9punkt - Die Debattenrundschau

Populäre Leidenschaften

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2016. In der Zeit ruft Seyran Ates zur Gründung liberaler Moscheen in Deutschland auf. Die FAZ besucht eine Ausstellung mit holocaustleugnenden Karikaturen im neuerdings wieder so beliebten Iran. Was mit Donald Trump auf den Schultern des Volks heranreitet, ist der Faschismus, und den haben wir der Französischen Revolution zu verdanken, meint Robert Kagan in der Washington Post. Slate.fr freut sich, dass der Papst multikulti ist. Und in der Zeit wünscht BR-Intendant Ulrich Wilhelm den Politikern ein besseres Gehalt, so eins wie seines.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.05.2016 finden Sie hier

Geschichte

Der große Historiker Fritz Stern, Autor einer berühmten Doppelbiografie über Bismarck und seinen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder, ist gestorben. Der Schweizer Historiker Thomas Maissen würdigt in der NZZ, dass Stern vom "apolitischen Selbstverständnis vieler deutscher Wissenschafter abwich, die - mit Max Plancks Worten - das Verhängnis nicht sehen wollten, die Goethes feines Schweigen in ein feiges verwandelten und so am Regime der organisierten Lüge teilhatten." Weitere Nachrufe in der FR (hier), Zeit online (hier), der FAZ (hier), der Welt (hier) und vielen anderen Medien.

In der FR gibt Arno Widmann ein Gespräch mit seinem Sohn über die Kulturrevolution wieder. 1966 hatte er als Zwanzigjähriger Maos Versuch, den neuen Menschen zu schaffen, mit großer Sympathie betrachtet: "Ein sehr unvollkommenes Produkt. Aber doch immerhin, so dachte ich damals, ein erster Versuch, eine Revolution zu revolutionieren. Eine Regierung, die die eigene Abschaffung nicht nur in Kauf nimmt, sondern betreibt. Das fand ich aufregend."

Von der Begeisterung für gewalttätige revolutionäre Bewegungen kann im Tages-Anzeiger auch Andreas Tobler berichten. Es ist nämlich eine Tonbandaufnahme aufgetaucht, auf der Axel Azzola, Verteidiger von Ulrike Meinhof, im vollbesetzten Auditorium der Universität Zürich im Nachruf auf die RAF-Terroristin zum bewaffneten Kampf aufruft: "Vom notwendigen 'Kampf' und der 'totalen Negation des Bürgertums' und seinen Institutionen - 'einschließlich des Rechts' - ist in seinem Vortrag die Rede, also auch von Gewalt und dem 'Einsatz des eigenen Lebens', mit dem man für die Freiheit anderer kämpfen könne - eben wie Meinhof. Das 'bürgerliche Gesetz' habe dabei keine Geltung. Nach Meinhofs Tod könne es sowieso 'nur noch ein Urteil geben', nämlich das der Geschichte. Dies sei 'das einzig Legitime', heißt es am Ende der Rede, die gemäß NZZ für 'Begeisterungsstürme' sorgte. Vier Dekaden später kann man sich ein Urteil bilden - zumindest von Azzolas Zürcher Rede." Hier der Link zur Tonbandaufnahme und einem einleitenden Text von Philipp Messner auf der Webseite der Universität Zürich.

Beim Einblick in die bisher unveröffentlichten Korrespondenzen Albert Speers mit dem damaligen FAZ-Herausgeber Joachim Fest und dem Verleger Wolf Jobst Siedler bietet sich Volker Ullrich "das Bild einer publizistischen Komplizenschaft, wie man sie nicht für möglich gehalten hätte", schreibt er in der Zeit.
Archiv: Geschichte

Medien

Noch haben britische Zeitungen kaum ihre eigene Position zu Brexit offiziell kundgetan, schreibt Alex Spence in politico.eu. Bei den meisten Zeitungen zeichnet sie sich allerdings deutlich ab. "Wenn eine Zeitung sich deutlich für den Brexit ausspricht, dann die Daily Mail, die mit 1,6 Millionen Auflage die zweitgrößte Zeitung Britanniens ist. Ihre euroskeptischen Instinkte sind geschärft, sowohl bei Nachrichten als auch in Kommentaren. Tag für Tag äußert die Zeitung Sorgen über die Kosten der EU-Mitgliedschaft, den Verlust der Souveränität des Vereinten Königreichs und Gesetze, die von nicht gewählten Ausländern formuliert werden." Bei der Sun ist es wohl ähnlich, mit dem Vorbehalt, dass Rupert Murdoch aus ökonomischen Interessen eine andere Tonart vorgeben könnte. Klarster Brexit-Gegner ist der Guardian.

Im Interview mit der Zeit sieht der Intendant des Bayerischen Rundfunks Ulrich Wilhelm nicht so recht, wie er sparen und dabei gleichzeitig innovativ sein soll. Und dann sind da noch die Pensionen und Gehälter, an denen nicht gedreht werden kann, oder? "Ihr Grundgehalt liegt bei 325.000 Euro im Jahr. Der bayerische Ministerpräsident verdient rund 250.000 Euro. Wie passt das zusammen", fragen Götz Hamann und Heinrich Wefing. "Spitzenpolitiker sind, gemessen an den hohen Anforderungen an ihre Ämter, sicher unterbezahlt", antwortet Wilhelm.

Überall wird zur Zeit genussvoll über den visionären Journalisten Alan Rusbridger hergezogen, der den Guardian trotz seiner Leistungen als Chefredakteur auch nicht aus der Verlustzone herausholen konnte. In der Press Gazette wird nun gemeldet, dass eine seiner Erfindungen, das sechsköpfge Investigativteam der Zeitung, geschleift wird.
Archiv: Medien

Europa

In der Zeit antwortet Bernd Ulrich auf Heinrich August Winkler, der Angela Merkels Flüchtlingspolitik kürzlich als naiven Ausdruck "geschichtskompensatorischer Moralüberhebung" gegeißelt hatte. Ulrich vermisst in den Ausführungen Winklers die Realpolitik: "Tatsächlich ist es doch einigermaßen welt­fremd, heutzutage deutsche Politik zu beurteilen, ohne zumindest auch die Frage zu stellen, inwie­weit sie jeweils auf die epochale Veränderung der eigenen Rolle reagiert. Mit anderen Worten: Hät­te Deutschland dasselbe gemacht wie Ungarn oder später Österreich, wäre es nicht dasselbe gewesen. Nicht nur, weil harte Grenzaktionen von Deut­schen in der Weltöffentlichkeit einfach brutaler und damit schädlicher rüberkommen als bei ande­ren. Mehr noch, weil für die sichere Nebenwir­kung einer sofortigen massiven Schließung der Binnengrenzen Deutschland heftiger bezichtigt worden wäre als jeder andere: also das erwartbare ­ Chaos auf jenen beiden europäischen Halbinseln, die ihre Grenzen aus banalen geologischen Grün­den eben nicht einfach so schließen können - Ita­lien und Griechenland."

Muss man die Angst vor Fremden respektieren? Clemens Setz möchte das lieber nicht. Denn Angst beende jede Debatte: "Mir kommt es so vor, als wäre der neue Zauberspruch 'Ich habe halt Angst' das logische Äquivalent zu 'Es ist Gottes Wille' und ähnlichen Formeln. Denn Angst ist, wie Gott, unwiderleg­bar. Sie ist der Endpunkt jeder Diskussion. Man kann einem Menschen ja nicht beweisen, dass er eigentlich gar keine Angst hat. Noch kann man ihm mit Argumenten klarmachen, dass Angst zu haben unnötig ist."

In der NZZ beschreibt Marc Zitzmann, wie das Leben im 11. Arrondissement in Paris nach den Anschlägen weitergeht.
Archiv: Europa

Religion

Lasst uns endlich eine liberale Moschee gründen, ruft Seyran Ates in der Zeit. Denn ein Islam, der Frauen nicht aus dem Gebetsraum verbannt, der Homosexuelle akzeptiert, Rufe nach der Scharia übertönt und den Dialog mit anderen Religionen pflegt, "hat in Europa noch keinen Ort. Es gibt nur die etablierten kon­servativen Gemeinden, die Kritik und Zweifel kaum zulassen. Was fehlt, ist eine liberale Moschee. Dort wäre der Prophet Mohammed kritisierbar, und wir könnten die Reform unserer Re­li­gion diskutieren - über sämtliche islamischen Rechtsschulen hinweg. Warum gibt es diese Moschee nicht?"

In einem Interview hat Papst Franziskus neulich zwar die französische Laizität zunächst gelobt (unser Resümee), aber dann das Lob doch gleich wieder einkassiert und angemerkt, dass es die Franzosen mit dem Säkularismus übertreiben. "Das kommt daher, dass man Religionen als Unterkulturen und nicht als vollwertige Kulturen betrachtet. Ich fürchte, dass dieses Denken, das aus der Aufklärung kommt, auch heute überwiegt." Henri Tincq freut sich in slate.fr über diese Stellungnahme des Papstes und begrüßt seinen "Multikulturalismus": "Wir tauchen hier tief ein in die Debatte über den Laizismus, der die Linke spaltet, diese 'kulturelle und identitäre Schlacht', die, nach Manuel Valls Frankreich nach den Attentaten auf Charlie Hebdo und im November in Atem hält. Dieser Papst vom anderen Ende der Welt hat sein Lager gewählt. Es ist nicht das Lager der 'Ultralaizisten', der 'republikanisch Identitären', wie man jene nennt, die wie der Premierminister dem wachsenden Einfluss der Religionen keinen Zoll des Terrains preisgeben wollen."
Archiv: Religion

Politik

Der in Politiik und Wirtschaft wieder so beliebte Partner Iran lässt sich ideologisch nicht beirren und veranstaltet zur Zeit mal wieder eine von dem Cartoonisten Massoud Schodschai Tabatabai betreute Ausstellung mit antisemitischen und holocaustleugnenden Karikaturen, die Christoph Hein für den politischen Teil der FAZ besucht hat: "Hakenkreuze springen ins Auge, der Torbau von Auschwitz, Skizzen von Juden, die zu Fratzen verzerrt und auf Stereotype reduziert werden. Tabatabai lügt. Wenn er sagt, der Holocaust werde in den Zeichnungen nicht geleugnet, dann ist das fern der Wahrheit. Denn genau dies tun die perfidesten dieser Bilder von Karikaturisten aus Indien oder Indonesien, Iran oder Spanien, der Schweiz, Frankreich, Marokko. Aus Deutschland haben sich drei Zeichner am Wettbewerb beteiligt: Pavel Constantin, Stefan Dierkes, Steffen Jahsnowski. Zu den schlimmsten Machwerken zählt das eines Schweizers: Luca Ionel reiht Szenen von Menschen aneinander, die ihren Kindern vor dem Einschlafen Märchen erzählen - Pinocchio, Schneewittchen, Rotkäppchen."

Auch beim Thema Kopftuch bleibt alles beim Alten, meldet dpa (hier in Meedia): Mannequins, die auf Instagram Mode ohne Kopftuch zeigten, wurden verhaftet: "Im Iran müssen nicht nur alle Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen, sondern in manchen Läden auch die weiblichen Schaufensterpuppen. Modezeitschriften sind nicht erlaubt. Daher werden viele Fashion-Shows im Untergrund veranstaltet."
Archiv: Politik

Urheberrecht

Die kleineren Verlage klagen zwar immer noch über die VG Wort-Entscheidung des BGH, in der sich herausstellte, dass Verlage zu Unrecht einen Teil der Tantiemen einstrichen, aber zu einem Verlagssterben wird es wohl nicht kommen, meint Daniel Bouhs in der taz: "So spricht auch Verleger Dietrich zu Klampen zwar von einer 'Katastrophe' und mahnt: 'Die Zeiten, da die feisten Verleger Champagner aus Totenschädeln ihrer Autoren schlürften, sind schon sehr lange vorbei.' Er lässt aber ebenso mitteilen, dass eine Rückzahlung 'ungefähr fünf Prozent' seines Jahresumsatzes ausmachen würde, einen 'fünfstelligen Betrag' - einmalig und wohlgemerkt nicht ohne Vorwarnung, denn die VG Wort hat zuletzt nicht nur selbst mehr als 90 Millionen Euro zurückgestellt, sondern auch die Verlage mit entsprechenden Hinweisen versorgt."
Archiv: Urheberrecht

Ideen

Ein von Jedediah Purdy neulich benannter Topos konservativen Denkens - überlassen die Eliten die Demokratien dem Volk, wird sie zu eine Tyrannei der vielen degenerieren - findet sich auch in Robert Kagans Denkstück für die Washington Post, das auf Twitter als beste republikanische Abwehrreaktion auf Donald Trump gefeiert wird. Für Kagan lauerte die Tendenz schon in der Französischen Revolution: "Als Alexander Hamilton die Entfesselung der Französischen Revolution beobachtete, fürchtete er für Amerika, was sich in Frankreich abspielte - dass die losgelessenen populären Leidenschaften nicht zu größerer Demokratie führt, sondern nur einem Tyrannen den Weg bereitet, der auf den Schultern des Volks heranreitet. Dieses Phänomen hat sich auch in anderen demokratischen und quasi demokratischen Ländern gezeigt und wird gemeinhin 'Faschismus' genannt." Bestärkt wuird das Phänomen außerdem von naserümpfenden Eliten.
Archiv: Ideen