9punkt - Die Debattenrundschau

In der Spirale des Ideellen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2015. Im Culturmag wundert sich Wolfram Schütte über einen reichlich unfranziskanischen Papst. Die SZ erklärt, warum Dieudonnés Antisemitismus nicht das gleiche ist wie Blasphemie. In der Zeit benennt Heinrich August Winkler die innere Verwandtschaft zwischen Rechts- und Linkspopulisten in Europa. Und beide lieben Putin, meint auch huffpo.fr. Huffpo.fr erklärt auch, warum Golshifteh Farahani nackt posiert. Und der Guardian freut sich, dass einige der Mädchen, die Boko Haram entwischen konnten, nun wieder studieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.02.2015 finden Sie hier

Europa

Wolfram Schütte wundert sich im Culturmag, dass auf bestimmte Meinungsäußerungen nach den Pariser Attacken so wenig eingegeangen wurde: "Schon hat sich Papst Franziskus, der sich bislang selbst- & kirchen-institutions-kritisch gegeben hatte, ganz unfranziskanisch geäußert, als er "Verständnis" für ein ad corpore gehendes Verhalten annoncierte, wenn "Blasphemie" vorliege. Der "Liebe" predigende katholische Oberhirte hat seine gar nicht einmal klammheimliche Sympathie für die Abstrafung von "Beleidigern" in derben Metaphern ausgedrückt."

Wenn der wegen antisemitischer Hetze angeklagte französische Komiker Dieudonné M'bala M'bala für sich geltend macht, wie die Karikaturisten von Charlie Hebdo wolle er die Leute doch nur zum Lachen bringen, verkennt er den Unterschied zwischen Blasphemie und Rassenhass, meint Alex Rühle in der SZ: "Er bezeichnete das Judentum als "Sekte" und Juden als "Gauner", nannte das Gedenken an den Holocaust "Gedächtnispornografie" und behauptete, der Sklavenhandel sei von Juden organisiert worden, die auf dem Rücken der Schwarzen reich geworden seien. Wenn das witzig sein soll, wo bitte ist die Pointe?"

Heinrich August Winkler weist im Leitartikel auf Seite 1 der Zeit auf die auffällige Gleichgestimmtheit von Rechts- und Linkspopulisten in Europa hin und verweist auch gleich auf den Profiteur, der meist von beiden Seiten innig bewundert wird: "Vom Aufstieg der Populisten wiederum profitiert ein externer Gegner des europäischen Einigungswerkes wie Wladimir Putin. Russlands postkommunistischer Autokrat hat keinerlei ideologische Bedenken, rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Parteien wie dem Front National, der FPÖ, dem antisemitischen Jobbik in Ungarn und der neofaschistischen Goldenen Morgenröte in Griechenland seine Unterstützung angedeihen zu lassen. Alles, was den Zusammenhalt der EU und des Atlantischen Bündnisses schwächt, liegt im russischen Interesse, so wie es der Kremlherrscher auffasst."

Benjamin Abtan, Sprecher des Mouvement Antiraciste Européen, bestätigt Winklers Sorgen in huffpo.fr. Die Unabhängigen Griechen, der Koalitionspartner der Linkspopulisten, treten mit antisemitischen Verschwörungstheorien hervor, schreibt er. Und "die Übereinstimmungen zwischen Syriza und den "Unabhängigen" betreffen nicht nur ihre Gegenerschaft zur Sparpolitik, sondern auch internationale Fragen, und sie besteht vor allem in der Unterstützung von Wladimir Putins Russland. Die "Unabhängigen" unterstützen es aus pan-orthodoxer Solidarität, während Alexis Tsipras sich zum Sprachrohr russischer Propaganda macht, die ukrainische Regierung als Neonazis bezeichnet und die Annexion der Krim und das Scheinreferendum gutheißt."

Anlässlich des Flirts der neuen griechischen Regierung mit Russland referiert der Historiker Ekkehard Kraft in der NZZ die Beziehungsgeschichte der beiden Länder, die trotz der Brücke der Orthodoxie von Asymmetrie geprägt war: "Für die Moskowiter war die rechtgläubige Frömmigkeit der Griechen auch nach dem Ende der ephemeren Kirchenunion mit Rom nicht über jeden Zweifel erhaben. Die Griechen wiederum sahen in den Russen ein starkes und reiches, zugleich aber grobes und ungebildetes Volk, dessen barbarische Frömmigkeit der geistigen Anleitung durch die Griechen bedürfe. "Man läutet in Moskau zwar viel die Glocken, aber sonst gibt es dort nichts", äußert sich im 17. Jahrhundert ein griechischer Bischof abschätzig."

Weiteres: Im Feuilleton der Zeit plädiert der Soziologe Wolfgang Streeck dringend für eine Abschaffung des Euros. Und Clemens Setz fragt sich, ob Bitcoins am Ende gar Griechenland retten könnten. Im Tagesspiegel schlägt Harald Martenstein vor, mit Putin die Ukraine gegen Griechenland einzutauschen. In der Welt fordert Timothy Garton Ash scharfe Sanktionen gegen Russland.
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Gesellschaft

Die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani posiert nackt für die neue Nummer der Schwarzweiß-Hochglanz-Zeitschrift Egoiste. Lauren Provost berichtet in Huffpo.fr: "Im Iran wird Farahani als Rebellin bettrachtet, seit sie in Ridley Scotts Film "Body of Lies" an der Seite Leonardo Di Caprios ohne Schleier aufgetreten ist. Nach dem Start des Films 2008 wurde ihr die Staatsbürgerschaft aberkannt, und sie lebt im Pariser Exil." Nun hat sie für Paolo Reversi posiert, "um sich zu "befreien" und ihre Meinungsfreiheit einzufordern"".

Zentrales Thema im Wahlkampf für die Mitte Februar anstehenden Präsidentschaftswahlen in Nigeria ist die Frage der Sicherheit, berichtet Andra Edozie Nwachi im Tagesspiegel aus dem vom Terror gelähmten Land: "Treffen mit Freunden, der erweiterten Familie oder in größeren Gruppen sind schon länger eingestellt worden. Nigerianer im Norden entspannen sich nicht länger bei Spaziergängen im Park. Sie gehen nach einem langen Tag auch nicht mehr ins Kino, Theater oder in die Kneipe. Das waren früher typische Freizeitaktivitäten der unteren und der mittleren Schichten. Auch die von der Oberschicht frequentierten Nacht- und Gesellschaftsclubs gibt es in den meisten Orten nicht mehr."

Monica Mark erzählt im Guardian die Geschichte einiger der Mädchen, die der Massenentführung von Boko Haram entfliehen konnten und denen nun ein Stipendium zur Fortsetzung ihrer Studien angeboten wurde: "Es zu akzeptieren, wäre ein Widerstandsakt gegen Boko Haram, denn die Sekte hat wiederholt gewarnt, dass sie die Familien der Schülerinnen und Studentinnen töten würden. Es war eine Chance und ein Risiko." Und die Mädchen haben auf die Chance gesetzt (auch wenn das total respektlos gegenüber Boko Haram ist).
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Religion

"Die Präventionsangebote müssen verstärkt werden. Sonst geht ein Extremist ins Gefängnis, und mehrere kommen raus", wirbt Thomas Mücke, Sozialpädagoge und Geschäftsführer des Violence Prevention Network, im Gespräch mit Sabine am Orde in der taz um Deradikalisierungstrainings für Dschihadisten. Ebenfalls in der taz meldet Rudolf Balmer, dass in Frankreich bereits daran gearbeitet wird, die Zahl der muslimischen Seelsorger in den Gefängnissen zu erhöhen, was das laizistische Land allerdings vor Probleme stellt: "Da die weltliche Republik keine religiösen Aktivitäten finanzieren darf, erhalten sie keinen Lohn, sondern nur eine pauschale Kostenentschädigung von 900 Euro pro Monat. Freiwillige Kandidaten sind Mangelware. Zudem stellt aus staatlicher Sicht ihre Ausbildung ein Problem dar. Die Gewerkschaften der Gefängnisaufseher haben in der Vergangenheit vor "Seelsorgern", die selber sehr radikale Thesen hätten oder vereinzelt sogar den Dschihad propagiert hätten, gewarnt."
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Kulturpolitik

In der FAZ unterhält sich Andreas Rossmann mit dem greisen Bankier Ludwig Poullain, der einst für West LB und das Land NRW Kunst kaufte und nun den Streit über den Verkauf von Kunst in NRW beobachtet: "Zwischen den beiden Parteien herrscht eine unauflösbare Sprachverwirrung. Die Bewahrer reden in der Spirale des Ideellen, die anderen, die die Schätze zu Geld machen wollen, sprechen in Euro und Dollar. Ihre Sprachen sind nicht kompatibel."
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Internet

Auch hierzulande wird gern über Anonymität im Netz gemeckert. In China sieht man jetzt laut einem Bericht von heise.de die Folgen: "Ab dem ersten März diesen Jahres sollen chinesische Internetdienste eine Pflicht zur Registrierung mit Klarnamen und persönlichen Angaben durchsetzen. Das geht aus einem Bericht der South China Morning Post hervor. Die Unternehmen stellt dies vor große Probleme, wird ihnen mit diesem Schritt doch die Aufgabe zuteil, die Identität und die persönlichen Angaben von rund 650 Millionen chinesischen Internetnutzern zu verifizieren."

Die europäische Institutionen sind noch nicht zufrieden mit dem "Recht auf Vergessen". Da Google bisher nur auf europäischen Subadressen wie google.fr oder google.de Suchresultate eliminiert, fürchtet das Editorial Board der New York Times Weiterungen: "Europäische Regulatoren und Richter fordern Google und andere Firman auf, Links, die unter Berufung auf das "Recht zu vergessen" eliminiert wurden, von allen Suchergebnisseiten in allen Ländern zu streichen, egal wo die Suche stattfindet. Dies würde es Europäern erlauben zu entscheiden, welche Informationen Bürgern anderer Länder zugänglich gemacht werden."
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Überwachung

Constanze Kurz wirft in Netzpolitik einen Blick auf das Privacy and Civil Liberties Oversight Board (PCLOB) in den USA und ist enttäuscht: "Ein Jahr ist jetzt vergangen, seit Barack Obama wenigstens für amerikanische Inländer versprochen hatte, Geheimdienst-"Reformen" einzuleiten. Die neuen Empfehlungen des PCLOB hin oder her, keine der bisherigen Reformen beschneidet auch nur die Massenüberwachung inner-amerikanischer Kommunikation." Auch Cory Doctorow kritisiert Obamas Überwachungspolitik in Boingboing.

"Anstatt sich darauf zu konzentrieren, die Nadel zu finden, vergrößern sie einfach den Heuhaufen", beschreibt der ehemalige NSA-Direktor und Whistleblower Bill Binney im Gespräch mit Martin Kaul (taz) die gegenwärtige Strategie der allumfassenden Überwachung: "Wenn Daten wertvoll sein sollen, müssen sie bedeutsam und handhabbar sein. Wenn Sie zu viele unstrukturierte Datensätze haben, blicken sie später nicht besser durch, sondern schlechter. In den US-Geheimdiensten sind dafür inzwischen 20.000 Analysten eingestellt... Die analysieren sich vor allem durch den Datenmüll von Millionen von Menschen. Das kostet Milliarden an Steuergeldern. Wenn das Geld, das für diese Leute ausgegeben wird, gezielter und klüger verwendet werden würde, wären die Probleme mit dem internationalen Terrorismus wesentlich kleiner."
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