9punkt - Die Debattenrundschau

Projizierter Selbsthass

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.02.2023. Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht rufen auf, die Ukraine aus "Solidarität" nicht mehr mit Waffen zu unterstützen, es gelte Schaden vom deutschen Volk abzuwenden - der Tagesspiegel erkennt auf ein "koloniales Mindset ". Thomas Knüwer kommt in seinem Blog auf die Schleifung von Gruner und Jahr zurück: Die Katastrophe hat er seit bald zwanzig Jahren angesagt. Der Medienforscher Wolfgang Schulz sieht in der Künstlichen Intelligenz und in ChatGPT durchaus Chancen. Nochmals im Tagesspiegel fragt Tanja Dückers nach den Ursachen des deutschen Antiamerikanismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.02.2023 finden Sie hier

Europa



Sie haben es wieder getan. Zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns appellieren Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, aus "Solidarität" mit der Ukraine die Unterstützung durch Waffenlieferungen einzustellen. Das Foto ist ein Screenshot aus dem Video, mit dem die beiden ihren Appell auf Twitter annoncieren. Darin heißt es: "Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!" Sonst drohe die "Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg", es gehe jetzt auch darum Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Unterzeichnet haben etwa Jürgen Todenhöfer und Ulrike Guérot. AfD-Chef Tino Chrupalla gehört nicht zu den Erstunterzeichnern, erklärte aber auf Twitter seine Unterstützung für den Aufruf.

Die beiden rufen am 25. Februar zur Demo am Brandenburger Tor auf, also einen Tag nach der Demo, zu der eine Gruppe um Ralf Fücks einlud, und die am am Brandenburger Tor enden soll. Es wird also zu einer Art Wettstreit der Solidaritätsbegriffe kommen. Fücks und seine Unterstützer wie Karl Schlögel, Katharina Raabe, Gerd Koenen und andere Intellektuelle schreiben: "Wir dürfen nicht zusehen, wie ein europäisches Land, das für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft, vernichtet wird. Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität mit der Ukraine, sondern unserer eigenen Sicherheit, unserer Werte und unserer Selbstachtung. Waffen sind das eine. Gleichzeitig braucht die Ukraine massive finanzielle und technische Hilfe. Nicht zuletzt müssen die politisch Verantwortlichen für die russischen Kriegsverbrechen auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden."

Der Aufruf Schwarzers und Wagenknechts hat die zu erwartende Flut an Reaktionen ausgelöst. Cornelius Dieckmann kritisiert im Tagesspiegel vor allem, dass es zum demokratischen Einmaleins gehöre, "keine Forderungen über von Unrecht betroffenen Gruppen hinweg zu stellen. Das ist eine der zentralen Lehren des 20. Jahrhunderts.... Ein koloniales Mindset wohnt solchem Denken inne: Wir wissen, was für euch am besten ist. Auch aus Wagenknechts und Schwarzers Forderung spricht der vergnügte Ton der Bevormundung." In der Ukraine gaben nämlich 95 Prozent der Befragten an, "ein Waffenstillstand sei für sie inakzeptabel, solange russische Truppen auf ukrainischem Gebiet sind". In der taz schreibt Jan Feddersen: "Dieser Aufruf ist so empörend falsch, weil er die Angegriffenen obszön moralisch ins Unrecht stellt - und obendrein ihre westlichen Freund*innen, die Staaten der Nato etwa."

Ach, und in Berlin waren Wahlen. In der taz bringt karl das Ergebnis auf den Punkt:

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Ideen

Die Autorin Tanja Dückers konstatiert im Tagesspiegel die charakteristische Nähe zwischen AfD und Linkspartei in Äußerungen zum Ukrainekrieg. Die antiamerikanischen Argumentationsfiguren seien allerdings "in nuancierter Form bis weit in die bürgerliche Mitte zu finden. Eine Reihe führender Intellektueller und Politiker halten Russland im Ukrainekrieg für ein Opfer der USA. Doch woher kommt die krude Vorstellung?" Dückers' Antwort: "Heute schwanken die Deutschen zwischen konsumbefriedigter Behaglichkeit und miesepetrig-moralisierender Besserwisserei. Die USA sind so etwas wie der große ungeliebte Halbbruder. Die USA abzulehnen, ist bis zu einem gewissen Grad projizierter Selbsthass."
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Stichwörter: Antiamerikanismus, AfD

Geschichte

"Die Aufarbeitung protestantischer Mittäterschaft im 'Dritten Reich' ist auch neunzig Jahre nach der 'Machtergreifung' nicht beendet", schreibt der Historiker Manfred Gailus im Tagesspiegel - er legt gerade das Buch "Im Bann des Nationalsozialismus - Das protestantische Berlin im Dritten Reich" vor. Mit den Nazis etablierten sich die "Deutschen Christen" und forsteten eifrig die Kirchenbücher nach Nichtariern durch. "Erst zeitverzögert formierte sich gegen diese völkische Welle eine Opposition - nicht gegen das NS-Regime als solches, sondern gegen die Herrschaft der DC in der Kirche. Diese Opposition konstituierte sich im Laufe des Jahres 1934 als Bekennende Kirche (BK). Fortan lähmte die Hauptstadtkirche ein 'Bruderkampf im eigenen Haus': über die Hälfte aller Gemeinden war gespalten, dort tobte verbissener Streit zwischen DC und BK; ein Viertel war vollständig nazifiziert und nur wenige Gemeinden wie Dahlem widerstanden dem Vormarsch völkischer Christen."
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Stichwörter: Evangelische Kirche

Religion

Warum stören sich die Leute am Kopftuch muslimischer Richterinnen, während gleichzeitig Kreuze in den Gerichtssälen hängen, fragt Ronen Steinke in der SZ, kommt aber nicht auf die Idee, dass vielleicht beides falsch sein könnte: "Ich frage mich manchmal, wenn ein Angeklagter auf die Richterbank vor ihm blickt und hinter den Richtern das Symbol des Kreuzes sieht, ob es nicht eigentlich umgekehrt viel logischer wäre. Eine Richterin mit Kopftuch: Das wäre ein Anblick, bei dem ihm wahrscheinlich trotzdem noch klar bliebe, dass dies nur eine Richterin unter vielen ist, nicht 'die' Justiz. Symbole an den Wänden hingegen repräsentieren eher die Justiz insgesamt."
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Medien

Thomas Knüwer kommt in seinem Blog Indiskretion Ehrensache auf die Schleifung von Gruner und Jahr zurück und kann zurecht von sich behaupten, schon vor 15 Jahren gewarnt zu haben. Die jetzige Katastrophe ist jedenfalls das Ergebnis jahrzehntelanger eitler Untätigkeit, so Knüwer. Darin manifestiere sich eines der Probleme der Branche: "Sie findet sich selbst derartig geil, das Veränderungen praktisch unmöglich sind." Knüwer belegt, wie oft er seit bald zwanzig Jahren Internetstrategien einforderte: "Vielleicht ist meine Meinung da ja Blödsinn, genau wie meine oben verlinkten Artikel. Nur: Es gab wenig Gegenargumentation. Die Reaktion von Verlagsangehörigen auf diese Stücke teilte sich in jene auf, die sie pauschal abtaten und jene, die behaupteten, es gehe der Branche doch wunderbar, man müsse nichts ändern."

Knüwer zitiert auch einen Perlentaucher-Artikel des unvergessenen Robin Meyer-Lucht aus dem Jahr 2008, der damals über Medienhäuser wie Gruner und Jahr schrieb: "Sie stehen wie altbackene Warenhäuser oder etwas fettig riechende Kantinen in einem sich rasant entwickelnden Umfeld. Sie haben damit ein Qualitätsproblem nicht nur in den Augen ihrer professionellen Kritiker, sondern vor allem auch in den Augen ihrer Nutzer." Meyer-Luchts Kolumen im Perlentaucher kann man hier nachlesen.

In der SZ berichtet Anna Ernst heute, dass unter all den gecancelten Magazinen Geo Epoche vielleicht doch noch eine Chance gegeben war, weil der Ableger von Geo profitabel sei.
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Stichwörter: Gruner und Jahr

Internet

Im Interview mit der taz sieht der Medienforscher Wolfgang Schulz keinen Anlass für Weltuntergangsphantasien, bloß weil KI jetzt Text kann. Könnte ja auch was Gutes dabei rauskommen, meint er. "Grundsätzlich hat eine neue Technologie immer ein großes Potenzial für den Markt. Denn kleine Unternehmen bekommen eine Chance, die großen mit ihren teilweise monopolartigen Strukturen in Bedrängnis zu bringen. Es ist also eine Chance auf Wettbewerb, und das ist gut für die Gesellschaft und die Wirtschaft. ... Aus meiner Sicht muss man zwei zentrale Punkte festhalten, wenn man sich auf den Vergleich Mensch-Maschine überhaupt einlassen und ihr Verhältnis klären will. Das eine ist die Körpergebundenheit menschlicher Intelligenz, also dass sie immer auch mit unserem Fühlen, Leiden, mit unserer Körperlichkeit verbunden ist. Und das Zweite: Wir sind soziale Wesen und vieles von dem, was wir machen, hat mit Erfahrungen zu tun, die wir mit anderen Menschen gemacht haben. Was daraus an Handlungen resultiert, kann ein technisches System vielleicht versuchen vorherzusagen. Aber ihnen fehlt diese Erfahrung. Ich habe im Augenblick wenig Anhaltspunkte für Weltuntergangsdystopien. Ich glaube aber auch grundsätzlich eher an positive Effekte neuer Technologien."

Auch Mark Siemons möchte ChatGPT - so heißt die Software, die Texte erstellen kann - in der FAS nicht verteufeln. Chancen sieht er auch in neuen Fragen, die sich Menschen stellen können. Etwa im Sinne des amerikanischen Dichters Wallace Stevens, der einst notierte: "'A poem should stimulate the sense of living and of being alive.' ... Erst wenn Informationen wieder auf Materie, auf körperlich vermittelte Erfahrung, zurückgeführt werden, besteht die Chance, sie aus den Fängen der Verwertungsmaschinerie herauszulösen. So kann das Selbstverständlichste etwas geradezu Rebellisches bekommen, einfach weil es durch die zur Gewohnheit gewordene Fixierung auf die Möglichkeiten der Apparate fast aus dem Blickfeld geraten ist."
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Gesellschaft

Motoko Rich und Hikari Hida porträtieren in der New York Times den in Yale lehrenden Ökonomen Yusuke Narita, der Karriere in den sozialen Medien machte, indem er die älteren Japaner zum Selbstmord aufruft - um dem Problem der japanischen Demografie zu begegnen. Seine Popularität, gerade unter jüngeren Japanern, sehen sie als Symptom: "Eine wachsende Gruppe von Kritikern warnt davor, dass die Popularität von Dr. Narita die öffentliche Politik und die sozialen Normen unangemessen beeinflussen könnte. Angesichts von Japans niedriger Geburtenrate und der höchsten Staatsverschuldung in der entwickelten Welt machen sich die politischen Entscheidungsträger zunehmend Sorgen darüber, wie Japans wachsende Pensionsverpflichtungen zu finanzieren sind. Das Land hat auch  mit einer wachsenden Zahl älterer Menschen zu kämpfen, die an Demenz leiden oder allein sterben."
Archiv: Gesellschaft