9punkt - Die Debattenrundschau

Minimal östliches Aussehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2022. Putin verheizt für seinen Krieg mit Vorliebe Angehörige ethnischer Minderheiten. Die FAZ stellt die Aktivistin Alexandra Garmaschapowa vor, die sich dagegen wehrt. Anne Applebaum erzählte bei einer Rede, die in der SZ abgedruckt ist, wie sie die Hoffnung aufgab, dass Menschen aus Geschichte lernen. Die Welt fragt, was der Ukraine-Krieg für Xi Jinping bedeutet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.10.2022 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin verheizt für seinen Krieg mit Vorliebe Angehörige ethnischer Minderheiten, etwa die Burjaten, von denen die Legende geht, sie seien Putin besonders ergeben. Dagegen wendet sich die burjatische Journalistin Alexandra Garmaschapowa, mit der Friedrich Schmidt für die FAZ gesprochen hat. Sie hat eine Hilfsorganisation gegründet: "So groß war das Echo auf ihre Videos, dass sie alsbald Soldaten halfen, der Armee zu entkommen. Dennoch hält sich das Zerrbild der Burjaten, auch aufgrund von Rassismus: 'Burjaten werden viele genannt', sagt Garmaschapowa, 'Kasachen, Tuwiner, Baschkiren, Kalmücken, Jakuten, einfach jeder mit minimal östlichem Aussehen.' Sie sieht Putin in der Tradition imperialer und kolonialer Politik, die 'immer zuerst Minderheiten durch den Fleischwolf dreht'."

Der ukrainische Kampf und der der Iranerinnen sind miteinander verbunden, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Spätestens mit dem Beginn des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine hat sich das strategische Bündnis zwischen Moskau und Teheran zu einer symbiotischen Beziehung verdichtet. Deren Kern ist ein absoluter Wille zur Auslöschung all dessen, was den modernen, aus der Aufklärung hervorgegangenen Begriff der Menschenwürde ausmacht. Das putinistische Regime hat sich den terroristischen Strukturen der iranischen Theokratie immer weiter angeglichen. Beide Despotienn lernen voneinander bei der Anwendung grausamster Methoden der Kriegsführung nach Außen und der gewaltsamen gesellschaftlichen Gleichschaltung im Inneren."

Die taz sieht sich gezwungen, auf mehreren Seiten über das Land Niedersachsen nachzudenken, wo am Sonntag Wahlen stattfinden. Aber gibt es dort überhaupt irgendwelche Spezialitäten außer "Schweinenackensteaks und abgasmanipulierte Mittelklassewagen", fragt Andrea Maestro. Naja, es gab eine Zeit, da waren Männer mittleren Alters wie Gerhard Schröder, Sigmar Gabiel oder Jürgen Trittin ein Exportschlager, aber das ist eigentlich auch vorbei.
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Ideen

Anne Applebaum lotet in einer Rede, die sie in Odessa hielt und die in der SZ abgedruckt ist, die Abgründe von Geschichte aus. Sie erinnert an den Holodomor und die Kollaboration so vieler Menschen bei diesem Massenmord. Sie hatte die Hoffnung gehabt, sagt sie, dass Bücher wie die von Wassili Grossman oder Lew Kopelew, die in der Glasnost-Zeit veröffentlicht wurden, etwas geändert hätten: "Früher gingen wir davon aus, dass allein das Erzählen dieser Geschichten eine Wiederholung durch wen auch immer unmöglich machen würde. In den späten Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, in der Zeit von Glasnost, waren Bücher und Memoiren über das stalinistische Regime und den Gulag in Russland Bestseller. Seitdem hat sich die Stimmung geändert. Derartige Bücher sind in Russland theoretisch erhältlich, aber niemand kauft sie."

Der Perlentaucher bringt Marie-Luise Knotts Dankrede für den Tractatus-Essaypreis, den sie Ende September erhalten hat. Sie erinnert sich unter anderem an ihre erste Hannah-Arendt-Lektüre, den Essay "Die Nachwirkungen des Nazi-Regimes", und "wie erschrocken sie damals war, als sie dort las, dass Deutschland in weniger als sechs Jahren das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört habe, und dass dennoch nirgends dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt werde als in Deutschland. Die Gedankenschärfe dieses Textes, der den allgegenwärtigen 'nihilistischen Relativismus gegenüber den Tatsachen' als Hinterlassenschaft des NS-Regimes diagnostizierte, hatte sie damals beim Lesen berührt und erschrocken. Endlich hatte sie damals etwas davon verstanden, wie schmerzlich es für ihre Generation gewesen war, in dem verdrucksten Schweigen des Ärmelaufkrempel-Deutschlands aufgewachsen zu sein, das die Täter und ihre Taten verhüllte."
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Geschichte

Deutschland ist doch noch fähig, Zeugnisse seiner Vergangenheit abzureißen und nicht zum Museum umzuwidmen. Rüdiger Soldt besucht für die FAZ die Mehrzweckhalle in Stuttgart-Stammheim, wo die Prozesse gegen die erste RAF-Generation stattfanden - Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Sie wird bald einem Haftgefängnis weichen. Soldt schildert das trübe Geschehen in diesen Prozessen: "Für Hans-Christian Ströbele waren die RAF-Terroristen sogar 'Genossen'. Rupert von Plottnitz, der Gründer des republikanischen Anwaltsvereins, später hessischer Umweltminister für die Grünen, begrüßte den Vorsitzenden Richter mit 'Heil Prinzing'. Das sollte provokant und zugleich antifaschistisch sein. Der Staat reagierte mit illegalen Abhöraktionen und - auch aus heutiger Sicht - übereifrigen Verschärfungen der Strafprozessordnung."
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Medien

Den Zeitungen mangelt es an Papier, die SZ bringt ihre Literaturkritiken vorwiegend online. Schuld sind die hohen Papierpreise, die sich unter anderem durch die hohen Gaspreise erklären, schreibt Jan Diesteldorf in der SZ. Aber es gib t auch andere Faktoren, die damit zu tun haben, dass generell nicht mehr so viel gedruckt wird. Und so "mangelt es inzwischen an geeignetem Altpapier, an alten Zeitungen, Briefen, Katalogen und Broschüren, denn aus Kartons wird keine Zeitung mehr. Diese Lücke müssen nun frische Fasern füllen, was die Herstellung noch einmal verteuert. Das macht Verlagskaufleuten Sorgen - in Unternehmen, die ohnehin kämpfen müssen, um noch profitabel arbeiten zu können." Aber demnächst wird ja immerhin die Zustellung der Zeitungen subventioniert.
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Stichwörter: Zeitungskrise, Papierpreise

Politik

Xi Jinpings Macht bröckelt, konstatiert Adrian Geiges in der Welt in Bezugnahme auf einen in Foreign Affairs erschienenen Artikel von Cai Xia, bis zu ihrer Flucht in die USA Professorin an der Zentralen Partei-Schule der Kommunistischen Partei Chinas. Durch Pandemie, Jugendarbeitslosigkeit und Überalterung nehme der Unmut der Bevölkerung zu - eine Ablenkung durch einen Angriff Taiwans könnte Chinas Staatschef letzter Ausweg sein: "Ein wichtiger Faktor für China ist der Krieg in der Ukraine. Während es im Westen heißt, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf, hat Xi eine andere Sicht: Putin darf ihn nicht verlieren. Gerade trafen sich die beiden in Usbekistan. Sie wollen eine neue Weltordnung, die nicht mehr vom Westen dominiert wird. Ein Angriff auf Taiwan würde Putin entlasten: Denn dann müssten die Waffen plötzlich dorthin. In ihrem Kampf gegen amerikanische Vorherrschaft könnten China und Russland ausgerechnet von den USA lernen. Mit dem DDay, der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944, eröffneten sie und ihre Alliierten im Zweiten Weltkrieg eine zweite Front, um die sowjetische Front im Osten zu entlasten. In der heutigen Zeitenwende könnte Taiwan die zweite Front werden."
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