9punkt - Die Debattenrundschau

Fortschreitende Wiederzerstückelung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2015. Ein offener Brief von prominenten Verlegern und Autoren warnt vor eine Novellierung des Urheberrechts, die Autoren besser stellen will. Neid ist Neid und nicht Antisemitismus meint Arno Widmann in der Berliner Zeitung und stimmt Götz Alys Kritik an den Artikeln über Mark Zuckerberg nicht zu. Deutschland könnte eine liberale Stimme gebrauchen, meint Eric Gujer von der NZZ in der SZ. Der Guardian zieht eine deprimierte Bilanz des Murdoch-Abhörskandals. Die Verfahren sind eingestellt. Die Unholde und -holdinnen sind wieder in Amt und Würden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2015 finden Sie hier

Internet

Wenn in Deutschland übers Netz geredet wird, dann meist kritisch. Konrad Lischka, Autor eines Ebooks zum Thema, sieht es anders und erklärt im Interview mit Dirk von Gehlen bei sueddeutsche.de, warum er das "freie Netz" bewahren will: "Ich will nicht, dass es so ist wie vor zehn Jahren. Ich will mich auf das konzentrieren, was gut war damals, was wir nicht verlieren sollten. Dezentralität gehört definitiv dazu. Sonst hätten wir heute nicht die Vielfalt, an der wir uns erfreuen. Was die Leute heute toll finden am Netz, ist ja eine Folge dieser Infrastruktur."


Detail eines Tempels aus der virtuellen Rekonstruktion von Tempeln für das New Palmyra Project.

Zoë Corbyn schreibt für den Guardian ein sehr schönes Porträt über Bassel Khartabil, einen Protagonisten des freien Internets in Syrien, der von den Schergen Assads ins Gefängnis geworfen wurde und dessen Verbleib seit Oktober unbekannt ist. Lawrence Lessig, Jimmy Wales und andere Kollegen setzen sich mit der FreeBassel-Kampagne für ihn ein: "Für Jon Phillips, einen anderen Freund, hat Khartabils Arbeit eine klare Linie. Ob er Künstler überzeugte, Werke zu teilen, Wikipedia-Artikel ins Arabische übersetzte oder 3D-Designs für das New Palmyra Project programmierte - er 'baute die Kultur seines Landes auf. Für mich ist er ein Künstler, ein Poet, einer der etwas schafft'."
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Urheberrecht

Es ist ganz und gar nicht im Interesse von Autoren, wenn sie sich künftig nach fünf Jahren aus einem Vertrag mit Verlegern lösen dürfen, glaubt man einem von Elisabeth Ruge, Jonathan Landgrebe und Jonathan Beck initiierten Offenen Brief von Verlegern und Autoren gegen die von der Regierung geplante Urheberrechtsreform: "Dieser Gesetzesentwurf schadet allen, nicht zuletzt den Autor*innen", heißt es da gegen die geplante Gesetzesnovelle: "Sie verbessert wenn überhaupt, dann höchstens die Stellung von wenigen Erfolgsautoren, auf Kosten der langfristigen Bindungsfähigkeit vor allem der mittleren und kleinen unabhängigen Verlage. Das dient weder dem Interesse der Autor*innen noch der Bewahrung unserer vielfältigen Kulturlandschaft." Zu den Unterzeichnern gehören neben Verlegern viele Erfolgsautoren wie Navid Kermani, Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke, Peter Sloterdijk, Nora Bossong und natürlich Roland Reuß.
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Ideen

Den Begriff der "Werte" findet Isolde Charim in der Wiener Zeitung sinnlos, denn wir leben ja in einer pluralistischen Welt koexistierender Werte: "Pluralisierung hat zur Folge, dass keiner mehr seine Religion, seine Kultur so leben kann, als ob es keine andere daneben gäbe. Pluralisierung ist die ganz praktische Aufhebung des Absolutheitsanspruchs jeder Religion. Dazu braucht es weder Überzeugung noch Aufklärung. In gemischten Gesellschaften steht jede Religion neben anderen Religionen, jede Kultur neben anderen Kulturen." Und in der Verteidigung der Möglichkeit dieser Pluralität liegt kein Wert?
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Europa

Neid ist Neid und Antisemitismus ist Antisemitismus, meint Arno Widmann in der Berliner Zeitung zur Debatte um die Kritik an Mark Zuckerberg, die Götz Aly als antisemitisch angeprangert hatte (unser Resümee und alle Links): "Es ist kein Antisemitismus, jemanden vorzuwerfen, er spiele ein doppeltes Spiel, er sei ein Heuchler, er solle lieber dort Steuern zahlen, wo seine Firmen das Geld erwirtschaften, statt dort, wo er möglichst wenig Steuern zahlen muss. Man darf das sagen, auch wenn man davon ausgeht, dass alle gesetzlichen Regelungen eingehalten werden... Das alles ist richtig oder falsch, von Neidgefühlen oder von - sagen wir mal - staatsbürgerlicher Verantwortung getrieben. Antisemitisch aber ist es nicht."

Das alte bipolare Modell europäischer Demokratien - Sozialdemokratie versus gemäßigte Rechte - ist dahin: Rechtspopulisten haben sich sowohl in West- als auch in Osteuropa in das Schema gemogelt und stellen es grundsätzlich in Frage, schreibt Michael Braun in der taz: "Der Pakt zwischen den beiden Lagern der Rechten wird zur realistischen Perspektive, der als Alternative nur noch Große Koali­tio­nen gegenüberstünden, Große Koa­li­tio­nen - Österreich zum Beispiel zeigt dies -, die ihrerseits scheinbar den populistischen Vorwurf vom Machtkartell der Etablierten voll bestätigen und darüber von Wahl zu Wahl immer kleiner werden."

Trotz Terrorattentaten in New York, London, Madrid, Paris, Brüssel, Boston, Mumbai, Bali, Mombasa oder Djerba ist die Botschaft muslimischer Terroristen immer noch nicht angekommen. Die Verdrängungsleistung ist einfach phänomenal, meint Henryk M. Broder in der Welt. "Darauf zu setzen, 'dass der aufgeklärte Islam in Deutschland sich nicht zu einem arabischen entwickle', erinnert an die Hoffnungen, es könnte sich außerhalb der Sowjetunion ein aufgeklärter Euro-Kommunismus entwickeln, einer mit menschlichem Antlitz."

Stolz sollten wir sein, dass Europa für viele Flüchtlinge ein Sehnsuchtsort ist, meint die Autorin Olga Flor im Standard. Statt dessen droht wieder Kleinstaaterei, wie sie sich in einem neuen Zaun in Österreich manifestiert: "Der Zaun ist bloß ein Manifest der allgemeinen Ratlosigkeit, doch er kostet Geld, das wahrhaftig besser genutzt werden könnte, und hat unheilvollen Symbolwert. Und zwar für kleinstaatliche Abschottung und die fortschreitende Wiederzerstückelung Europas.
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Religion

In der NZZ liest der Theologe Jan-Heiner Tück ein neues vatikanisches Dokument zum Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum: "Mit erstaunlicher Deutlichkeit weisen [die Autoren] die These von zwei parallelen Heilswegen zurück und geben zu verstehen, dass Jesus, der Messias aus Israel, auch der Messias für Israel sei."
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Medien

(Via turi2) Der Abhörskandal der Murdoch-Zeitungen (in dem Zeitungen zeigten, dass sie Facebook beim Eindringen in die Privatsphäre noch bei weitem übertreffen können) endet nach der Einstellung von Gerichtsverfahren gegen Murdoch und Co., als wäre nichts geschehen, schreibt Jane Martinson im Guardian: "Vier Jahre nachdem sie durch den Skandal zum Rücktritt gezwungen wurde, ist Rebekah Brooks zurück an den Schalthebeln der britischen Murdoch-Zeitungen. Der frührere Mirror-Chefredakteur Piers Morgan feiert unterdessen im Pub, dass die Anklage fallen gelassen wurde - ein Skandal, der eine Kriminalität industriellen Ausmaßes offenbarte, endet mit einem Gefühl der Erschöpfung und der Frage, ob sich irgendetwas verändert hat." Wir finden: Die BBC sollte mindestens noch eine Miniserie aus der Geschichte machen.

Ein hübsches Interview führen Marc Felix Serrao und Charlotte Theile in der SZ mit dem neuen Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, der recht dezidierte Dinge sagt, auch über die Idee, stärker in Deutschland präsent zu sein: Auf die Frage, ob es eine Lücke für den Liberalismus der NZZ in Deutschland gebe, antwortet Gjer: "Ja. Es gibt in Deutschland eine Lücke für eine Stimme, die so deutlich für die Rechte des Individuums eintritt, wie wir das tun." Die Interviewer: "Da würde Ihnen Giovanni di Lorenzo als Chefredakteur der Zeit widersprechen." Und Gujer: "Aber die Zeit hat ein ausgesprochen linksliberales Profil, oder? Wie die Zeit den großstädtischen deutschen Studienrat abholt, das ist hohe Kunst. Wir sind da markwirtschaftlicher orientiert."

Berthold Seliger plädiert in seinem Buch "I Have a Stream" (Vorabdruck im Perlentaucher mit dem ARD-Tagesprogramm vom 6. Januar) für die Abschaffung der Öffentlich-Rechtlichen. Auf die Frage Stefan Brams' von der Neuen Westfälischen, ob man es nicht erstmal mit einer Reform probieren könnte, antwortet er: "Ich bin Realist. Das Staatsfernsehen ist die größte Machtformation im Land und so stark verkrustet, dass ihm mit Reformen nicht mehr beizukommen sein dürfte. Es wäre naiv zu glauben, dass so ein System reformierbar ist."

Der Springer Verlag klagt massiv gegen Adblocker und hat damit zumindest vorläufige Erfolge, berichtet Torsten Kleinz bei heise.de: "Springers Anwälte gehen zweigleisig vor. Während sie einerseits darauf klagen, dass die installierte Adblocker-Sperre auf bild.de nicht umgangen werden darf, versuchen sie für das weiterhin frei zugängliche Portal Welt.de generell den Einsatz von Adblockern zu unterbinden. Hier müssen sie wegen wettbewerblicher Behinderung klagen und nicht, weil ein Schutz umgangen wird."

Außerdem: Ein weiterer Internetgigant kauft eine Zeitung: Die Hongkonger South China Morning Post wird von dem chinesischen Such- und Handelskonzern Alibaba übernommen - der damit laut David Barboza in der New York Times "Medien beeinflussen" will. Im Interview mit der SMCP selbst verspricht einer der Repräsentanten des neuen Eigners, Joseph Tsai, an objektiver Berichterstttung festhalten und die Paywall schleifen zu wollen.
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