9punkt - Die Debattenrundschau

Immer gekühlter Champagner

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2022. Die Feuilletons trauern um Johannes Willms, der wie ein gut gelauntes Denkmal aus glücklicheren Medienzeiten in die Gegenwart ragte. In der Welt macht sich Timothy Garton Ash nach Boris Johnsons Abgang Hoffnung auf eine zaghafte Annäherung von UK und EU. Die taz kommt auf den Mord an Shinzo Abe und die Rolle der Moon-Sekte zurück. Was in der Ukraine stattfindet, ist ein "Urbizid", schreibt Klaus Englert ebenfalls in der taz, darin manifestiere sich der Hass auf einen " Feind, der einem selbst so sehr gleicht".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2022 finden Sie hier

Ideen

Putins Armee zerstört in der Ukraine mit Vorliebe Kultur- und Bildungsintitutionen. Klaus Englert benutzt dafür in der taz den Begriff "Urbizid" und bezieht sich dabei auf den Architekturtheoretiker Philipp Oswalt und auf den Lemberger Psychoanalytiker und Übersetzer Jurko Prochasko: "Der russische Urbizid ist eine Steigerungsform des serbischen. Während der serbische Urbizid in Städten wie Sarajevo eine ethnische Reinigung anstrebte, will der russische zunächst 'alles kaputt machen', sagt Prochasko. Der Hass auf das Ukrainische entlädt sich als Hass aufs Hybride. Doch der Feind, der einem selbst so sehr gleicht, bereitet Schwindel und Angst. Um dieser Gefahr vorzubeugen, erzeugt die Staatspropaganda klar unterscheidbare Feindbilder. Plötzlich wimmelt es in der ganzen Ukraine von Nazis, Juden und Schwulen, und überall droht der Feminismus. Ist das Bedrohungsszenario erst einmal aktiviert, werden aus den ukrainischen Brüdern und Schwestern plötzlich Extremisten, die bekämpft und vernichtet werden müssen."
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Europa

In der Welt macht sich Timothy Garton Ash nach dem Sturz von Boris Johnson leise Hoffnung auf einen Neustart der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU. Einen Wiedereintritt in die EU werde es auf lange Sicht zwar nicht geben, aber Keir "Starmer wies in seiner Rede auf ein großes Feld für die Zusammenarbeit hin: die Wiederaufnahme der akademischen und wissenschaftlichen Forschung Großbritanniens in das Horizon-Programm der EU; die Wiederaufnahme des Studentenaustauschprogramms Erasmus; die Erleichterung der Arbeit von Künstlern, Sportlern und anderen Fachleuten auf beiden Seiten; insgesamt der Versuch, die besorgniserregende Erosion der menschlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU umzukehren."
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Geschichte

Der Holocaust verdecke die Leidensgeschichte der Palästinenser, ist Charlotte Wiedemann, Autorin des Buchs "Den Schmerz der Anderen begreifen -Holocaust und Weltgedächtnis", in der taz überzeugt: "Mittlerweile zieht ein beachtlicher Teil des etablierten Deutschland einen Bannkreis um alles, worin der Begriff 'Palästina' vorkommt: Vorsicht, Antisemitismus, besser nicht nähern! So wird die Erinnerung an das Großverbrechen unserer Vorfahren zu einer Waffe, die sich ausgerechnet gegen jene richtet, die von Mitschuld daran anders, als viele deutschen Familien, völlig frei sind... Gerade wenn der Holocaust als eine alle anderen Faktoren überschattende Ursache der Staatsgründung betrachtet wird, wäre die Nakba auch Teil unserer Geschichte, Teil einer gemeinsamen Geschichte. Stattdessen wird von hiesigen Palästinensern verlangt, sich in das deutsche Passepartout einzufügen und ihr eigenes Leid als unvermeidbare Folge des größeren Leids anderer zu betrachten. Das kann nicht gelingen." Über die "Unschuld" der palästinensischen Organisationen, die die Palästinenser leider in den meisten Belangen vertreten, schrieb neulich der Historiker Jeffrey Herf, mehr in unserer Magazinrundschau.

Die Inflation wird die Demokratie nicht gefährden, winkt der Philosoph Otfried Höffe in der Welt ab, der Vergleiche zwischen Gegenwart und dem Krisenjahr 1923 nicht gelten lassen will: "Zum ersten fielen die damaligen wirtschaftlichen Verwerfungen, Inflationsraten und Wohlstandseinbußen, nicht zuletzt die Arbeitslosigkeit um ein Vielfaches höher als heute aus. Zum Zweiten bietet der zumindest in West und Nordeuropa weit ausgebaute Sozialstaat ein Auffangnetz, dessen heutige Dichte es damals nicht annähernd gab. Zum dritten war die Demokratie nicht im entfernten so gefestigt, wie es auch hierzulande und nicht erst seit Kurzem der Fall ist."
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Politik

Der Mord am ehemaligen japanischen Premier Shinzo Abe legt Beziehungen dieses einflussreichen Politikers zur Moon-Sekte offen, die 1954 von dem Koreaner Sun Myung Moon gegründet wurde, berichtet etwa Martin Fritz in der taz. Der mutmaßliche Attentäter Tetsuya Yamagami habe sich an einem Politiker rächen wollen, der der Sekte nahestand, heißt es, weil die Sekte seine Mutter und mit ihr seine ganze Familie ruiniert habe. Die Medien beschwiegen dieses Motiv tagelang, aber auf den sozialen Medien brach sich die Wahrheit Bahn: "Über die Gründe für die selbst auferlegte Nachrichtensperre wird heftig spekuliert. Auf Twitter hieß es zunächst, die Behörden fürchteten pogromartige Übergriffe gegen Japaner koreanischer Abstammung. Plausibler erscheint, dass die Medien das Ansehen des Ermordeten schützen wollen: Denn dass Abe ausgerechnet eine koreanische Sekte mit zweifelhaften Geschäftspraktiken unterstützte, passt so gar nicht zu seinem Image des strammen Nationalisten. Dabei ist diese Beziehung ein offenes Geheimnis."

Auf Twitter gibt es einige interessante Threads zu diesem Hintergrund - die Moon-Sekte steht in vielen Ländern rechtspopulistischen bis -extremen Parteien nahe, schreibt der Japanologe Jeffrey J. Hall:

In der FAZ würdigt Patrick Welter den Strategen und Diplomaten Abe, der dem Schwergewicht China "die verlockende Idee des Indopazifiks" entgegenhielt, der im "im Viereck der Demokratien Indien und Japan, Amerika und Australien" bestehen soll.

Während die chilenische Diktatur auch hierzulande gut im Gedächtnis ist, wird weniger über das noch blutigere Regime der Generäle in Argentinien in den siebziger Jahren geschrieben. Matthias Rüb berichtet in der FAZ, dass nun zum ersten Mal ehemalige Militärs wegen der Praxis der "Todesflüge" verurteilt wurden. Tausende politische Gefangene wurden über den offenen Meer abgeworfen. "Das Gericht teilte nach dem Urteilsspruch mit: 'Während der Verhandlung konnte anhand von Zeugenaussagen die Funktionsweise dieser geplanten und systematischen Maschinerie nachgewiesen werden, mittels welcher Tausende Menschen eliminiert wurden.' In ihrem Schlussplädoyer hatte Staatsanwältin Gabriela Sosti dargelegt, dass von den mehr als 6.000 Menschen, die auf dem Campo de Mayo interniert waren oder dorthin zu den Todesflügen verbracht wurden, weniger als ein Prozent überlebten."

"Möglicherweise war … der sehr liberale Supreme Court in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ausnahme", sagt der Amerikanist Michael Hochgeschwender im SZ-Gespräch mit Johan Schloemann: "Die Demokraten hatten in den Sechziger- und Siebzigerjahren stark von der Zusammensetzung des Supreme Courts profitiert, als man über das Gericht liberale Anliegen durchsetzen konnte, für die man eigentlich selbst keine Mehrheit hatte. Seit den Neunzigerjahren sorgten die Republikaner dann relativ systematisch über Mehrheiten im Kongress dafür, dass konservative Richterinnen und Richter ernannt wurden. Und zwar sehr konservative. Frühere konservative Richter haben auch mal für liberale Anliegen gestimmt. Das tun die heutigen nicht mehr. Wechselnd votiert nur noch der Vorsitzende des Gerichts, John Roberts. Sonst aber gibt es eine linientreue Verhärtung auf beiden Seiten." In der FAZ schreibt Isa Hoffinger, dass sich die Gegnerschaft zu Abtreibung häufig aus einem Familienbild ableite, das im 18. Jahrhundert entworfen worden sei. "Das bürgerliche Familienmodell war nichts weiter als ein Konstrukt. Das Tragische ist, dass es auch heute wieder die Frauen sind, die für die Aufrechterhaltung eines Ideals bezahlen müssen. "

Auf ZeitOnline schildert eine afghanische Studentin ihren Alltag in Kabul zwischen Uni und Todesangst. Sie kenne Familien, "die sich seit dem ersten Tag der Taliban-Herrschaft aus Angst gezwungen sahen, ihre unverheirateten Töchter bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unter Zwang oder mit deren Einverständnis zu verloben und zu verheiraten. So wollten sie verhindern, dass ihre Töchter, falls die Lage sich zuspitzt, von Taliban schikaniert oder entführt werden. Andere junge Frauen, die bereits verlobt waren, zogen ohne das übliche Hochzeitsfest in das Haus ihres Bräutigams, denn die Taliban versuchen, solche Feiern zu verhindern. Auch heute noch, knapp ein Jahr nach ihrer Machtübernahme, kommen Taliban zu Durchsuchungen in Festsäle, in denen Hochzeitsfeiern stattfinden. Wenn sie eine Musikanlage und eine Tanzfläche vorfinden, werden der Veranstalter der Hochzeitsfeier und der Besitzer des Restaurants mit Geldstrafen belegt und verprügelt."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Entstanden im Kontext afroamerikanischer Minderheiten, ist der Begriff "woke" heute überwiegend negativ konnotiert. Im SZ-Gespräch mit Violetta Simon erklärt der Linguist Anatol Stefanowitsch: "Den Rahmen dafür schaffen diskriminierende Strukturen. Die kommen in den USA übrigens nicht nur im offen rassistischen Milieu vor, sondern auch bei gemäßigten Konservativen, die ihre komfortable Situation behalten wollen. Damit gibt es eine relativ große Gruppe, die emanzipatorische Bewegungen grundsätzlich als Problem sieht - zugleich aber aus ethischer Perspektive keine Argumente dagegen hat. Also greift man an, indem man allen, die Wokeness für sich in Anspruch nehmen, versteckte Motive andichtet. Man spricht hier von 'Reframing', weil man etwas Gutes ins Gegenteil umdeutet."

"Seit der Pandemie verstärken sich die Verelendungstendenzen im Milieu der Obdachlosen, Drogenabhängigen und Illegalisierten, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt", schreibt der Armutsforscher Christoph Butterwege im Feuilleton der SZ: "Deutschland verzeichnet heute mit 16,6 Prozent oder 13,8 Millionen Betroffenen einen Rekordstand der Armut. Seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 kümmern sich die etablierten Parteien und die (Medien-)Öffentlichkeit der Bundesrepublik trotzdem mehr um ukrainische Flüchtlinge als um einheimische Obdach- und Wohnungslose."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Johannes Willms, Feuilletonchef der SZ zwischen 1993 und 2000 und Erfinder des "Literarischen Quartetts", ist nach kurzer Krankheit im Alter von 74 Jahren gestorben. In der SZ erinnern sich Alexander Gorkow und Nils Minkmar sehr persönlich an den großzügigen und humorvollen "Architekten des geistigen Deutschlands". Er "begriff den Kulturjournalismus im Fernsehen und in der Zeitung als einen Dienst an der Öffentlichkeit - und nicht als Gelegenheit zum Ausweis elitärer Kompetenzen oder Rechthabereien. Dabei setzte Johannes Willms schlicht voraus, dass sich kluge Menschen nun mal für Geschichte und Literatur interessieren, ja begeistern - einfach weil sie Bürgerinnen und Bürger in Karl Poppers offener Gesellschaft sind, der Republik. Den heute hingegen so zwanghaft kultivierten Part, dem Publikum zu erklären, weshalb es sich für Napoleon oder Charles de Gaulle interessieren sollte, Schwieriges, gar Historisches also mit Smileys zu garnieren, die aktuelle Übung auch, potenzielle Leserinnen und Leser wie arme Herumirrende durch alle Arten von Niveau-Limbo abzuholen, das alles kam nicht in Frage." In der Berliner Zeitung erinnert sich Harry Nutt: "Seine elegante Erscheinung war derart einschüchternd, dass es beinahe verblüffte, wie wenig auftrumpfend Johannes Willms im Gespräch unter Kollegen war."

Willms ragte wie ein Denkmal aus glücklicheren Medienzeiten in die heutige Landschaft. Seine stete Fröhlichkeit aber diente in gewisser Hinsicht dazu, seine stupende Bildung und übrigens seinen protestantischen Fleiß zu kaschieren, eine Geste der Höflichkeit! Denn nebenbei schrieb er einige fulminante Napoleon-Biografien und Referenzwerke zur französischen Geschichte (seine Bücher im Perlentaucher). Es ist richtig, schreibt sein ehemaliger SZ-Kollege Claudius Seidl in der FAZ, "dass im Feuilletonchefzimmer immer gekühlter Champagner bereitstand. Wichtiger daran war aber, dass Willms seine geistige Kraft, seine intellektuellen Maßstäbe, seine Vorstellung von Vollkommenheit aus französischer Kultur, vor allem aus der französischen Aufklärung, schöpfte."

In der FAZ schreibt Othmara Glas über den ukrainische Oligarchen Rinat Achmetow, dem im Rahmen eines "Gesetzes zur Entoligarchisierung" seine Mediengruppe weggenommen wird. Der Medienvielfalt diene das nicht.
Archiv: Medien

Kulturmarkt

Helmut Mayer berichtet in der FAZ über die Schwierigkeiten der Verlage mit dem immer häufiger zu hörenden Vorwurf des "Plagiats": "Urheberrechtsverletzungen im juristischen Sinn können bei Texten nur vorliegen, wenn zunächst die Vorlagen selbst 'schutzfähig' sind und der Autor noch nicht länger als siebzig Jahre tot ist. Geht es um die Schutzfähigkeit eines Textes oder einer Textpassage, kommt es letztlich darauf an, wie individuell sich bestimmte Formulierungen präsentieren, welche 'Schöpfungshöhe' sie besitzen." Software soll Texte nun durchleuchten.
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Plagiat

Wissenschaft

XX versus XY, das ist die Biologie von vor vierzig Jahren, wendet sich der Philosoph Martin Krohs in der Berliner Zeitung an Marie-Luise Vollbrecht: "Auch wenn die geschlechtsspezifischen Organ-Ausprägungen weitgehend mit der XX- oder XY-Ausstattung korrelieren: Beide zusammen sind noch lange nicht das ganze Geschlecht, auch nicht das biologische. (...) Das Genom, wie oben schon gesagt, ist selbst ein dynamisches Ensemble mit seinem eigenen Verhalten, und auch unsere Organe sind keine 'Dinge', sondern eher teilautonome Sub-Lebewesen innerhalb unserer Körper. Insofern sollte man, mit einem Seitenblick auf den soziologischen Ausdruck Doing Gender, auch biologisch eher von sich vollziehenden Geschlechtern reden, im Sinne eines Verbs: das Leben geschlechtert."
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