9punkt - Die Debattenrundschau

Der Krieg, den Russland seit 500 Jahren führt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2022. Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern, fast niemand spricht darüber, dass Menschen in der Ukraine getötet werden, sagt der Meinungsforscher Lew Gudkow im Spiegel. Es gibt keine Pflicht der Ukraine, dem Aggressor Konzessionen zu machen, erwidert Philosoph Peter Strasser in der NZZ heute dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel. In der SZ erzählt Michael Brenner, wie die Ultraorthodoxen durch Kinderzeugen die israelische Demokratie umstülpten. Und Pelé spielt zehn wunderschöne Tore heraus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.12.2022 finden Sie hier

Europa

Äußerst deprimierend liest sich, was der Meinungsforscher Lew Gudkow im Gespräch mit  Christina Hebel vom Spiegel über die russische Gesellschaft im Krieg sagt. Der Rückhalt für Putin sei nach wie vor groß. Und "die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern. Fast niemand spricht hier darüber, dass Menschen in der Ukraine getötet werden." Gudkow zeichnet das Bild einer durch Jahrzehnte der Propaganda gehirngewaschenen Öffentlichkeit: "Der Krieg hat Mechanismen in der Gesellschaft offengelegt, die seit Sowjetzeiten bestehen. Aus Gewohnheit identifizieren sich die Menschen mit dem Staat, übernehmen dessen Rhetorik über den Kampf ihres Vaterlands gegen den Faschismus und Nazismus wie zu Sowjetzeiten, um die Lage zu rechtfertigen. Das alles ist schon lange in den Köpfen der Menschen vorhanden, die Propaganda aktiviert diese Muster. Sie blockieren jegliches Mitgefühl und Empathie für das, was in der Ukraine passiert."

Und auch in den russischen Schulen und Kindergärten werden Kinder auf antiwestliche Ideologie eingeschworen, berichtet Inna Hartwich (NZZ) aus Moskau: "Lehrer werden gefeuert, weil sie sich weigern, den Kindern die 'Richtigkeit' der 'Spezialoperation' näherzubringen. Eltern werden von Jugendämtern vorgeladen und müssen erklären, warum sie ihre Kinder aus dem Patriotismus-Unterricht der Schule nehmen. Ganze Familien haben manchmal zur 'Präventionsarbeit' bei den Behörden anzutreten, wo ihnen staatliche Angestellte aufzeigen, welche 'Pflichten' Eltern für die 'richtige geistige, psychische und moralische Entwicklung' ihrer Kinder erfüllen müssten."

Gut ein Jahr nach dem Ende ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin liegt Angela Merkels politisches Vermächtnis in Trümmern, konstatiert Richard Herzinger im Perlentaucher: "Dabei irritiert noch mehr als ihre fehlende Bereitschaft zur Selbstkritik die emotionale Ungerührtheit, mit der sie die Schrecken der russischen Aggression hinzunehmen scheint." Schlimmer aber sei, dass sie an der Richtigkeit ihrer Politik festhält und damit keineswegs alleine steht: "Mit ihren Signalen in Richtung einer 'Verhandlungslösung' mit Russland artikuliert sie eine weit verbreitete Haltung. In Umfragen hat sich bereits eine Mehrheit der Deutschen für verstärkte diplomatische Bemühungen gegenüber Russland ausgesprochen, auch wenn die Ukraine dafür zu Zugeständnissen gedrängt werden müsse. Angela Merkel gibt dieser untergründigen deutschen Sehnsucht nach einer Wiederannäherung an Moskau auf Kosten der Ukraine eine autoritative Stimme."

Russland hat sich wirtschaftlich trotz der Sanktionen in bisher ungekanntem Ausmaß erstaunlich gut geschlagen, resümiert der Forscher Janis Kluge im Gespräch mit Johannes Pennekamp von der FAZ. Vor allem, die Finanzsanktionen seien nicht so vernichtend gewesen wie gedacht: "Russlands Bankensystem ist nicht zusammengebrochen. Auch die kurzfristige Wirkung des Technologieembargos wurde überschätzt. Russlands Importe sind auf Vorkriegsniveau, auch wenn Russland einige wichtige Technologien nicht mehr ohne Weiteres bekommt. An die russischen Rohstoffexporte hat man sich erst sehr spät herangewagt. Das EU-Ölembargo ist die erste Maßnahme, die Russlands Exporte wirklich schmerzhaft trifft, und die kam erst im Dezember."

Aber: Das Geld, das Putin ins Militär pumpt, fehlt an anderer Stelle, kommentiert Frank Nienhuysen in der SZ: Bildung, Gesundheitswesen oder im Kampf gegen Armut. "Für die russische Gesellschaft ist der Krieg eine große, bisweilen auch traumatische Belastung. Die Nachfrage nach psychologischer Hilfe ist seit Februar sprunghaft gestiegen. Massiv verschärfte Gesetze lassen den Menschen immer weniger Raum, sich zu äußern. Sie schüchtern ein, verunsichern und sind eine Art Kampfansage an die eigene Bevölkerung. Die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hat über die Gesellschaft in der Sowjetunion gesagt, der Mensch darin sei ein Wesen wie ein Schmetterling in Zement."

Es gibt keine Pflicht der Ukraine mit Russland zu verhandeln, erwidert der Philosoph Peter Strasser in der NZZ heute dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel (Unser Resümee): "Keine mit der Ukraine befreundete ausländische Macht darf den Umstand eines Beistandes - sei es durch wirtschaftliche Sanktionierung des Aggressors, sei es durch Waffenlieferungen oder andere Unterstützungshandlungen - dazu nützen, an einem bestimmten Punkt der internationalen Ermüdung die ukrainische Führung autoritativ an ein 'ius ex bello' zu erinnern. Niemand darf die Ukraine verpflichten, einem Frieden zuzustimmen, dessen Folgen nur die angegriffene Seite zu tragen hätte, nicht aber gleichermaßen jene Staaten, die sich, aus ursprünglich völkerrechtlichen und humanitären Gründen, dazu entschlossen, dem Opfer - der Ukraine - beizustehen, freilich ohne selbst in den Krieg einzutreten."
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Gesellschaft

Der wunderbare Pelé ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Hier ein Video mit einigen seiner kunstvoll herausgespielten Tore, Ton bitte abstellen.

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Stichwörter: Pele

Geschichte

Heute auf den Tag vor hundert Jahren wurde die Sowjetunion gegründet, erinnert Arno Widmann in der FR und blickt noch weiter zurück in die russische Geschiche. Frieden gab es nie, auch keinen sowjetischen, schreibt er: "Russland - so hieß es erst seit dem 17. Jahrhundert - führte nicht nur ständig Krieg, sondern es expandierte unentwegt in fast alle Richtungen. Waren die Schweden besiegt, konnte man sich Polen zuwenden, den Völkern im Kaukasus und dann der ganzen mächtigen Landmasse bis Wladiwostok. Das waren keine unbewohnten einsamen Tundren. Dort lebten überall Menschen, die nicht gerade darauf gewartet hatten, sich Russland zu unterwerfen. Russland wurde zu einem Vielvölkerstaat. Nicht alle Stämme überlebten. Riesige Völkerwanderungen begleiteten die Geburten dieser Nation. Sie ging aus Tod und Vernichtung hervor. Und wie wir gerade sehen, ist der Prozess noch lange nicht abgeschlossen.Wir sagen gerne und haben nicht Unrecht damit: Das ist Putins Krieg. Aber es ist auch der Krieg, den Russland seit 500 Jahren führt."
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Stichwörter: Russland, Sowjetunion

Kulturpolitik

Hermann Parzinger spricht gegenüber der dpa von "Zuständigkeitsgerangel" bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Claudia Roth denkt erneut darüber nach, die SPK und das Humboldt Forum doch wieder enger aneinander zu koppeln und Klaus Lederer könnte sich vorstellen, die Ausstellung "Berlin Global" auszulagern, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel und fasst sich an den Kopf: "Gestern war Hü, heute ist Hott"? "Es kann nicht sein, dass mit jedem Regierungswechsel neue Humboldt-Forum-Konzepte auf den Tisch kommen und mehr als nur nachjustiert wird. Die Kosten für jede Neustrukturierung tragen die Steuerzahler."
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Medien

Michael Hanfeld blickt in der FAZ abschließend zurück auf einen Riesenskandal, der kaum Öffentlichkeit hatte, denn "vor allem die beteiligten öffentlich-rechtlichen Sender hatten kein Interesse daran". Es geht um das inzwischen aufgelöste Institut für Rundfunktechnik (unsere Resümees), das den Sendern gehörte, Erfinder des im Netz allgegenwärtigen MPEG-Standards für Audiodateien. Daraus hätte das Institut etwa 300 Millionen Euro Lizenzeinnahmen erzielen können, aber es arbeitete mit der italienischen Firma Sisvel zusammen, das die Rechte verwertete, Riesengewinne einstrich und den Sendern Brosamen abgab. Betrug war es aber nicht, wie die Prozesse laut Hanfeld endgültig erwiesen haben. "Sisvel wies den Vorwurf zurück: Man habe stets die in einem solchen Geschäftsverkehr obliegenden Pflichten erfüllt. Man habe dem Institut eine pauschale, aber auch eine variable und erfolgsabhängige Abgeltung der Lizenz angeboten. 'Aufgrund ihrer besonderen Risikoaversion' habe die Klägerin - also das IRT - es jedoch 'hingenommen', dass Sisvel 'möglicherweise eine große Gewinnmarge erzielen könnte'."
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Politik

Die Taliban haben Frauen in Hilfsorganisationen verboten. Damit aber wird Hilfe vollends unmöglich, sagt Samira Sayed-Rahman vom IRC in Kabul im Interview mit Franca Wittenbrink von der FAZ: "Wir haben es hier in Afghanistan mit einer sehr konservativen Gesellschaft zu tun, nicht zuletzt wegen der Regeln, die die Taliban selbst aufgestellt haben. Eine Frau, die allein zu Hause ist, würde einem Mann niemals die Türe öffnen. Das gilt selbst für die meisten städtischen Gebiete. Ohne weibliche Mitarbeiterinnen könnten wir die Hälfte der Bevölkerung - nämlich Frauen und Mädchen - also schlicht nicht mehr erreichen mit unseren Hilfsleistungen."

Der "Traum vom liberalen säkularen Israel" ist mit der neuen Regierung geplatzt, überraschend ist das Wahlergebnis allerdings nicht, schreibt der Historiker Michael Brenner in der SZ: "Vor wenigen Jahren wies Staatspräsident Reuven Rivlin darauf hin, dass die Mehrzahl aller Erstklässler Israels erstmals nicht die vormals dominierenden jüdisch-säkularen Schulen besuchten, sondern staatliche modern-orthodoxe, private (und staatlich stark bezuschusste) ultraorthodoxe sowie arabische Schulen. Damit sprach er aus, was sich viele nicht zu sagen trauten. Israels säkulare Gesellschaft schrumpft beträchtlich - und zwar aus einem einzigen Grund: die Super-Religiösen haben im Schnitt mehr als drei Mal so viel Kinder wie sie. Genauer gesagt: Die Ultraorthodoxen in Israel haben durchschnittlich fast sieben Kinder. Man braucht nur in die aktuelle Ministerriege zu blicken, um sich dies zu veranschaulichen. Der Minister für Jerusalem-Angelegenheiten hat zwölf Kinder, die Ministerin für nationale Aufgaben hat elf, der Wohnungsbauminister zehn, der Innenminister neun, der Finanzminister und der Einwanderungsminister haben jeweils sieben. Es ist also nicht ganz falsch zu behaupten, diese demokratisch gewählte Regierung repräsentiert das zukünftige Israel." Brenner appelliert nicht zuletzt an die Deutschen, die knapp fünfzig Prozent, die für ein säkulares liberales Israel stehen, zu unterstützen.

Im Jahr 2018 holte Faustin-Archange Touadéra, Präsident der Zentralafrikanischen Republik russische Unterstützung ins Land, es kamen aber zwischen 1.200 und 2.000 Wagner-Söldner, die die Bevölkerung durch Mord, Raub und Vergewaltigungen terrorisieren, berichten auf Seite 3 der SZ Bernd Dörries und Ben Heubl: "Die russische Miliz hat hier ihr brutales Geschäftsmodell perfektioniert, das nach den Analysen der International Crisis Group und anderer Konfliktforscher so aussieht: Die Wagner-Söldner halten ein schwaches Regime am Leben, in einem Land, das fast doppelt so groß ist wie Deutschland, aber nur fünf Millionen Einwohner hat und nach Angaben der Weltbank zu den fünf ärmsten Staaten der Welt gehört. Im Gegenzug dürfen Wagner-Leute die Rohstoffe des Landes ausbeuten. Außerdem sollen sie die Einflusssphäre von Wladimir Putin in Afrika vergrößern. Die Zentralafrikanische Republik ist das Labor, in dem die Miliz ihre Methoden testet, die sie dann in anderen Ländern anwendet. Auch in Mali plündern die Söldner Goldminen. In der Ukraine kämpfen und töten Wagner-Leute, die zuvor in Afrika waren."
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