9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Botschaft, die ohne Worte auskam

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2022. In der SZ warnt Liao Yiwu vor "Covid-1984" - das Virus könnte eine "Revolution des leeren Blatts" auslösen. In der taz wird gefragt, ob der Holodomor ein Völkermord war - der Historiker Guido Hausmann stellt den historischen Kontext her. Welt-Autor Thomas Schmid geht der Frage nach, ob der Völkermord an den Herero eine Vorstufe zum Holocaust war. Der Guardian erzählt, wie die "Universalkirche des Königreichs Gottes" Jugendliche terrorisiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.11.2022 finden Sie hier

Politik

Die Chinesen haben die Nase voll, glaubt der im Exil lebende chinesische Schriftsteller Liao Yiwu in der SZ. Millionen Menschen wurden im Rahmen der rigorosen Coronapolitik eingesperrt, einige sind verhungert. Bei einem Wohnhausbrand im abgeriegelten Urumqi verbrannten Bewohner, weil die Behörden die Fluchtwege versperrt hatten. Das hat Folgen: "In Xi Jinpings Imperium ist Covid-19 nicht wie sonst auf der Welt zur Omikron-Variante mutiert, mit der die Menschheit inzwischen koexistiert, sondern zu Covid-1984, einem nie da gewesenen Modell der technologischen Diktatur, die auf dem Zusammenspiel von Wuhan-Virus und Internetzensur beruht. Xi Jinping ist es gelungen, innerhalb seiner Firewall ein System der Kommunistischen Gesundheitsdiktatur zu errichten, mit dem unter dem Vorwand der Gesundheitsprävention die Gesamtbevölkerung überwacht und kontrolliert wird. Wer China überleben will, muss kooperieren. Aber Menschen sind kein Vieh, keine Haustiere, die ihrem Herrn bedingungslos ausgeliefert sind. Als sich die Nachricht von der Brandkatastrophe in Xinjiang verbreitete, hallte mit einem Mal der Ruf nach 'Freiheit oder Tod' durch das Land, durch die über fünfzig Großstädte, die unter wiederholten Lockdowns zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus zu leiden hatten. Eine Studentin der Nanjinger Medienhochschule löste die 'Revolution des leeren Blatts' aus, als sie stumm mit einem leeren Blatt Papier vor der Brust auf dem Campus stand. Eine Botschaft, die ohne Worte auskam, denn jeder in China teilt die gleiche Erfahrung: Redeverbot, Internetzensur; kontrolliert, überwacht, eingesperrt, einfach gelöscht zu werden. Jeder von ihnen hat sich schon einmal stumm gefragt: Was habe ich verbrochen? Warum behandelt man mich so?"

Nachdem die chinesische Polizei weitere Demonstrationen zunächst verhindern konnte, flammten sie gestern Nacht wieder auf, meldet Zeit online: "In der südchinesischen Millionenstadt Guangzhou kam es laut Augenzeugenberichten zu Zusammenstößen zwischen Demonstrantinnen und Polizisten. Auf Internetvideos war auch zu sehen, wie im Bezirk Haizhu mehrere Menschen festgenommen wurden."
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Medien

Die öffentlich-rechtlichen Sender gehören zu den größten Finanziers der Fußball-WM. Das viele Geld für die Rechte geben sie aus, um Quoten zu bekommen. Die sind bisher so lala, berichtet Klaus Raab in der beim MDR beheimateten Medienkolumne "Altpapier": "Eigentlich deuten die WM-Einschaltquoten weder auf einen Scherbenhaufen hin, noch sind sie ein Rekord. 9 Millionen Zuschauer sind nicht nichts, es sei denn, man hält die 2018er-Vergleichsquote von 26 Millionen für ein Standardmaß. 17 Millionen ist aber bestenfalls ein 'Rekord' bei der bisherigen WM in Katar." Was Raab über die Sender und die Rechte sagt, klingt dann doch etwas verzagt: "Man kann schwerlich im Fernsehen von einer Veranstaltung kritisch berichten, von der man keine Bilder hat. Also muss man sich um Übertragungsrechte kümmern und sie damit auch finanziell mittragen. Ein Dilemma."

Die Nowaja Gaseta, seit dem 5. September 2022 in Russland verboten, soll nach zwei Ausgaben in Riga jetzt auch in Deutschland erscheinen, berichtet in der Welt Anna Shemyakova, die sich mit Redakteur Michael Komin unterhalten hat. "'In Deutschland gibt es eine große russischsprachige Gemeinschaft', sagt Michael Komin aus der Rigaer Redaktion. Viele dieser Menschen würden sich bei kremlnahen Medien oder dem russischen Staatsfernsehen informieren. 'Innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft in Deutschland gibt es viele Putinversteher', sagt Komin. Die Zeitung wolle sich als alternative Informationsquelle zu Russlands Propaganda positionieren. 24 Seiten umfasst die neue Ausgabe und liegt als Beilage der 1996 in Berlin gegründeten russischsprachigen Zeitung Russkaja Germanija (deutsch: Russisches Deutschland) bei, die seit Beginn des Krieges Redakzija Germanija (deutsch: Redaktion Deutschland) heißt."
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Geschichte

SPD, Union, Grüne und FDP wollen im Bundestag den Holodomor als einen Völkermord anerkennen. taz-Redakteur Stefan Reinecke ist strikt dagegen. Der Bundestag sei keine Historikerkommission: "Es hat etwas Anmaßendes, einer komplexen historischen Debatte nun den Weg leuchten zu wollen. Das unterscheidet den Holodomor-Antrag von der Armenienresolution vor ein paar Jahren. Dass die Morde an den Armeniern 1915 geplant und gezielt waren und somit nach der Defintion von 1948 als Genozid gelten, ist ein historischer Fakt. Das ist beim Holodomor anders - und ein zentraler Unterschied."

Die willentlich herbeigeführte Hungersnot richtete sich nicht nur in der Ukraine, aber besonders dort gegen die "Liquidierung der Kulaken als Klasse", erläutert der Historiker und Sprecher der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission Guido Hausmann in einem Hintergrundartikel für die taz. "Die eigenständige ukrainische bäuerliche Kultur inspirierte eine wachsende Schicht ukrainischer Intellektueller und Kulturschaffender. Stalin und die Bolschewiki blickten außerdem mit besonderem Argwohn auf die Ukraine, weil sie dem polnischen Einfluss in der Sowjetukraine misstrauten und überall polnische Spione witterten, vor allem in den ukrainischen Parteiorganisationen... Die ukrainischen Bauern leisteten 1930 massiven Widerstand gegen die Getreiderequirierung, flohen aus den Kolchosen, als es kurzfristig möglich war, schlachteten ihr Vieh, bevor sie es abgeben mussten, und wanderten zu Hunderttausenden in die Städte ab." Von Stalin zitiert Hausmann einen Satz aus einem Brief an Parteigrößen: "Wenn wir uns nicht daranmachen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren." Im Literaturteil bespricht außerdem Jens Uthoff den vom Holodomor handelnden Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen" von Tanya Pyankova.

Am 30. November erinnert sich Israel an die Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten und dem Iran. Hierzulande ist diese Geschichte fast unbekannt, schreibt in der NZZ der Antisemitismusforscher Stephan Grigat: "Während im 19. Jahrhundert noch zahlreiche Juden aus Russland und dem Balkan ins Osmanische Reich flohen, kommt es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Massenexodus der Juden aus den islamisch geprägten arabischen Gebieten. Flucht, Vertreibung und Emigration der Juden aus den arabischen Ländern waren nahezu total. ... Zwischen 1941 und 1948 kam es zu zahlreichen antijüdischen Ausschreitungen in Syrien, Libanon, im Irak, auf der Arabischen Halbinsel, in Ägypten und dem sonstigen Nordafrika. Von den fast 900.000 vor 1948 in arabischen Ländern lebenden Juden sind heute nur wenige tausend übrig geblieben, die Mehrheit von ihnen in Marokko und Tunesien. Im mehrheitlich nichtarabischen Iran, wo vor der islamischen Revolution zwischen 100.000 und 150.000 Juden lebten, haben nach der Machtübernahme des Ajatollah-Regimes 1979 über 90 Prozent der jüdischen Minderheit das Land verlassen. Fast 250.000 marokkanische und knapp 100.000 tunesische Juden mussten ihre Länder verlassen, und nahezu alle der 75.000 ägyptischen und der 135 000 irakischen Juden waren nach 1948 zur Flucht gezwungen. Das Gleiche gilt für die 60.000 Juden in Jemen und die 30 000 in Syrien. In Algerien und Libyen, deren jüdische Gemeinden vor 1948 140.000 beziehungsweise 38.000 Mitglieder zählten, finden sich heute überhaupt keine Juden mehr. "

Welt-Autor Thomas Schmid geht in einem gründlichen, in seinem Blog veröffentlichten Essay der Frage nach, ob der Völkermord an den Herero eine Vorstufe zum Holocaust sei, eine These, die etwa vom Historiker Jürgen Zimmerer und den Adepten des Postkolonialismus verfochten wird, und die umgekehrt den Holocaust um Epiphänomen im kolonialen Kontext macht. Mit solchen konstruierten Kontinuitäten wird man keinem dieser Ereignisse gerecht, so Schmid: "Der Völkermord an den Herero war singulär. Es wäre eine böswillige Verharmlosung, in ihm eine bloße Episode, einen Einzelfall oder gar einen reichspolitischen Lapsus zu sehen. Falsch wäre es aber auch, ihn nur als Fallbeispiel einer durchgängigen, zielgerichteten deutschen Gewaltgeschichte zu verstehen. Auch wenn man ihn nicht zum Probelauf für den Holocaust modelliert, bleibt er entsetzlich genug."
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Religion

Maeve McClenaghan erzählt in einer langen Recherche für den Guardian wie die Evangelikalen der "Universal Church of the Kingdom of God" (UCKG), vor allem in den armen Städten Großbritanniens Jugendliche, die oft aus Minderheiten kommen, anheuern, finanziell ausnehmen und mit Dämonenaustreibungen terrorisieren. Diese Kirche ist in Brasilien für ihre Nähe zu Jair Bolsonaro bekannt. "Der brasilianische Gründer der Kirche, Edir Macedo, wurde in die Forbes-Liste der Milliardäre aufgenommen. Zweimal in diesem Jahr ist er mit Privatjets, die der Kirche gehören, nach Großbritannien und durch Europa geflogen. In Brasilien wurde mit den Spenden der Gemeindemitglieder ein Tempel in São Paulo gebaut, der so hoch wie ein 18-stöckiges Gebäude ist... Die Jugendorganisation VYG ist im Vereinigten Königreich sehr aktiv. Sie trifft sich zweimal pro Woche und organisiert regelmäßig Veranstaltungen, zu denen Hunderte von Jugendlichen kommen. Die 1.330 regulären Mitglieder sind überwiegend schwarze Teenager und junge Menschen." Auch in Deutschland ist die Kirche unter dem Namen "Universalkirche des Königreichs Gottes" aktiv.
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Europa

Papst Franziskus ist trotz seiner Vagheit gegenüber den Russen nun in Moskau auf Empörung gestoßen, weil er in einem Interview sagte, die grausamsten unter den russischen Soldaten seien "vielleicht jene, die zwar Russen sind, aber nicht in der russischen Tradition stehen, etwa Tschetschenen und Burjaten". Das meldet etwa der Merkur. Eine Sprecherin des russischen Außenministers Sergej Lawrow wies die Äußerung zurück: "Wir sind eine Familie mit Burjaten, Tschetschenen und anderen Vertretern unseres multinationalen und multikonfessionellen Landes."

Das russische Regime verschärft seine Gesetze gegen Homosexuelle weiter mit einem Gesetz gegen "LGBT-Propaganda" auch unter Erwachsenen, berichtet Kerstin Holm in der FAZ: "Das Gesetz, das noch von Präsident Putin unterschrieben werden muss, kann jede Darstellung etwa von Homosexualität im Film, in der Literatur, der Werbung und auf der Bühne kriminalisieren. Privatpersonen können mit Geldstrafen von bis zu 6.500 Euro belegt werden, Organisationen drohen Geldbußen bis zu 79 .000 Euro. Dass der Gesetzestext nicht erklärt, wie sich eine propagandistische von einer informierenden oder künstlerischen Darstellung unterscheidet, erzeugt eine Unsicherheit, die gewollt ist."

Außerdem: Spiegel online meldet, dass die in Belarus inhaftierte Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa in eine Intensivstation eingeliefert worden sei - warum, wollen die Behörden noch nicht sagen.
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Gesellschaft

Die Bundesregierung hat im Juni einen Vorschlag zur Reform des Transsexuellengesetz vorgelegt, nach dem jeder Mensch beim Standesamt durch eine einfache Erklärung seinen Geschlechtseintrag ändern kann. Der Hinweis darauf, dass eine Person früher einem anderen Geschlecht angehörte, soll mit einem Bußgeld belegt werden. In Schottland plant Nicola Sturgeon etwas ähnliches. Doch damit werden Schutzräume für Frauen entwertet, warnt im Observer Sonia Sodha, und plötzlich stehen die Konservativen als Verteidiger von Frauenrechten da. Die Frage ist doch, ob "wirklich jeder Mann, der sagt, dass er sich als weiblich identifiziert, einschließlich Männern, die aus dem Cross-Dressing sexuelle Befriedigung ziehen, und männlichen Sexualstraftätern" Zugang zu Schutzräumen für Frauen bekommen soll. "Es gibt bereits viele Fälle von männlichen Sexualstraftätern, die sich nach ihrer Verurteilung als Frauen ausgeben und ihr Strafregister durch die Eintragung eines Geschlechtswechsels effektiv löschen können."

Robert Misik verteidigt in der taz den Ikonoklasmus der "Letzten Generation". Gegen die überall aggressiv auftretende populistische und extreme Rechte seien solche Akzente nötig. "Diese Tatsache nährt den Verdacht, dass nicht nur 'rabiates' Vorgehen Gefahr läuft, in Isolation zu enden, sondern dass umgekehrt auch zu vernünftiges Vorgehen einer Gefahr ausgesetzt ist, der nämlich, defensiv und wirkungslos zu bleiben. Fakt ist: Es waren in der Geschichte immer radikale Minderheiten, die Veränderungsprozesse in Gang brachten."
Archiv: Gesellschaft