9punkt - Die Debattenrundschau

Haltung zeigen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2022. In der NZZ erzählen fünf Russen von ihrer Flucht aus Russland, die sich die Polizei teuer bezahlen ließ. In der SZ beobachtet A.L. Kennedy besorgt, wie sich Rechte in UK und USA gegenseitig bestärken. Die taz fragt besorgt: Was kommt nach dem Sturz der Ayatollahs, und wird es auch im Einklang mit der iranischen Kultur sein? Die FAZ schildert die unglaubliche Geschichte der Plagiatsintrige gegen den Münchner Rechtsmediziner Matthias Graw.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.10.2022 finden Sie hier

Europa

In Georgien wird die Situation angesichts zehntausender Russlandflüchtlinge im Land ungemütlicher. Die Preise steigen und viele fragen sich, warum die Russen sich nicht früher gegen Putin gestellt haben, berichtet Dato Parulava bei Politico: "Ani Kavtaradze, die eine Demonstration mitorganisiert hat, sagte, sie mache sich Sorgen um die Sicherheit, da so viele Neuankömmlinge junge russische Männer seien, die zum Militärdienst zugelassen sind. Sie sieht sie als Menschen, die erst vor dem Regime geflohen sind, als sie persönlich betroffen waren - nicht vorher. Sie hätten dort bleiben und sich damit auseinandersetzen sollen. Hätten sie das getan, bräuchten sie jetzt nicht zu fliehen.'" Strengere Visaregeln scheitern vor allem an der Regierung, "die von der vom ehemaligen Premierminister Bidzina Iwanischwili gegründeten Partei Georgischer Traum geführt wird und als eng mit dem Kreml verbunden gilt. Sie hat Moskaus Kritikern den Zugang verweigert. Dies führt zu der perversen Situation, dass es für viele Gegner Putins schwieriger ist, nach Georgien einzureisen als für nationalistische Wehrdienstverweigerer."

Die NZZ lässt fünf Menschen erzählen, warum sie nach der Teilmobilmachung Russland verlassen haben. Wlad, ein 32jähriger Chiropraktiker aus Petersburg etwa berichtet, wie er geschafft hat nach Georgien zu fliehen, während viele seiner Freunde  in Russland selbst untertauchen: "Weil wir uns keinen Flug ins Ausland leisten konnten, flogen wir nach Naltschik, einer Stadt nahe der georgischen Grenze. In Naltschik nahm uns jemand für 500 Franken bis nach Wladikawkas mit. Dort war die Autokolonne bis zur Grenze bereits 28 Kilometer lang. Wir machten mit Einheimischen einen Deal: Sie sollten uns in einem Polizeiauto bis zur Spitze der Kolonne bringen, für 2500 Franken. Nach mehreren Kilometern mussten wir die Hälfte des Geldes einem Polizisten bezahlen und in ein normales Taxi umsteigen, das uns bis zur Grenze bringen sollte. Nach einem Kilometer forderten uns Polizisten auf, umzudrehen. Der Taxifahrer hatte uns angelogen. Für tausend Meter Fahrt bezahlten wir 700 Franken. Bis zur Grenze waren es noch acht Kilometer. Wir gingen zu Fuß weiter und erreichten nach vier Stunden den Übergang. Man sagte uns, es sei verboten, die Grenze zu Fuß zu überqueren. Für 1700 Franken fanden wir eine neue Mitfahrgelegenheit."

Die schottische Autorin A.L. Kennedy ist gerade in Amerika und beobachtet besorgt, wie sich Rechte in UK und USA gegenseitig bestärken: "Wenn die Tories Sozialleistungen einäschern können, warum sollten das nicht auch die amerikanischen Republikaner können?", schreibt sie in der SZ. "Sie setzen auch die Transphobie als politisches Mittel ein, nachdem sie erfolgreich gegen die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon in Stellung gebracht wurde, während unsere Abtreibungsgegner sich ihre Taktiken von den amerikanischen abschauen. Wir werden von politischen und wirtschaftlichen Kräften kontrolliert, die Demokratie aus Prinzip hassen und darauf aus sind, möglichst bald die Leiche des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS zu fleddern. Zugleich verurteilen unsere Abgeordneten und Kabinettsminister die 'urbanen Eliten' und namentlich George Soros - und wir alle wissen, was sie eigentlich damit meinen."
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Politik

In der taz blickt Charlotte Wiedemann besorgt auf die Unruhen im Iran. Die seien zwar verständlich, aber wenn das Regime stürzt, was kann danach kommen? Den Iranern selbst scheint sie da nicht viel zuzutrauen: "Wie könnte sich ein künftiger Iran, im Einklang mit seiner Kultur, seiner Geschichte und seiner sensiblen geostrategischen Lage in Westasien definieren? Mit welchem Wirtschaftssystem, welcher Außenpolitik? Wie seine Ressourcen und Grenzen schützen? Auf alle diese Fragen gibt es keine Antwort. Stattdessen höre ich: Dies ist ein revolutionärer Moment, es gibt kein Zurück, Staat und Regime müssen stürzen, und zu dessen Beschleunigung soll Deutschland seine Beziehungen zu Iran abbrechen. Müsste es nicht Teil politischer Verantwortung sein, eine Systemalternative zu erörtern, mit aller verfügbaren internationalen Kompetenz, und daran auch den Takt eigener Forderungen auszurichten? In 43 Jahren Islamischer Republik ist es der großen westlichen Diaspora mit so vielen hervorragenden Individuen in Wissenschaft und Politik nicht gelungen, eine Vision oder ein Übergangsmodell hervorzubringen, das im Land selbst auf Anklang stoßen würde, gar Vertrauen fände." Demokratie wäre kein Modell?

Die iranische Klettersportlerin Elnas Rekabi hatte im Finale der Asienmeisterschaften in Seoul ihr Kopftuch abgelegt. Seitdem ist sie verschwunden. Im Iran ist die Sorge und Solidarität mit ihr groß. Aber "wo ist eigentlich die Stimme der Vertreter:innen des organisierten internationalen Sports geblieben?" fragt in der taz Johannes Kopp. "Gern würde man hören, dass ihnen der Schutz ihrer Athlet:innen ein vorrangiges Bedürfnis ist. Und das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper sollte doch sowieso lautstark verteidigt werden. Gespenstisch still ist es aber auch im Hause der Fifa gewesen, als prominente iranische Fußballer sich mit der Protestbewegung im Iran solidarisiert haben und dann verhaftet oder wie der ehemalige Bundesligaprofi Ali Daei von Staatsbehörden mit dem Entzug des Personalausweises gegängelt wurden."

"Politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich ist das Regime der Ayatollahs am Ende. Der iranische Gottesstaat frisst sich selbst und opfert sein Volk für eine apokalyptische Wahnvorstellung. Das zu erfahren, blieb Foucault erspart", schreibt Hamid Hosravi in der NZZ, nebenbei daran erinnernd, wie der französische Philosoph einst die Machtübernahme Khomeinis begrüßte. Doch jetzt "beginnt sich das Blatt zu wenden", hofft Hosravi, und "in diesem historischen Augenblick hat der Westen die moralische Pflicht, die nach Freiheit dürstenden Iranerinnen und Iraner nicht im Stich zu lassen. Der bisherige Kuschelkurs gegenüber dem Regime muss ein Ende haben. Das Experiment des politischen Islams ist gescheitert. Es braucht eine neue Iranpolitik. Da zählt das, was einst schon Molière festhielt: 'Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun!'"

Ein weiterer Offener Brief - in der Welt publiziert - von Deutsch-Iranern, diesmal an den außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, fordert den Abbruch der Verhandlungen über das Atomabkommen JCPoA  mit dem Iran: "Sehr geehrter Herr Dr. Schmid, die Zeiten des Kuschelkurses mit der Islamischen Republik sind vorbei. Mittlerweile zeigen die Fanatiker, die alle wichtigen Posten innehaben, ganz offen, dass es keine Reformen geben wird. Auch von ihrer destabilisierenden Rolle im gesamten Nahen Osten sowie den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen wird das Regime nicht abrücken. Es ist jetzt die Zeit zu entscheiden: Möchten Sie auf der Seite der Menschen im Iran stehen oder auf der Seite ihrer Mörder?"

Auch Alan Posener plädiert (hinter der Bezahlschranke) auf Zeit online dafür, die Verhandlungen über das Atomabkommen mit dem Iran auszusetzen. Die Aufkündung unter Trump sein ein Fehler gewesen, weil sie den Iran und Russland in dem Glauben bestärkten, den Westen spalten zu können: "SPD-Chefin Saskia Esken und FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai haben darum recht: Auch Deutschland sollte das Atomabkommen mit den Mullahs aufkündigen. Es geht darum, wie Baerbock sagen würde, Haltung zu zeigen." Und das bedeutet für Posener auch, Saudi-Arabien militärisch zu unterstützen: Das Land sei "nun einmal neben Israel - und in gar nicht so heimlicher Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat - der wichtigste regionale Gegenspieler des Iran. Über den blutigen Krieg im Jemen mag man hierzulande die Hände gerungen haben. Es herrschte jedoch Einigkeit, dass irgendjemand die vom Iran bewaffneten und gesteuerten Huthi-Terrormilizen stoppen musste. Da man es nicht selbst tun wollte, auch nicht konnte, wurde die Aufgabe an die Saudis outgesourct."
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Wissenschaft

In der FAZ schreibt Uwe Ebbinghaus über die ganz unglaubliche Plagiatsintrige gegen den Münchner Rechtsmediziner Matthias Graw. Offenbar hat jemand aufwändig angeblich wissenschaftliche Quellen fabriziert, um Graw dann von Plagiatsjägern "entlarven" zu lassen. Wie konnte das einige Wochen lang durchgehen? Ebbinghaus sieht Verbindungen zu einem anderen Fall, in dem Graw vorgeworfen wurde, bei der Obduktion den Goldzahn der Mutter eines gewissen Otto C. oder Z. eingesackt zu haben. Und dieser Mann ist nicht so anonym, wie er vielleicht gern wäre: "Forscht man weiter, stößt man auf unterschiedliche Vornamen, Doppeldoktortitel, deren Verifizierung sich als schwierig erweist, eine Firma mit unklarem Portfolio und ein Netzwerk von Personen, die zum Teil - laut einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks in einem anderen Zusammenhang - einer Szene zuzurechnen sind, in der die Maskenpflicht als 'medizinische Zwangsmaßnahme' kritisiert wird. Der FAZ liegen Dokumente vor, welche die Vermutung, Otto Z. sei der Fake-Drahtzieher, bestärken (der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Otto Z. blieb erfolglos)."
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