9punkt - Die Debattenrundschau

Wie dämlich sind die, dass die das drucken?

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2018. Reprografien gemeinfreier Werke könnten im Netz bald kaum mehr zu sehen sein: Der BGH hat entschieden, dass Fotografen solcher Bilder ein fünfzigjähriges Schutzrecht zusteht. Netzpolitik und Wikimedia sind entsetzt. Die Debatte um den Fall Relotius geht weiter: Das Probem ist nicht Relotius, sondern der Kult der Schönschreiberei, meint Bernd Ziesemer in Meedia. Ob das Kreuz auf die Kuppel des Humboldt-Forums kommt, ist noch unklar, meint Horst Bredekamp laut Tagesspiegel. Die zu restituierende Kolonialkunst unter diesem Zeichen - das macht die Politk neuerdings nervös.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2018 finden Sie hier

Urheberrecht

Der Bundesgerichtshof hat im Fall Reiss-Engelhorn-Museum versus Wikimedia-Stiftung eine katastrophale urheberrechtliche Entscheidung getroffen, über die in Netzpolitik Leonhard Dobusch berichtet: "Einfaches Abfotografieren gemeinfreier Werke erzeugt Bilder, die 50 Jahre urheberrechtlich geschützt sind." Das Museum hatte gegen die Stiftung, die die Wikipedia betreibt, prozessiert, weil sie ein an sich rechtefreies Richard-Wagner-Porträt aus dem Museum abgebildet hatte (mehr hier im Blog des Marta-Museums, das eine völlig andere Position hat als das Mannheimer Museum). Bilder von Urhebern, die mehr als siebzig Jahre tot sind und an sich frei zirkulieren können müssten, werden nun nicht mehr zugänglich sein: "Und zwar geht das so: unter Verweis auf das Hausrecht wird Museumsbesuchern verboten, selbst ein Foto eines gemeinfreien Werkes anzufertigen. Gleichzeitig sind die vom Museum selbst, zum Beispiel für einen Ausstellungskatalog, in Auftrag gegebenen Scans oder Fotos des Werkes als 'Lichtbild' gemäß § 72 Abs. 1 UrhG für weitere fünfzig (!) Jahre geschützt." Damit hat der BGH die Gemeinfreiheit praktisch abgeschafft.

Auch John Weitzmann und  Lisa Dittmer können im Blog der Wikimedia-Stiftung nicht fassen, "dass auch 1-zu-1-Reproduktionen urheberrechtsfreier Kunstwerke nicht ohne Zustimmung derjenigen gezeigt oder verbreitet werden dürfen, die diese Reproduktionen angefertigt haben." Und sie fordern: "Jetzt ist also der Gesetzgeber gefragt, den allzu pauschalen Paragrafen 72 des Urheberrechtsgesetzes zu reformieren. Denn ob die geistigen Schöpfungen früherer Jahrhunderte auch im Digitalen zu Allgemeingut werden, darf nicht vom guten Willen jedes einzelnen Museums abhängen. Genau das aber ist nach dem Richterspruch des BGH nun der Fall: Wenn ein Museum die von ihm selbst erstellten Digitalisate mit Verweis auf Lichtbildrechte rechtlich unter Verschluss hält und zusätzlich auch von seinem Hausrecht Gebrauch macht und keine Fotografien durch Besucherinnen und Besucher zulässt, gibt es keinen Weg, unser aller kulturelles Erbe so frei zugänglich zu machen, wie es die Gemeinfreiheit dieser Werke rechtlich eigentlich vorsieht."
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Kulturpolitik

Das Kuppelkreuz auf dem Humboldt Forum ist keineswegs sicher, sagt laut Tagesspiegel Horst Bredekamp der Monatszeitschrift "Herder Korrespondenz". Die Nervosität sei bei den politischen Entscheidungsträgern wegen der Kolonialismusdebatte "übergroß," das Kuppelkreuz könne als "Triumphzeichen" gewertet werden und eine neue "Empörungswelle" auslösen.
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Gesellschaft

Wir sind ein säkulares Land und sollten Menschen nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit beurteilen, schreibt in der Welt die Journalistin Cigdem Toprak, die derzeit zum Thema Identitätspolitik promoviert und immer wieder auf "Absurditäten der islamischen Identitätspolitik" stößt: "Das Paradoxe falscher Identitätspolitik ist ja das: Je mehr sie darauf pochen, als Muslim in der Gesellschaft anerkannt zu werden, desto mehr ärgert es sie, wenn sie auf ihre Religion reduziert werden. Und die Gesellschaft? Wir rufen durch die Anerkennung des Islams in unserer Gesellschaft nach Vielfalt und verkennen dadurch die Heterogenität der Muslime. Wie können wir uns Vielfalt für unsere Gesellschaft wünschen, wenn wir die Vielfalt der Communitys missachten? Soziale, wirtschaftliche und politische Kontexte der Menschen muslimischen Glaubens werden ignoriert. Denn auch der islamische Glaube wird in den Herkunftsländern der Migranten unterschiedlich gelebt."

Atheistischen Flüchtlingen wird schlecht geholfen, berichtet Astrid Prange  auf der Website der Deutschen Welle. Oft treffen sie in Flüchtlingsheimen auf genau jene Kräfte, vor denen sie flohen: "Die Angst vor dem Tod begleitet viele Flüchtlinge bis nach Deutschland. Immer wieder sind die ehrenamtlichen Betreuer der Säkularen Flüchtlingshilfe, auch bekannt als Atheist Refugee Relief, damit beschäftigt, insbesondere Frauen vor einer weiteren Verfolgung hier in Deutschland zu schützen. 'Konservative Muslime kritisieren Frauen, die ohne Kopftuch rumlaufen', sagt Betreuer Dittmar Steiner von der Säkulären Flüchtlingshilfe: 'Wir haben es tatsächlich mit Übergriffen, Ausgrenzung, Bedrohungen und Gewalt zu tun.'"

Es gibt ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden, sagt im Dlf-Gespräch mit Sarah Zerback der Publizist und NSU-Experte Tanjev Schultz. Wissenschaftliche Untersuchungen stehen nach wie vor aus, meint er: "Das ist aber nicht so sehr die Schuld der Wissenschaft, die das gerne machen würde, sondern den Zugang kriegt sie dazu nicht, weil Politik und auch die Behördenchefs bisher wenig Interesse gezeigt haben in den vergangenen Jahrzehnten und Jahren, das Ganze systematisch als Problem zu erkennen und anzugehen." Das Bild des Verfassungsschutzes hat sich in der Öffentlichkeit doch schon wieder deutlich verbessert, meint indes im großen SZ-Interview der neue Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang.
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Ideen

Warum muss das Geschlecht eine "so zentrale Kategorie menschlicher Wahrnehmung" sein, fragt die sich selbst als geschlechtsneutral bezeichnende Linguistin Lann Hornscheidt im SZ-Feuilleton und fordert: Könnten wir - nachdem laut BGH nun auch die  Geschlechtszuschreibung "divers" in Personenstandsdokumenten angegeben werden kann - nicht einfach ganz auf Genderzuschreibungen verzichten? "Menschen würden so über ihre Handlungen charakterisiert und nicht über die durch Diskriminierungsstrukturen überhaupt erst geschaffenen Zuschreibungen von Geschlecht, rassifizierten Kategorien, Religion und anderem. Was für eine Erleichterung wäre dies - nicht nur für Personen, die sich nicht als weiblich oder männlich verstehen, sondern für die gesamte Gesellschaft: Genderzuschreibungen und -anrufungen loszulassen und Menschen primär als Menschen wahrzunehmen. Statt über Geschlecht zu sprechen, wäre es dann möglich, über Diskriminierungsstrukturen an den Stellen zu sprechen, wo es um strukturelle Gewalt geht." Sie schlägt unter anderem Formen wie "dex Lesex" vor.
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Medien

Der Fall Relotius (unser Resümee) sorgt für einen gewaltigen Sturm im journalistischen Wasserglas. Relotius hat über Jahre seine Reportagen für den Spiegel und vorher für andere Medien schöngefälscht. Bernd Ziesemer, ehemals Handelsblatt, kritisiert bei Meedia das Genre der "schönen Reportage", das hierzulande am liebsten mit Journalistenpreisen ausgezeichnet wird. Stilbildend sind hier der Reporter-Pool des Spiegel und die Seite 3 der Süddeutschen. Je gefühliger und zarter besaitet ein solcher Text, desto größer die Karrierechancen des Reporters: Und "eine kleine Gruppe von Qualitätsmedien schanzt sich gegenseitig die Journalistenpreise zu, die als Bestätigung ihres eigenen Tuns gelten. Unter vielen Top-Journalisten der Republik herrscht eine Art persönliche Kumpanei, die nicht gut ist für die Branche. Und an einzelnen Journalistenschulen (glücklicherweise nicht allen) steht das Handwerkszeug der harten Recherche weit seltener auf dem Lehrplan als die hohe Kunst der Reportage. Das alles ist von Übel für einen guten Journalismus." Übrigens sei schon Egon Erwin Kisch, nach dem der bekannteste deutsche Journalistenpreis benannt ist, ein Fälscher gewesen.

Im SZ-Gespräch mit Ralf Wiegand erzählt Juan Moreno, der den Fall Claas Relotius aufdeckte, gegen welch dicken Wände -  "Spiegel-Qualitätswände" -  er beim Spiegel anrennen musste, wie aufwändig er recherchierte und wie früh er Verdacht schöpfte: "Damals las ich ein paar Texte. Wer sie mit dem heutigen Wissen liest, wird sich fragen: Wie dämlich sind die, dass die das drucken? Da erzählt ein Zwölfjähriger, wie er vor drei Jahren in einem fensterlosen Viehtransporter fuhr. Welche Frage muss man einem Jungen von zwölf Jahren stellen, damit er diese Antwort gibt? Aber das kommt im Nachhinein, wenn man den Fake kennt." Ullrich Fichtner teilte Moreno schließlich nur mit: "Das System Claas R. bricht zusammen."
 
Der Spiegel muss den Fall öffentlich aufarbeiten, meint Laura Hertreiter in der SZ und fragt: "Wo haben Ressortleiter, Korrekturleser, Faktenchecker geschlampt? Hat sein Arbeitsumfeld Relotius in seinem Tun bewusst oder unbewusst befördert? Ist die auf Journalistenpreisen gründende Aura der Genialität, die Reporter wie Relotius umweht, Teil des Problems? Viele dieser Fragen weisen über den Spiegel hinaus." Im FAZ-Interview verteidigt Cordt Schnibben, selbst lange Mitglied der Jury des Egon-Erwin-Kisch-Preises, die Preisverleihung.
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Geschichte

Uwe Rada besucht für die taz im Märkischen Museum Berlin eine Ausstellung zur langen Wirkung der Novemberrevolution 1918. Verena Lueken hat sich für die FAZ das Legacy Museum und das National Memorial for Peace and Justice in Montgomery angesehen, die beide an die Opfer von Sklaverei und Lynchmorden erinnern.
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Stichwörter: Sklaverei, Memorial

Politik

Fabian Kretschmer schreibt für die taz ein kleines Porträt der 85-jährigen Chinesin Pu Wenqing, die die chinesischen Behörden vor zehn Tagen haben verschwinden lassen. Sie ist die Mutter des kritischen Bloggers Huang Qi, der seit drei Jahren im Gefängnis sitzt: "Am 7. Dezember reiste sie mit dem Zug nach Peking, um sich dort bei den Behörden erneut für die Freilassung ihres Sohnes einzusetzen. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde sie noch in der Bahnhofshalle von Zivilpolizisten umzingelt. In einem Video auf Twitter ist zu sehen, wie die Seniorin auf dem Boden liegend vernommen wird. Sie soll danach auf eine Polizeistation gebracht worden sein. Seither ist ihr genauer Verbleib unklar."

Nach der Demokratisierungswelle in den Achtzigern haben viele Bürger in den lateinamerikanischen Länder den Glauben an die politischen Eliten wieder verloren, schreibt Werner J. Marti in der NZZ. Laut Umfragen des chilenischen Forschungsinstituts Latinobarómetro sinke die Unterstützung der Demokratie als Regierungsform drastisch: "Diese hat zwischen 2010 und 2018 kontinuierlich von 61 auf 48 Prozent abgenommen (Durchschnitt der befragten 18 Länder). In Brasilien (34 Prozent) und Mexiko (38 Prozent) spricht sich nur noch ein gutes Drittel der Befragten für ein demokratisches Regierungssystem aus, in Argentinien sind es noch 58 Prozent. Beunruhigend ist, dass die Unterstützung der Demokratie generell mit abnehmendem Alter sinkt. Noch dramatischere Resultate erhält man, wenn man fragt, ob die Demokratie im eigenen Land zufriedenstellend funktioniere."
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