9punkt - Die Debattenrundschau

Plurale Anerkennungsansprüche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2021. "Das belarussische Volk verdient es, in einem freien Land zu leben", sagt der belarussische Punker Igor Bancer in der taz. Aber den Demonstranten geht die Luft aus, ergänzt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch ebenfalls in der taz. Demonstranten, die in Hongkong auf den Straßen an die Opfer des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens erinnern wollen, drohen jetzt fünf Jahre Haft, weiß die SZ. In der Welt fordert Ahmad Mansour: Muslimische Deutsche müssen die strikte Trennung von Religion und Staat bedingungslos anerkennen. Und in der taz hält der Soziologe Steffen Mau Identitätspolitik für ein Übergangsphänomen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2021 finden Sie hier

Europa

Die taz hat mehrfach den belarussischen Punker Igor Bancer zu den neuesten Entwicklungen befragt (unsere Resümees). Im heutigen Gespräch mit Du Pham äußert er sich nach der Verhaftung von Roman Protassewitsch und anderen pessimistisch. Er selbst hat den Bescheid, dass er demnächst ins Straflager muss. Und doch sagt er ein paar Sätze, die es verdienen, in Stein gemeißelt zu werden: "Das belarussische Volk verdient es, in einem freien Land zu leben und Teil der Europäischen Gemeinschaft zu sein. Wenn wir uns auf den Weg zu einem wirklich demokratischen europäischen Land machen sollten, möchte ich ein Teil dieses Weges gehen, egal, wie schwer, leidend und lang dieser Weg sein wird. Ich bin bereit, für das, was ich tue, bestraft zu werden, denn ich tue das in Übereinstimmung mit meinen Idealen."

Die belarussische Opposition hat sich im Ausland zwar durchaus beeindruckende Strukturen geschaffen, schreibt der belarusische Politologe Waleri Karbalewitsch ebenfalls in der taz, aber Alexander Lukaschenko sietzt vorerst wieder fest im Sattel: "Neue Massenproteste wird es in naher Zukunft nicht mehr geben. Das hat mehrere Gründe. Revolutionäre Ausbrüche sind ein seltenes Phänomen in der Geschichte. Damit es dazu kommt, braucht es eine Kombination vieler günstiger Umstände. Das war 2020 der Fall. Aber das scheint vorbei zu sein. Massenproteste können ihrer Natur nach nicht von langer Dauer sein. Es ist unmöglich, eine große Anzahl von Menschen für lange Zeit in einem Zustand emotionaler Spannung zu halten. Die massenhaften Repressionen tun ein Übriges. Der Preis dafür, auf die Straße zu gehen, ist im Vergleich zu 2020 um ein Vielfaches gestiegen."

"Putin hat eindeutig von Lukaschenko gelernt", sagt Leonid Wolkow, engster Vertrauter von Alexej Nawalny, der dessen Netzwerk leitet und den Silke Bigalke (SZ) im Exil in Litauen erreicht hat: "Was die Moskauer Behörden tun, verstößt gegen russisches Gesetz. Demnach kann man ins Gefängnis kommen, wenn man sein Amt missbraucht, um jemanden aufgrund seiner politischen Position zu diskriminieren. Im schönen Russland der Zukunft wird der Moskauer Transportminister Maxim Lixutow bestraft. Generell ist das eine furchtbare Repression und sie ist effektiv. Tatsächlich schreckt sie Leute ab, sich an friedlichen Protestaktionen zu beteiligen oder für Smart-Voting zu registrieren. Das sind sehr schlechte Nachrichten."

Während hierzulande über das Gendern debattiert wird, versuchen Frauen in Tschechien künftig "unsichtbar" zu sein, schreibt Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung: Das Abgeordnetenhaus in Prag stimmte am Mittwoch mehrheitlich für die Abschaffung der Endung -ova für weibliche Nachnamen. "Das eigentliche Übel in der tschechischen wie anderen slawischen Sprachen liegt allerdings darin, dass die Endung -ova eine Frau zum Anhängsel des Mannes macht. In der Ehe trägt er den knappen, sie den mit dem a geschmeidig gemachten Namen. Oder die Tochter wird zur -ova des Vaters."

Bitter rechnet der Schriftsteller Adolf Muschg in der NZZ mit seinem Heimatland, der Schweiz, ab, nachdem diese aus den Verhandlungen zu einem Rahmenvertrag mit der EU ausgestiegen ist: "An der Wurzel der europäischen Einigung sitzt ein Trauma, das die Schweiz nicht erlebte. Was ihr erspart blieb, hat sie kapitalisiert - mit einem Erfolg, der ihren Wohlstand selbstgerecht gemacht hat und ihre Neutralität phantasielos. Was hat sie mit anderen gemein außer dem obligaten Interesse an Geschäften? Was soll sie Europa schuldig sein? (…) Der Transfer von politischem, technischem, kulturellem Know-how scheint nicht mehr förderungswürdig. Dass für die Schweizer Regierung - beim Refus des Rahmenvertrags - die grenzüberschreitende Forschung keine Priorität ersten Ranges, dass ihr nicht einmal die Perspektive ihrer technischen Hochschulen heilig war - das ist schlimmer als eine Sünde, es ist ein Fehler. Hier sind Kleinkrämer am Werk, die am Rechnen mit bekannten Größen (die Zukunft gehört leider nicht dazu) nichts versäumen - und eben darum nicht gut genug rechnen."
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Politik

Fünf Jahre Haft drohen jenen, die heute in Hongkong auf den Straßen an die Opfer des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens erinnern wollen, weiß Lea Sahay in der SZ. Das ist die neue politische Realität in Hongkong mit dem "Sicherheitsgesetz": "Schritt für Schritt entkernt Peking das demokratische System. (…)  Journalisten werden bedroht oder aus der Stadt ausgesperrt. Jüngst hat das Gericht eine Demokratin in Haft behalten, weil sie Nachrichten mit internationalen Medien austauschte. Interview mit einem Korrespondenten als Kollaboration mit ausländischen Kräften? Journalismus ist hier jetzt offiziell ein Verbrechen. Nichts ist mehr, wie es war in der Stadt, die einst als Insel der Freiheit galt. Die prodemokratischen Aktivisten sind in die Illegalität vertrieben, Tausende Aktivisten inhaftiert. Eine ganze Generation junger Menschen weggesperrt, traumatisiert und gefangen in einer Stadt, die keine Zukunft mehr für sie bietet."
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Gesellschaft

Wenn wir nicht klare Regeln aufstellen und undemokratische Strukturen ausschließen, könnte die Gesellschaft in einigen Jahren durch Islamisten gespalten und autonome muslimische Communitys entstanden sein, befürchtet Ahmad Mansour in der Welt: "Das Schlimmste für den politischen Islam wäre ein europäisch geprägter Islam mit westlichen Werten. Deshalb brauchen wir genau den. Wir können keinen Kampf gegen den Islamismus führen, wenn wir keinen Kampf um die Muslime führen. Diejenigen, die damit nichts zu tun haben, müssen weiterhin die Freiheit haben, ihre Religion auszuüben. (…) Muslimische Deutsche müssen darin bestärkt werden, einen gemäßigten Islam zu leben, in dem sie die strikte Trennung von Religion und Staat bedingungslos anerkennen. Liberale und moderate Muslime müssen im Islamdiskurs mehr Gehör bekommen. Sie sollten zudem zeigen, dass sie die Mehrheit sind und die Deutungshoheit über ihre Religion nicht den Radikalen überlassen. Dafür brauchen sie Alternativen. Moscheevereine beispielsweise, die unabhängig sind."

"In den vergangenen Wochen hat der Antisemitismus in Deutschland und den umliegenden Ländern wieder sein hässliches Gesicht gezeigt", schreibt der in Berlin lebende Europa-Korrespondent der israelischen Zeitung Yedioth Achronot Zeev Avrahami in der SZ. Immerhin waren bei den antiisraelischen Protesten "junge Leute mit arabischem oder muslimischem Familienhintergrund diesmal fast unter sich", fährt er fort, meint aber: Sich-Heraushalten reicht nicht. "Vor allem (…) sollte die deutsche Öffentlichkeit von ihrer Regierung Rechenschaft darüber verlangen, wohin das Steuergeld fließt, das an die Palästinensische Autonomiebehörde geht. Seit mehr als zwanzig Jahren überweisen Deutschland und andere Staaten große Summen an Hilfsgeldern in Richtung Gazas und der Westbank. Wo landen die am Ende? Wo stehen die Schulen und Krankenhäuser, wo findet sich die moderne Infrastruktur, in die angeblich investiert wird? So wie jeder Investor (in diesem Fall ist es ein Investor, der durchaus aufrichtig in den Frieden und das Wohlbefinden der Palästinenser investieren möchte) sollte Deutschland nachprüfen, was mit seinem Geld geschieht."
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Ideen

Das Blog newfascismsyllabus.com setzt seine intensive Debatte zur Polemik von A. Dirk Moses über eine angebliche deutsche Gedenkreligion (unsere Resümees), die das deutsche Publikum zu höheren postkolonialen Einsichten unfähig mache, fort. Der Historiker Johannes von Moltke gibt eine Menge Hinweise auf weitere Reaktionen (unter anderem ein Tweet von Patrick Bahners). Und er nimmt Moses' Schärfe in Schutz. Er habe ja nur einen Konservatismus des deutschen Feuilletons reagiert, das Mbembe und Co. nicht wie heute allgemein üblich durchgewunken hat. Unter anderem spielt er auch auf Thomas Schmids' Text über Michel Rothberg an: "Man braucht nur die ersten Zeilen von Schmids böser Kritik zu lesen - wo er in einer Mischung aus Spott und ironischer Selbstironie nostalgisch an die Allgegenwart des 'Sarotti-Mohrs' erinnert -, um zu erkennen, wie sehr die Reaktion von dem Wunsch getrieben ist, zu einem Status quo ante der 'jungen Bundesrepublik' zurückzukehren, in der Schmid offenbar aufgewachsen ist. Zwar räumt er ein, dass der Kolonialismus ein blinder Fleck in der deutschen Erinnerungslandschaft bleibt, aber die Hundepfeife ist so laut ertönt, als hätte er mit ein paar Zeilen über den demografischen Wandel angesichts der verstärkten Migration eröffnet."

Gerade heute bräuchte es einen Denker wie Georg Lukacs, der "links wie rechts verpönt ist", schreibt der Dramaturg Bernd Stegemann zum fünfzigsten Todestag des ungarischen Philosophen in der Welt und rät vor allem der Linken zur Lektüre: "Die große Verwirrung, in der sich das linke Denken und die linke Politik heute befinden, wären für ihn ein weiterer Beweis für die zerstörerische Kraft des Kapitalismus gewesen. Der Aufschwung der Identitätspolitik und das gleichzeitige Abwickeln der Klassenpolitik hätten wohl seine finstersten Prognosen über den Verlauf der Geschichte überboten. Dabei wäre es ihm nicht schwergefallen herauszuarbeiten, wie vielfältig der Nutzen für das Kapital ist, wenn der Streit über Identitätsfragen die politischen Widersprüche bestimmt. Gerade eine solche Analyse fehlt der heutigen Linken, und so verirrt sie sich immer weiter in den Empörungsspiralen der Skandalmacherei. Lukács' ernüchternde Erkenntnis wäre wohl gewesen, dass nichts besser dem Fortbestehen des schlechten Ganzen dient als eine permanente Skandalisierung der kleinsten Differenzen. Die Agenda der woken Aktivisten und identitätspolitischen Publizisten wäre unter seinem scharfen Blick zu dem geworden, was sie ist: die beste, da raffinierteste Verteidigung der Klassengesellschaft." In der FAZ bespricht Dieter Thomä einige Neuerscheinungen mit eher unbekannten Lukacs-Texten (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Der Soziologe Steffen Mau versucht im taz-Gespräch mit Edith Kresta einen abgeklärten Blick auf das Thema Identitätspolitik zu werfen: "Ich halte das für ein Übergangsphänomen einer Gesellschaft mit pluralen Anerkennungsansprüchen. Das ist etwas, mit dem wir erst einmal leben müssen. Es gibt eine erhöhte Sensibilisierung für Themen, die wir bislang ausgeblendet oder sogar tabuisiert haben. Dazu gehört eine größere Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen, die berechtigte Anliegen in die Mitte der Gesellschaft hineintragen, und ein Bewusstsein darüber, dass Diversität nicht etwas ist, was sich aus dem politischen Raum heraushalten lässt, weil wir sagen, wir sind doch alle gleich oder alle haben die gleichen grundgesetzlichen Rechte."
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Medien

"Die große Mehrheit der Journalisten - die Zahlen variieren ein bisschen, mal sind es zwei Drittel, mal sind es 70 bis 80 Prozent - steht nach eigenen Angaben links der Mitte", sagt der Kommunikationswissenschaftler Christian Pieter Hoffmann im Welt-Interview mit Lennart Pfahler. Die Studie überbewerten will er nicht, Journalismus werde in der Zukunft aber vermutlich aktivistischer, meint er: "In den USA ist das deutlicher als in Deutschland. Dort fordern viele Experten eine Verabschiedung vom Wert der Ausgewogenheit. Das 'bothsidesism' oder auch 'false balance', wie es dort heißt, steht in der Kritik. Diese neue Haltung wird unter dem Begriff 'moral clarity' diskutiert. Auch in Deutschland hat die Diskussion um sogenannten 'Haltungsjournalismus' begonnen. Ich sehe hier schon einen neuen Trend. Das beobachten wir in der Journalismusausbildung ebenso wie in der Forschung. Die Folge wird sein, dass die jüngeren Generationen der Berufseinsteiger eine größere Distanz zum Thema Ausgewogenheit und Neutralität aufweisen. Sie sehen einen größeren Wert darin, zu ergreifen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Journalismus, Neutralität