9punkt - Die Debattenrundschau

Ich als weißer Generaldirektor

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2023. In der SZ analysiert der Historiker Volker Weiß nationalreligiöse Strömungen, die in Israel, aber auch etwa in Indien oder der Türkei die Politik kapern. In der FAZ denkt Omer Bartov über den Kontext von Populismus und Korruption nicht nur in Israel nach. Populismus findet der Religionssoziologe Alexander-Kenneth Nagel auch in der neuen Klimabewegung, wie er in der taz darlegt. Im Spiegel beschreibt die Journalistin Anuschka Roshani einen Abgrund sexistischen Machtmissbrauchs im Zürcher Tages-Anzeiger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.02.2023 finden Sie hier

Europa

Putin hat im Rahmen seines Kriegs gegen die Ukraine auch die russische Verfassung ändern lassen. In der Verfassung werden Teile der Uklraine als "russisch" benannt, die er noch nicht mal zu erobern vermochte. Der Politologe Andreas Umland macht in der NZZ darauf aufmerksam, was für ein Hindernis dies für die von manchen so herbeigesehnten Friedensverhandlungen wäre: "Russlands Grundgesetz sieht vor, dass das russische Staatsoberhaupt als Garant der Föderationsverfassung eine zusätzliche Besetzung anstreben muss. Ein offizieller russischer Verhandlungspartner wäre per Gesetz verpflichtet, darauf zu bestehen, dass Kiew weitere ukrainische Gebiete an Moskau abtritt, um den Text der russischen Verfassung mit den politischen Realitäten vor Ort in Einklang zu bringen."

Zehn Jahre gibt's jetzt die AfD. Wie konnte sie sich so lange halten? Daran sind die FDP, Thilo Sarrazin, die CDU und die Medien schuld, ist Gideon Botsch vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam, im Interview mit der taz fest überzeugt. Dass sich die Wählerschaft der AfD in diesen zehn Jahren geändert hat, ist ihm allerdings aufgefallen: "Das ist tatsächlich ein radikaler Wandel: Die Wähler der AfD heute sind nicht mehr Wähler der Gründungsphase: Am Anfang war die AfD eine Eliten- und Wohlstandspartei. Mittlerweile wird sie hauptsächlich vom unteren Mittelstand und unteren Sozialschichten gewählt." Warum Sozialdemokraten und Linke Teile dieser Wählerschicht verloren haben könnten, erklärt er nicht.
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Kulturpolitik

Christoph Martin Vogtherr, Chef der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, macht den Kolonialismus zum Jahresthema seiner Institution. Im Gespräch mit Susanne Lenz von der Berliner Zeitung erklärt er, wie er die Auseinandersetzung mit dem Thema betreibt: "Wir müssen in der Frage, was diskriminierend wirkt, immer diejenigen anhören, die damit gemeint sind. Ich als weißer Generaldirektor kann doch nicht glaubwürdig vertreten, dass mich der Begriff nicht stört. Da müssen wir mit vielen Menschen reden, zuhören. Ein Teil unseres Projekts besteht auch darin, dass wir einen Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen aufgebaut haben, es sind rund zehn. Denn allein schaffen wir es nicht, dieses Thema anzugehen und unsere eigene Denkweise zu ändern."
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Stichwörter: Kolonialismus

Politik

Die neue rechtskonservative israelische Regierung geht den Weg Ungarns und Russlands, um die besetzten Gebiete endgültig dem israelischen Staat einverleiben zu können, meint der israelische Holocaustforscher Omer Bartov in der FAZ. Der ersten Gruppe um Netanjehu gehe es vor allem darum, ihr "Universum der Korruption" zu schützen: "Aus dieser Perspektive erweist sich die sogenannte Justizreform, die Netanjahus Justizminister Yariv Levin auf den Weg gebracht hat, im Kern als ein frecher Versuch, Netanjahus Kleptokratie zu schützen. Im Kampf zwischen der Idee eines jüdischen und der eines demokratischen Staates eröffnet sich hier rasch ein dritter Weg, wie wir ihn etwa in Ungarn, der Türkei und Russland beobachten können: ein autoritäres, illiberales System, in dem die Medien, das Bildungswesen, die Justiz und das Parlament unter der Kontrolle eines einzigen Mannes und seiner Kumpane stehen." Die zweite Gruppe in Netanjahus Kabinett sei offen rassistisch: "Für sie ist der Ausgleich zwischen dem jüdischen und dem demokratischen Charakter des Staates nicht einmal ein Problem. Sie sehen in der Demokratie nicht nur ein Hindernis für eine Stärkung des jüdischen Aspekts der Gesellschaft und der Politik ... In diesem Sinne sind sie Anhänger einer Revolution von rechts und zeigen zahlreiche Merkmale von Faschismus."
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Religion

In Israel verbündet sich die politische Rechte mit nationalreligiösen Strömungen. Damit steht das Land aber keineswegs allein da, beobachtet der Historiker Volker Weiß in der SZ. Und "dafür, dass diese Mischung Konflikte von Russland bis nach Sri Lanka befeuert, wird sie im Westen erstaunlich wenig beachtet." Besonders in Asien findet Weiß viele Beispiele: "Tatsächlich transformierte die hindunationalistische Bewegung in Indien den Subkontinent in eine Mehrheitsdiktatur auf ethnoreligiösem Fundament. Dem iranischen Regime wiederum gelang es nach der islamischen Revolution mittels Nationalismus, lange die Bevölkerungsteile einzubinden, denen die Religion alleine zur Identifikation mit der Revolution nicht ausreichte. Ihnen gilt nun die Theokratie als Garantin der nationalen Souveränität. Das neue autoritäre Konzept hat in der Türkei den Laizismus untergraben und die Nationalisten mit den Islamisten zusammengebracht." Als Ursache dieser Strömungen macht Weiß den üblichen Verdächtigen aus, nämlich "jene marktradikalen Kräften, die sich der drastischen Senkung von Steuern und Staatsausgaben verschrieben haben".
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Gesellschaft

Der Göttinger Religionssoziologe Alexander-Kenneth Nagel untersucht in seinem Buch "Corona und andere Weltuntergänge" die Sprache der neuen Klimabewegung und stellt fest, dass sie von "klassisch apokalyptischer Rhetorik" geprägt ist. "Es ist auf jeden Fall ein Kennzeichen apokalyptischer Weltdeutung, dass man sich im exklusiven Besitz der Wahrheit wähnt", erklärt er im Interview mit der taz. "Dieses apodiktische Element ist populistisch und antidemokratisch. Das ist ein Element apokalyptischer Rede, mit dem ich selbst sehr ringe. Hier kann ich mich auch mit einer theologischen Deutung treffen, nach der apokalyptische Rede eine Chiffre der Dringlichkeit darstellt. So verstanden, also wenn man es nicht als politische Stellungnahme deutet, finde ich es statthaft, sich des Weltuntergangsszenarios zu bedienen. ... Es geht darum, sie mit einer nicht-populistischen Anschlusskommunikation zu verbinden. Wenn das gelingt, kann es wieder in demokratische Formen überführt werden. Das wäre meine Hoffnung."
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Medien

Vor einem Jahr tobte die Affäre um den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Damals stieg die Funke-Mediengruppe unter Julia Becker - Erbin der WAZ-Gruppe - aus dem Zeitungsverlegerverband BDZV aus. Dessen Chef war damals der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner. Becker begründet ihren Ausstieg heute in der SZ mit feministischen Argumenten: "Spätestens da ist klar geworden, dass der Verband dringend einer Erneuerung bedarf: einer Erneuerung vor allem der Kultur und führenden Köpfe, aber auch der Strukturen. Wir hätten uns ein paar mehr Stimmen von Branchenvertreterinnen und -vertretern gewünscht, die das Bedürfnis haben, den Machtmissbrauch und seine Hintergründe zu benennen und - soweit das überhaupt geht - wiedergutzumachen."

Dass sexistischer Machtmissbrauch auch in aktuellen Medien noch vorkommt, zeigt die Geschichte der Redakteurin Anuschka Roshani, die jahrelang als Blattmacherin beim Magazin, dem Wochenmagazin des Zürcher Tages-Anzeigers gearbeitet hat und ihren Chef Finn Canonica beschuldigt, sie übel gemobbt zu haben. Als sie sich beim Tages-Anzeiger beschwerte, wurde sie entlassen. Im Spiegel schildert sie ihre Geschichte, die bei Zeit online (hier) aufgegriffen wird. "Hinter meinem Rücken nannte er mich vor einer Kollegin 'die Ungefickte'. Sagte coram publico zu mir, mein Mann habe 'einen kleinen Schwanz'. Brüstete sich in meinem Beisein vor Kollegen mit einem scheinbaren Exklusivwissen über mein Liebesleben: dass ich zu Beginn meiner Magazin-Zeit öfter die Männer gewechselt hätte. In der Redaktion tat man trotzdem so, als wäre Canonica einfach nur ziemlich verquer. Als hätte er einen Spleen, mit dem man sich halt arrangieren müsse."

Der Artikel offenbart Abgründe über die Schweizer Medienszene, schreibt Nadine A. Brügger  in der NZZ: "2021 prangerten 78 Tamedia-Journalistinnen in einem Brief ein sexistisches und frauendiskriminierendes Betriebsklima bei dem linksliberal positionierten Medienhaus an. Aussagen wie: 'Da bei dir im Hintergrund schreit ein Kind, habe ich das mit dir gezeugt?' würden in Sitzungen toleriert, Frauen aufgrund ihres Geschlechts weniger gefördert."
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Ideen

Ron DeSantis ist der neue Mann der harten amerikanischen Rechten. In Florida  beginnt er damit, Universitäten gleichzuschalten. Kritiker der "woken" Ideologien sollten sich darüber nicht freuen, meint Nick Cohen im Spectator und zitiert Steven Pinker, der sowohl von links als auch von rechts Attacken aushalten muss: "'Diese halbherzigen Versuche der Regierung, Dogmen mit Dogmen, rohe Gewalt mit roher Gewalt und Parteilichkeit mit Parteilichkeit zu bekämpfen, werden nicht funktionieren', sagt er mir. Man kann keine Universität der Anti-Woken und der Gecancelten aufmachen.'" Hannes Stein schreibt in der Welt über Ron DeSantis' Kaperung der Unis: Das ist keine Cancel Culture. Es ist schlimmer."
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