9punkt - Die Debattenrundschau

Terminologische Kapitulation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2022. Navid Kermani hat für Zeit mit Menschen gesprochen, die dem ersten hingerichteten Demonstranten, Mohsen Schekari, nahestanden oder seine letzten Tage miterlebten. Wolfgang Kraushaar erklärt in der Berliner Zeitung, wie sich Extremismen zugleich immer weiter entgrenzen und in der Mitte der Gesellschaft ansiedeln. Auch Polen fragt sich laut taz mit Blick auf Rechtsextremismus im Land, ob es sich aus der Spirale von Hass und Gewalt selbst befreien kann. Anne Applebaum erkundet in Transatlantic, was Demokratien von Taiwan lernen können.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.12.2022 finden Sie hier

Politik

Navid Kermani hat für einen beeindruckenden Artikel in der Zeit mit vielen Menschen im Iran gesprochen, die dem ersten hingerichteten Demonstranten, Mohsen Schekari, nahestanden oder seine letzten Tage im Evin-Gefängnis miterlebten. "Es wird berichtet, Mohsens Eltern seien auf eine Lüge der Behörden hereingefallen. Kurz vor der Hinrichtung hätten sie einen Anruf erhalten, dass Mohsen begnadigt werde, sie sollten daher Ruhe bewahren und keinesfalls an die Öffentlichkeit gehen. Bald komme ihr Sohn frei. Sie fuhren zum Gefängnis und hofften, Mohsen in die Arme schließen zu können. Tatsächlich wurde Mohsen hingerichtet, während die Eltern vor dem Gefängnis auf Nachricht warteten... Als sie die Habseligkeiten des Sohnes in Empfang nahmen, sei den Eltern mitgeteilt worden, dass Mohsen mit dem Tod für seine Sünden bezahlt habe und somit wieder als Muslim gelte, der auf dem öffentlichen Friedhof bestattet werden dürfe."

Im Feuilleton der SZ erzählt die iranische Künstlerin Parastou Forouhar, wie sie im Iran versuchte, eine Versammlung im Gedenken an ihre Eltern, oppositionelle Politiker, die 1998 durch Agenten des Geheimdienstes der Islamischen Republik ermordet wurden, zu organisieren. Vorab wurde sie zum Verhör gebeten: "Es wird behauptet, dass dubiose Gestalten kommen würden, um Unruhe zu stiften. Nezam (auf deutsch: 'System', ein Begriff, der ehrfürchtig ausgesprochen wird und das Regime meint) könne das nicht dulden, heißt es. Nachfragen dazu laufen immer ins Leere. Am Schluss wird mir ein Blatt Papier gereicht, ein Routine-Protokoll. Diesmal war es mir ein Anliegen, schriftlich zu fixieren, dass Rufe nach Freiheit Teil der Versammlung sein würden. So auch die Parole: 'Zan, Zendegi, Azadi'. Darauf folgte eine Gegendarstellung des Beamten: Nezam achte und wertschätze gemäß den islamischen Werten Frauen und Freiheit. Am Ende sagt ein Beamter: 'Frau Forouhar, Sie sind sehr unfair.' Als ich überrascht aufblickte, ergänzte er, ich würde alles in einem negativen Licht darstellen. Auch das entspricht einem wiederkehrenden Muster: Nezam und seine Handlanger beanspruchen die Opferrolle für sich."

"Ich bin der Auffassung, dass Israel zumindest einen Teil der Verantwortung trägt für die Tragödie der Palästinenser, aber wir sind noch sehr weit davon entfernt, das anzuerkennen", sagt der israelische Historiker Tom Segev im FR-Gespräch mit Michael Hesse, in dem er auch über das Scheitern des Teilungsplans der UN über Palästina spricht: Schon "davor gab es die Vorstellung, dass in Palästina Platz ist für sowohl Juden als auch Araber. Ben Gurions Auffassung war, dass der Sinn des Zionismus darin besteht, soviel Juden wie möglich, so wenig Araber wie nötig im Land zu haben. Das hat er umgesetzt. Viele Araber wurden vertrieben. Bis 1967 waren wenige Araber in Palästina. Seitdem hat es sich geändert. Aber eine Zwei-Staaten-Lösung ist seitdem eigentlich gar nicht mehr möglich. Daher ist der Teilungsplan von der UN fast ein Kuriosum. Ein historischer Punkt in dem langen Konflikt, der schon hundert Jahre andauert. Es ist eine fortdauernde zionistische Bemühung, das ganze Land zu beherrschen. Bei den Palästinensern ist es umgekehrt. Das ist die Schwierigkeit des Konflikts zwischen zwei nationalen Identitäten, die sich beide durch das Land definieren - und zwar das ganze Land."

Die taiwanesische Bevölkerung ist innerlich vielfältig. Manche Taiwanesen haben starke Beziehungen und Loyalitäten nach Festlandchina. Allerdings wird - ähnlich wie in der Ukraine - die Identifikation mit Taiwan immer stärker, schreibt Anne Applebaum in Atlantic: "Wie die Ukrainer befinden sich auch die Taiwanesen an vorderster Front des Konflikts zwischen Demokratie und Autokratie. Auch sie sind gezwungen, Strategien des Widerstands zu entwickeln. Was dort geschieht, wird schließlich auch anderswo geschehen: Chinas Führer versuchen bereits, ihren Einfluss in der ganzen Welt auszuweiten, auch innerhalb der Demokratien. Die Taktiken, die die Taiwanesen entwickeln, um die chinesische psychologische Kriegsführung, den wirtschaftlichen Druck und die politische Manipulation zu bekämpfen, werden schließlich auch in anderen Ländern gebraucht werden."
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Europa

Georg Maier, Innenminister und SPD-Landesvorsitzender in Thüringen (wo die SPD 10 Prozent der Stimmen hat) erklärt im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz, warum er die AfD (23 Prozent in Thüringen) verbieten lassen will. Sie erfülle alle Kriterien: "Die AfD ist klar verfassungsfeindlich. Das haben wir belegt. Der Verfassungsschutz hat die AfD in Thüringen ja als rechtsextreme Bestrebung eingestuft. In unserem neuen Verfassungsschutzbericht wird das noch einmal sauber aufbereitet. Die AfD verheimlicht kaum noch, dass sie versucht, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Sie strebt ja nicht nach demokratischen Mehrheiten im Parteienwettbewerb, sondern sie möchte dieses System überwinden." Auf die Frage, ob man da nicht gleich die Thüringer mit verbieten sollte, antwortet er: "Nein, es ist nicht so, dass alle Menschen, die jetzt ihre Sympathie mit der AfD bekunden, Verfassungsfeinde oder Rechtsextremisten sind."

In der rasenden Wirtschaftskrise, in die Erdogan sein Land geführt hat, holt er mit allen Mitteln Kapital ins Land, auch schwarzes, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Als Erdogan merkte, dass der Zufluss von Kapital und Investitionen aus dem Westen stockte, setzte er das 'Vermögensfrieden'-Gesetz in Kraft. Demzufolge kann jeder, Inländer wie Ausländer, nach Lust und Laune Geld in die Türkei bringen. Hat der Staat davon ein bis zwei Prozent Steuern kassiert, wird das Geld ins Bankensystem integriert, ohne dass hinterfragt wird, woher es stammt. Und das Schwarzgeld kam nicht allein, auch seine Besitzer kamen in die Türkei. Mafiosi, die sich in Russland, der Ukraine, Georgien, Bulgarien und in Iran nicht halten konnten, sind nach Istanbul geströmt."

Außerdem: "Fulminant" findet Judith Leister in der NZZ die 23 Youtube-Vorlesungen, die Timothy Snyder unter dem Titel "The Making of modern Ukraine" vor Studenten in Yale hält: "In der letzten Vorlesung richtet Timothy Snyder einen harschen Appell an Deutschland. Hier sei der eigene Kolonialismus bezüglich der Ukraine bis heute unterbelichtet geblieben. Das Land sei bis zum diesjährigen Kriegsausbruch politisch praktisch nicht zur Kenntnis genommen worden. Ganz in kolonialer Manier habe sich die größte Demokratie Europas mit Russland über die Ukraine hinweg verständigt." Und der Osteuropahistoriker Alexey Tikhomirov weist in einem Essay für die FAZ auf eine Konstellation im russischen Krieg hin, die an den Iran erinnert: Putins Krieg sei in Wirklichkeit "ein rücksichtsloser Kampf gegen die junge Generation, die als 'Kanonenfutter' benutzt wird". Besonders zynisch: "Das Schweigen der Familien wird durch finanzielle Entschädigungen für die Teilnahme an der 'Spezialoperation' erkauft: ein neues Auto, die frühere Pensionierung der Eltern, das kostenlose Mittagessen in der Schule für die Waisenkinder."
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Religion

Heike Schmoll fragt in der FAZ nach der Zukunft des liberalen Judentums in Deutschland nach dem Skandal um ihren übermächtigen Rabbiner Walter Homolka. Die Juden würden dadurch auch in ihrer organisatorischen Struktur getroffen. Sie zitiert Stimmen, die bezweifeln, dass die Glaubwürdigkeit schnell wieder herzustellen ist: "Über zwanzig Jahre habe der Rabbiner aus Potsdam Zeit gehabt, ein ungeheures Machtmonopol aufzubauen, weil alle ihn gewähren ließen. Der Zentralrat wollte den Staatsvertrag nicht gefährden. Und die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft mit ihrem notorisch schlechten Gewissen war aus Angst vor Antisemitismusvorwürfen bereit, dem Vorzeigejuden alles nachzusehen."
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Gesellschaft

Der Historiker Wolfgang Kraushaar hat gerade erst ein Buch über die Herausforderungen der Demokratie hinsichtlich eines nicht überwundenen Neonazismus veröffentlicht, (hier unser Vorgeblättert). Im Gespräch mit Harry Nutt (Berliner Zeitung) erläutert er die veränderte Bedrohungslage, die nicht nur mit der Etablierung rechtsferner Räume in sozialen Medien zu tun habe, sondern auch damit, dass "verfassungsfeindliche Kräfte für die Sicherheitsdienste in vielen Fällen kaum noch zu lokalisieren sind. Der Verfassungsschutz ist angesichts dieses Dilemmas deshalb dazu übergegangen, eine eigene Kategorie namens 'verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates' einzuführen. Dieses Wortungetüm verrät, dass die strukturellen Vorgaben der Extremismuskonzeption mit ihrer Unterscheidung zwischen links, rechts und islamistisch immer weniger funktionieren. Diese ohnehin untaugliche Ränderdefinition ist so weit aufgeweicht, dass man sich nur noch mit einer Entgrenzung zu helfen weiß. Das kommt einer terminologischen Kapitulation gleich. Angesichts der Ausweitung der als extremistisch angesehenen Kampfzone auf die gesellschaftliche Mitte, wie sie sich bei den Querdenker-Demonstrationen niedergeschlagen hat, herrscht eine stärker angewachsene Unberechenbarkeit der demokratiefeindlichen Potenziale."

Rechte Bedrohungen werden in Deutschland gern unterschätzt, meint der Historiker Uffa Jensen in der Welt. Dabei hätte man bei dem Auftritt von Heinrich XIII. Prinz Reuß auf dem Worldwebforum im Jahr 2019 vielleicht genauer hinhören sollen, als der unter anderem von einer Politik, die von dunklen Mächten in Hinterzimmern gemacht werde, raunte. "Fast immer verbindet sich dies mit antisemitischen Erklärungsmustern: Der 'Jude' verkörpert dann jene dunkle Macht, die angeblich nach totaler Kontrolle strebe. An zentraler Stelle seines Vortrags fragt Prinz Heinrich XIII. das Publikum, wer von all den Kriegen und Revolutionen profitiert habe. Dann zieht er die Rothschilds aus dem Hut."

Organisationen der "Zivilgesellschaft", die meist jetzt schon staatlich alimentiert sind, bekommen die Förderung nun auf Dauer gestellt - bisher wurden sie nach Ablauf von Fristen neu evaluiert. Konrad Litschko begrüßt in der taz diese Verbeamtung des Bürgerschaftlichen in der taz im Kampf gegen rechts: "Das Gesetz ist auch kein Paradigmenwechsel, eine Förderung von Demokratieprojekten gibt es bereits seit zwanzig Jahren - nun soll sie lediglich verstetigt werden." In der NZZ war Alexander Kissler gestern ganz anderer Meinung: "Eine Zivilgesellschaft, die zur Zahlungsempfängerin des Staates und damit zum Haushaltsposten der Bundesregierung herabsinkt, ist ihres Kerns beraubt. Sie gerät in ein Verhältnis der Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Mehrheiten. So erwächst aus der Sehnsucht nach Obrigkeit neue und 'verstetigte' Untertänigkeit."
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Geschichte

Die UN-Menschenrechtserklärung zeigt, dass universelle Werte nicht "westlich", sondern eben universell sind. Verfasst wurde sie 1948 von vielen heute unbekannten Jeffersons, schreibt Christian Staas in einem langen historischen Hintergrund in der Zeit, Männern und Frauen, Inderinnen, Russen und französischen Juden: "Für die westlich geprägten Köpfe ist der Mensch ein Individuum mit Freiheitsrechten. Für die kommunistischen Delegierten existiert er nur als Teil des Kollektivs. In Asien hat man ein anderes Menschenbild als in Europa, in religiösen Gesellschaften ein anderes als in säkularen..." So sei ein "wundersames Parodox" entstanden, so Staas. "Sie ist ein fundamentaler Text ohne festes Fundament, eine schwebende Architektur, die - im besten Fall - auf ganz unterschiedlichem kulturellem und philosophischem Boden stehen kann, ohne einzustürzen. Dass sie Grundsätzliches formuliert, ohne zu grundsätzlich zu werden, ist die Bedingung ihrer Universalität. Aber wie errichtet man ein Haus, das schwebt?"

Vor hundert Jahren erschossen Rechtsextreme den ersten Präsidenten der Zweiten Polnischen Republik, Gabriel Narutowicz. Gabriele Lesser erinnert in der taz an diesen Mord, der in Polen hoch aktuelle Debatten auslöst: "Hundert Jahre später diskutieren polnische Intellektuelle, Historiker und Publizisten, ob Polen sich aus der Spirale von Hass und Gewalt selbst befreien kann. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Buch des in Kanada lebenden Historikers Pawel Brykczynski: 'Gewaltbereit - Mord, Antisemitismus und Demokratie im Polen der Zwischenkriegszeit'. Der linksliberale Thinktank Krytyka Polityczna (Politische Kritik) hat es 2017 in polnischer Übersetzung herausgebracht und damit eine Diskussion über die 'wehrhafte Demokratie' in Gang gesetzt. Eine Debatte, die bis heute anhält. Das hat auch mit dem politischen Mord am Danziger Oberbürgermeister Paweł Adamowicz zu tun, der im Januar 2019 bei einer Benefizveranstaltung auf offener Bühne erstochen wurde."
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Internet

Was Lars Weisbrod in der Zeit über die Twitter-Alternative Mastodon schreibt, klingt wirklich irre aufregend: "Hier geht es zu wie auf Twitter, bloß langsamer und langweiliger. Und vielleicht ist schon das ein Indiz dafür, dass Mastodon wirkt. Dass sich hier tatsächlich ein Gegenmodell abzeichnet zur hochgezüchteten Aufmerksamkeitsökonomie, der wir uns zu lange unterworfen hatten. Wenn auf Mastodon die Timeline nicht lädt, wenn ein Bild nicht gesendet wird, wenn man ein Detail nicht versteht, dann sind das keine Gegenargumente, sondern Gründe, die für dieses Netzwerk sprechen. Der Umzug von Twitter zu Mastodon gleicht gewissermaßen der unter Großstädtern grassierenden Flucht aufs Land..."
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Stichwörter: Mastodon

Kulturpolitik

In der SZ kommt Jörg Häntzschel nochmal auf das Gutachten zurück, das Hartmut Dorgerloh über die Großspender des Humboldt Forums, Ehrhardt Bödecker, dem Antisemitismus vorgeworfen wird, erstellen ließ. (Unsere Resümees). Warum überhaupt ein Gutachten erstellt wurde, ist Häntzschel nach wie vor ein Rätsel: "Erhoffte sich Dorgerloh einen Freispruch Bödeckers?" Unverständlich sind ihm auch die Konsequenzen der Stiftung nach dem Gutachten: "Einerseits sei es richtig gewesen, sich von Bödecker zu distanzieren. Andererseits, so erklärt sie, habe der Förderverein mit der Annahme der Spende nicht gegen die geltende Spendenrichtlinie verstoßen. Dennoch 'präzisierte' man gleich darauf diese Richtlinie so, dass eine Spende von Bödecker heute gegen diese verstoßen würde. Dass Bödeckers Familie die Veröffentlichung des Gutachtens verbietet, lediglich ein fünfseitiges Resümee ist zugänglich, macht die Sache noch obskurer."
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