte in den Winkeln des Riesenlandes."
Archiv: Europa