9punkt - Die Debattenrundschau

Haltet mich besser fest!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2022. Wired fordert eine öffentlich finanzierte Plattform, um die Demokratie nicht den Launen von Milliardären zu überlassen. In der taz erklärt der israelische Philosoph Yuval Kremnitzer, warum der illiberale Autoritarismus ohne Ideologie auskommt. Faschistisch sei er trotzdem, meint die SZ. In der FR betont der Historiker Ian Kershaw: Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht als Farce. Die FAZ wünscht sich auch für das Kino etwas mehr Dirigismus von französischen Staat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.10.2022 finden Sie hier

Medien

Twitters Gründer Jack Dorsey hatte schon im April Elon Musk geschrieben, dass ein Soziales Netzwerk nicht der berühmte Townsquare werden könne, also ein Ort der öffentlicher Diskussion, solange es auf Werbung beruht, erinnert Eli Pariser auf Wired. Seiner Meinung nach braucht es eine öffentlich finanzierte Plattform: "Der Kauf durch Musk ist das unvermeidliche Ergebnis unser kollektiv getroffenen Entscheidung, den öffentlichen Raum an zentralisierte, werbegesteuerte Unternehmen abzutreten, die von einigen wenigen Männern kontrolliert werden. Das Ergebnis ist ein funktionell autokratisches digitales Umfeld, in dem man twittern kann, was man will - aber um die Dynamik der Plattform selbst zu ändern, braucht man 44 Milliarden Dollar. Und es ist eine Katastrophe für die Demokratien, für die Gemeinwesen und für viele Menschen, die unter dem Hass, der politischen Unterdrückung und Schlimmerem leiden, nur weil sie in einer Aufmerksamkeitsökonomie Nachzügler sind."

Can Dündar, der nach den Gezi-Protesten als Chefredakteur der Cumhüriyet abtreten musste und jetzt für seine fünf Millionen Follower auf Twitter angewiesen ist, graut es auf ZeitOnline gar nicht so sehr vor Elon Musk, sondern vor dem neuen türkischen Mediengesetz. Es will Desinformation unter Strafe stellen, ist aber so schwammig fomuliert, dass es auch auf Kritik an der Regierung zielt, wie Dündar schreibt: "Meine Posts auf Twitter werden seit letzter Woche weniger geteilt und gelikt. Und zwar nicht etwa, weil meine Kommentare sich verändert hätten. Sondern, davon muss ich ausgehen, weil das Mediengesetz einen Klick auf den Like-Button faktisch zu einem Straftatbestand gemacht hat. Nach den Algorithmusregeln der Social-Media-Plattformen bedeutet das auch: Je weniger Posts eines Accounts gelikt und geshart werden, desto weniger sichtbar wird er. Mit einer solchen Informationsverdunklung also will Erdoğan in die sowohl für ihn wie auch für die Türkei historischen Wahlen gehen.
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Europa

Der neue illiberale Autoritarismus mag vielleicht nicht zu einer Rückkehr des Faschismus führen, zur einer Erodierung der Demokratie gleichwohl, meint der israelische Philosoph Yuval Kremnitzer im taz-Interview mit Judith Poppe. Das gelte auch für Israel. Bevor etwa Benjamin Netanjahu zu "König Bibi" sei er für seine Ahänger der Magier gewesen, der gerade deshalb unterstützt, weil er ein Lügner war und alle zum Narren hielt. Eine einheitliche Ideologie braucht es da gar nicht: "Donald Trump, Viktor Orbán, Wladimir Putin sind sich ideologisch im eigentlichen Sinne nicht nahe. Aber was ihr leeres politisches Programm aussagt, ist, dass diese 'formalistische Verfahrensdemokratie', in der wir leben, elitär, ungerecht und irgendwie einschränkend sei. Sie verletzen ungeschriebene Regeln jenes Systems und sie sind gerade aufgrund dieser Regelverletzungen attraktiv für so viele Wähler:innen. Das Gleiche gilt für Giorgia Meloni in Italien. Und ebenso für Benjamin Netanjahu...  Sie sind ein bisschen wie der Schläger, der seinen Freunden zuruft: 'Haltet mich besser fest!"

"Bella ciao" ruft Kia Vahland dennoch in der SZ und mahnt, dass mit Giorgia Meloni in Italien, aber auch mit Putin in Russland der Faschismus vielleicht nicht als Herrschaftsform zurückgekehrt sei, aber als Haltung: "'Für den Ur-Faschismus ist Dissens Verrat', schrieb der Schriftsteller Umberto Eco, der als Kind noch Mussolini-Reden auswendig lernen musste. Kurz nachdem Silvio Berlusconi 1994 erstmals Postfaschisten mit an die Macht gebracht hatte, konstatierte Eco: 'Das faschistische Spiel lässt sich auf vielerlei Weise spielen, und der Name des Spiels bleibt der gleiche'."

In der taz betonen die polnischen Journalisten Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz, dass Reparationsforderungen an Deutschland nicht nur von der regierenden PiS-Partei unterstützt werden und dass sie nicht nur populistischer Wahlkampfrhetorik geschuldet seien: "Moskau, das die wichtigsten Entscheidungen Polens nach dem Krieg kontrollierte, verlangte zunächst die Ablehnung des Marshallplans und dann - 1953 - auch den Verzicht auf Reparationen von Deutschland, im Gegenzug für die Übernahme der ehemaligen deutschen Ostgebiete durch Warschau. Die Entscheidung, die polnischen Grenzen von Osten nach Westen zu verlegen, wurde jedoch in Jalta ohne polnische Beteiligung getroffen."
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Kulturpolitik

Auch der großen Kinonation Frankreich läuft das Publikum weg: Die Zahlen sinken dramatisch - nur noch Superhelden-Blockbuster ziehen an der Kasse, die allermeisten eigenen Produktionen hingegen gehen unter wie Senkblei, schreibt Niklas Bender in der FAZ. Nun diskutiert das Land: Sind die Tickets zu teuer, die Filme zu langweilig, das Wetter zu schön oder die Zahl der Kinostarts zu hoch? In den Achtzigern konnte die Filmförderung die von Homevideo verursachte Kinokrise in Frankreich lösen: "Maßnahmen von einst werden von der Filmwelt als Blaupause bevorzugt. Dominique Boutonnat (von der Nationalen Filmförderung CNC) hatte im Mai gefordert, dass die Streaming-Plattformen einen Obolus zu seinem CNC beitragen sollten; die Forderung wird nun abermals aufgegriffen. Er und andere wollen zudem die Kinobetreiber dazu verpflichten, eine Vielfalt von Filmen - sprich: Autorenfilme - zu zeigen. 'Diversité' ist ein Schlagwort, das die französische Filmwelt momentan gern im Munde führt. Die geforderten Maßnahmen mögen aus deutscher Perspektive dirigistisch erscheinen. Ähnliche Modelle haben in Frankreich jedoch dafür gesorgt, dass die heimische Produktion im Bereich der Popmusik eine kritische Größe bewahren und im Bereich der Druckpresse ihre Wirtschaftlichkeit durch Gewinnabschöpfung bei Internetplattformen behaupten konnte."
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Gesellschaft

Schön, dass Gender inzwischen als kulturell konstruiert gilt, meint Andrea Roedig in der NZZ, noch besser fände sie allerdings, wenn dies auch für Race gälte. Roedig erinnert an die Aufregung um die Amerikanerin Rachel Dolezal, die sich ihren weißen Eltern zum Trotz als Schwarze fühlte und von aller Welt dafür angegriffen oder verspottet wurde: "Nur, wo etwas zu holen ist, lohnt sich der Hinweis auf Original und Fälschung. Alle Argumente, die gegen die Aneignung von Race gelten, lassen sich auch gegen den Anspruch auf Gender wenden. Die Debatten darum, wer sich warum 'Frau' nennen darf, haben das zur Genüge gezeigt. Aber derzeit bedeutet der Fake-Vorwurf im Fall von Race politisch etwas ganz anderes als im Fall von Gender. Vielleicht wird in zwanzig Jahren die harsche Beschimpfung Dolezals als 'race fake' genauso peinlich unpassend erscheinen wie heute die Beschreibung Brandon Teenas als 'Frau, die ein Mann sein wollte'."
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Geschichte

Geschichte wiederholt sich nicht, betont der britische Historiker Ian Kershaw im FR-Interview mit Martin Hesse - "trotz dieses Spruchs von Karl Marx". Und deshalb sei auch nicht Liz Truss die Wiedergängerin von Margaret Thatcher und Putin nicht der neue Stalin: "Er ist eine Person der Vergangenheit, er blickt zurück auf eine vergangene Zeit. Seine Helden stammen vermutlich aus dem 18. Jahrhundert, nicht aus dem 20. Jahrhundert. Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat er uns auf jeden Fall in eine neue Zeit versetzt. Wenn ich ein weiteres Buch schreiben würde, was ich nicht vorhabe, eines über das 21. Jahrhundert, würde Putin ohne Zweifel dazugehören. Merkel auch, Blair wahrscheinlich auch. Man müsste es global anlegen. Xi Jinping, Trump, Modi, Bolsonaro, Erdogan wären dabei, das zeigt die verminderte Wichtigkeit von Europa, anders als im 20. Jahrhundert, als es in der Mitte des Geschehens stand, in beiden Weltkriegen und weit darüber hinaus."
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