9punkt - Die Debattenrundschau

Moment der Irritation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2023. Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat bislang mehr als 2.000 Menschenleben gefordert. Da legen selbst die Türkei und Griechenland ihre Streitigkeiten beiseite, berichtet die taz. In Russland zieht Putin gerade seine ganz eigene Perestroika durch, erklärt Viktor Jerofejew in der FAZ. Frankreich ist dann das letzte kommunistische Land, spottet der Historiker Stephane Courtois in der FAZ. Im Iran jagen 15-jährige Mädchen die alten Männer aus ihrer Madrassa, freut sich Srdja Popovic in der taz. Die Welt wüsste gern von Claudia Roth, wessen Kultur denn als Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben werden soll: Die der 10 Prozent oder die der 90 Prozent?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2023 finden Sie hier

Europa

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat bislang mehr als 2.000 Menschenleben gefordert. Selbst im Libanon war das Beben zu spüren. Da legt man alte Streitigkeiten beiseite, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz: "Erdoğan bat die Partner in Nato und EU um Feldlazarette und Zelte für Erstunterkünfte. Außerdem seien Rettungsteams sehr erwünscht. Mit als Erste meldeten sich trotz der Spannung zwischen den beiden Ländern die Griechen und sagten ihre Unterstützung zu. Auch Israel, mit dem die Türkei gerade erst wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen hat, sagte sofort Hilfe zu. Mittlerweile sind Rettungsmannschaften aus zehn EU-Ländern unterwegs, auch Deutschland sagte Hilfe zu. Wie das Auswärtige Amt ankündigte, will man mithilfe des Malteser-Hilfsdienstes auch die Menschen in der syrischen Aufstandsprovinz Idlib unterstützen. Idlib ist die letzte syrische Provinz, die noch von islamistischen Rebellen kontrolliert wird."

Nordwestsyrien ist zur Zeit eh schon auf Hilfe angewiesen, erklärt im Interview mit der taz Bahia Zrikem von der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council für Syrien: "Dass humanitäre Hilfe bereits koordiniert ist, ist ein Vorteil, es kann jetzt schneller gehandelt werden. Das Problem ist aber, dass Syrien zurzeit sowieso durch die schlimmste humanitäre Krise der vergangenen zwölf Jahre geht (seit Ausbruch des Kriegs 2011, d. Red.). 15 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Dieses Beben erhöht den Grad der Zerstörung und der Hoffnungslosigkeit in einem Maße, das die Syrer*innen wirklich nicht brauchen."

"Sie können es glauben oder nicht, aber Putin hat sich daran gemacht, in Russland seine eigene Perestroika durchzuziehen, und das ziemlich radikal, fast möchte man sagen, mit rationaler deutscher Konsequenz", versucht der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew den irren Krieg Putins zu erklären, der in den Auge des Westens nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. "Während Gorbatschow sich in Richtung Aufbau eines europäischen Staates mit den entsprechenden Rechtsnormen bewegte, in diesem Sinne nolens volens die sowjetischen Machtstrukturen schwächte und den Zerfall des sowjetischen Staates vorbereitete, haben wir es jetzt mit dem entgegengesetzten Phänomen zu tun. Putin befasst sich seit Beginn seiner Regierungszeit mit der Wiederherstellung der autokratischen Machtstruktur, die dem zaristischen Russland wie auch dem Stalinismus gleich nahe ist. Die Autokratie - das ist nicht nur der oberste Herrscher auf dem realen oder imaginären Thron, das ist die gesamte Pyramide der Macht, aufgebaut auf einem autokratisch servilen Prinzip. Im bürokratischen System ist jeder Bürokrat ein kleiner Autokrat und Zarendiener. Die autokratische Staatsmacht hat jede politische Initiative der Bevölkerung abgewürgt. Aus genau diesem Grund verläuft Putins Perestroika genau andersherum, das heißt spiegelverkehrt zu der von Gorbatschow, äußerst erfolgreich."

Trotz mehrerer Korruptionsskandale bleibt der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow im Amt, aber geändert hätte ein Rauswurf ohnehin nichts an der "notorischen Korruption", meint Florian Hassel in der SZ: "Generell ist das Problem Korruption in der Ukraine systemisch verankert und nicht an einzelnen Personen festzumachen. Die oft miserablen Gehälter der Regierungsmitarbeiter, fantastische Möglichkeiten der Bereicherung dank feudal anmutender Netzwerke im gesamten Staatsapparat, eine immer noch weithin korrupte Justiz und der fehlende politische Wille - all das sind die Zutaten, welche die Korruption in der Ukraine weiter blühen lassen. Besonders anfällig waren schon vor dem Krieg die Armee und das Verteidigungsministerium, der Geheimdienst und die anderen Sicherheitsdienste, weil die Geheimhaltung oft grotesk weitreichend ausgelegt worden ist. Doch wie aktuelle Skandale in Militärverwaltungen, Finanzämtern oder beim Zoll zeigen, gedeiht die Korruption auch in anderen Bereichen weiter. Das widerlegt den von der Ukraine verbreiteten Optimismus, der allein der Sehnsucht nach einem baldigen EU-Beitrittsverfahren geschuldet ist: in einem Staat, der im Krieg steht und ums Überleben kämpft, gebe es keine korrupten Staatsdiener mehr."
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Gesellschaft

Gottseidank, das Bundesverfassungsgericht hat das Berliner Neutralitätsgebot gekippt, jubelt Daniel Bax in der taz. Das Kopftuch einer Lehrerin kann jetzt nur noch im Einzelfall verboten werden, wenn der Schulfrieden gefährdet ist. Heute "unterrichten in mehreren Bundesländern an staatlichen Schulen muslimische Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen. Der Schulfrieden wird dadurch nicht gestört - außer durch intolerante Eltern oder Kolleg:innen, die damit ein Problem haben. Die Schreckensszenarien haben sich nicht erfüllt, die moralische Panik war unbegründet. Natürlich dürfen Lehrkräfte nicht missionieren. Das gilt aber nicht nur für muslimische Lehrerinnen und das war auch schon immer so. Bisher ist auch nicht bekannt, dass Schüler:innen beim Anblick eines Kopftuchs spontan zum Islam konvertiert wären." Die Mädchen, die vor den Mullahs im Iran, Afghanistan und anderen erzreaktionären muslimischen Ländern nach Deutschland geflüchtet sind, werden begeistert sein.
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Politik

Im Interview mit der taz erklärt Srdja Popovic, der mitgehofen hat in Serbien Milosevic abzusetzen, wie die Iraner ihre Revolution befördern können: Vor allem müssten sie noch "eine Strategie und gemeinsame Vision" finden, meint er. Dennoch setzt er große Hoffnungen in die Widerstandsbewegung: "Ein wichtiger Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Einem Regime, das von 80-jährigen Männern geführt wird, steht eine Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren gegenüber. Die Mullahs versuchen, ihrem Volk die Geschichte der Revolution von 1979 zu verkaufen - da waren die meisten noch nicht mal geboren. Mit dem Beginn der Proteste haben viele Menschen im Iran, vor allem junge Frauen, zum ersten Mal Freiheit gespürt. Und wenn man diese einmal erlebt hat, besonders in jungen Jahren, wird sie zu einer sehr süchtig machenden Droge. Wenn 15-jährige Mädchen einen alten Regimeangestellten aus ihrer Madrassa jagen, aus ihrer religiösen Schule, kann man ihnen vielleicht noch mit roher Brutalität Angst einjagen. Aber was wird passieren, wenn sie 16, 18, oder 30 Jahre alt sind? Selbst wenn das Regime diese Schlacht gewinnt, bin ich mir sicher: Es wird den Krieg verlieren."
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Stichwörter: Iran, Serbien

Geschichte

Jürg Altwegg besucht in Paris für die FAZ den Historiker Stéphane Courtois, Herausgeber des "Schwarzbuchs des Kommunismus" und jetzt des "Schwarzbuchs Putin", für eine Plauderei: "Courtois unterstreicht Stalins Popularität und Prestige im Nachkriegsfrankeich, als die Kommunisten die stärkste Partei waren. Die Geschichtsschreibung wurde von marxistischen Historikern beherrscht, sie zogen eine direkte Linie von der Französischen zur Russischen Revolution. Mit ihrem Katechismus brach erst François Furet. Doch von der Organisation der Zweihundertjahrfeiern 1989 wurde er 'ausgeschlossen': 'Ich sage immer: Wir bleiben das letzte kommunistische Land'", verrät ihm Courtois.

In der NZZ zeichnet Herfried Münkler nochmal ausführlich nach, wie Putin den "Großen Vaterländischen Krieg" geschichtspolitisch verklärt und instrumentalisiert, um den Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren: "Was die jüngsten russischen Feiern zum 'Großen Vaterländischen Krieg' und zu der Schlacht von Stalingrad anbetrifft, so gibt es zwei eklatante Auslassungen: den Umstand, dass es nicht nur Russen waren, von denen die Stadt an der Wolga verteidigt und der Gegenangriff zur Einkesselung der Angreifer vorgetragen wurde, sondern dass daran auch Ukrainer beteiligt waren, die obendrein in diesem Krieg den höchsten Blutzoll entrichtet hatten. Und des Weiteren den Umstand, dass Hitler und Stalin von 1939 bis 1941 Spießgesellen gewesen waren, die Polen unter sich aufgeteilt und das Baltikum der Sowjetunion zugesprochen hatten."
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Kulturpolitik

Von Claudia Roths Plan, "Kultur als Staatsziel" im Grundgesetz zu verankern, halten Dieter Haselbach, Direktor des Zentrums für Kulturforschung in Berlin und Peter Matzke, Geschäftsführer des Krystallpalast Varieté in Leipzig in der Welt wenig. Denn gemeint seien ohnehin nur jene kulturellen Praktiken, die Gegenstand staatlicher Förderung sind. "80 bis 90 Prozent der produzierten, vertriebenen und konsumierten Kunst werden, in einer vorsichtigen Schätzung, privatwirtschaftlich auf einem Konsumentenmarkt angeboten und realisiert. Anders formuliert: Die Teilhabe am staatlich geförderten kulturellen Reichtum der Gesellschaft erreicht nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Die meisten Menschen werden ausgegrenzt, weil ihre kulturellen Bedürfnisse bei der Verteilung kulturpolitischer Fördergelder ignoriert werden. Vor diesem Hintergrund sind, wenn emphatisch 'Kultur ins Grundgesetz!' gefordert wird, der Konsum von Kunst und die künstlerische Produktion von Mehrheiten gar nicht gemeint. Vielmehr geht es darum, als Staatsziel den Erhalt der existenten Strukturen und Inhalte festzuschreiben. Es geht um eine Musealisierung vorhandener Strukturen, nicht darum, Veränderung in der Gesellschaft wie in Kunst und Kultur in der Förderpraxis zu berücksichtigen."

Gegen eine kritische Kontextualisierung der Hamburger Bismarck-Statue hat Hamburgs Senator für Kultur und Medien Carsten Brosda (SPD) in der SZ nichts einzuwenden, eine Entfernung hält er allerdings für falsch: "Würden wir alle zweifelhaften Ehrungen und Denkmäler aus dem Stadtraum entfernen, bestünde die Gefahr, dass wir uns auch der Anlässe solcher Fragen entledigten. Der Moment der Irritation nach dem Aufwachen, den Golo Mann als so wirksam beschreibt, entfiele. Die öffentlichen Oberflächen wären glatter und unangreifbarer, sie würden kaum Halt und Haftung für notwendige Auseinandersetzungen schaffen. Es gäbe weniger Kritik und Kontroverse. Aber es gäbe eben auch weniger Chance zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung und zum humanen Fortschritt."
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Medien

Am Beispiel der Nachrichtenseite CNet, die monatelang von Künstlicher Intelligenz erstellte Texte veröffentlicht haben soll, erklärt Nina Rehfeld in der FAZ, wo es mit dem Journalismus künftig hingehen könnte: CNet war 2020 von dem Unternehmen Red Ventures gekauft worden. "Dessen Geschäftsmodell besteht darin, Leser mit bestimmten Interessen direkt in die Arme von Konzernen zu leiten, die entsprechende Produkte anbieten. Einem Artikel über die Vorteile unterschiedlicher Kreditkarten zum Beispiel, der dank optimierter Stichworte in der Google-Suche nach 'Kreditkarten' ganz oben rangiert, sind die Werbeangebote von Kartenanbietern beigestellt, die hohe Kommissionen für die Vermittlung neuer Kunden bezahlen. ... Die New York Times hatte Red Ventures im vergangenen August als den 'größten digitalen Medienkonzern in Amerika, von dem Sie noch nie gehört haben', beschrieben. Das Unternehmen hat sich in den vergangenen Jahren Ratgeber-Publikationen wie den Reiseführer 'Lonely Planet', die Medizin-Website 'Healthline' oder das Punkte- und Meilensammler-Magazin 'The Points Guy' einverleibt. Inzwischen ist Red Ventures der Times zufolge ein Milliardenunternehmen mit rund 750 Millionen monatlichen Besuchern auf den konzerneigenen Websites, welche ihre ratsuchenden Leser mit relevanten Konzernen in Kontakt bringt."

Die öffentlich-rechtlichen Sender wollen nun mehr kooperieren, geplant ist auch mehr gemeinsame Verwaltung in den Sendern, mehr digitale Transformation, mehr Regionalität und bessere Führungskultur, schreibt Claudia Tieschky in der SZ. Im Grunde aber müssten die Länder den Rundfunk "radikal verkleinern, Sender streichen, Strukturen aufbrechen" - digital ist die föderale Struktur der ARD ohnehin längst einem "mächtigen und sinnvollen Zentralismus gewichen", so Tieschky weiter: "Wenn man die ARD also einmal so betrachtet, wie sie heute wirklich ist, dann fällt auf, dass neun Intendantinnen und Intendanten mit jeweils eigener Geschäftsführung und Verwaltung immer weniger wichtig sind und immer weniger zu den Strukturen passen, die die ARD selber im Digitalen aufbaut. Mehr Zentralismus, vielleicht sogar eine Holdingstruktur mit Landesstudios statt eigenen Sendern - das stünde absolut nicht im Widerspruch zu einem sinnvollen Dritten Programm und zu mehr regionalen Inhalten."
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