9punkt - Die Debattenrundschau

Zustand der Konfliktvermeidung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2020. Die deprimierendste Nachricht an diesem Morgen: Es gibt noch keine. Joe Bidens Erdrutschsieg ist ausgeblieben. In Europa geht nach dem Attentat in Wien die Debatte um den Islamismus weiter. Eine Ursache für den Hass auf Europa ist das komplette Versagen der muslimischen Welt vor der Moderne, meint Ahmad Mansour in der FAZ. Wir haben auch in Deutschland ein Klima der Einschüchterung durch Islamisten entstehen lassen, fürchtet der Philosoph Markus Tiedemann in der FR. Der Terror in Frankreich ist schon schlimm findet Arthur Goldhammer im Guardian, aber Frankreich ist auch schuld. In der FAZ revidiert Christopher Clark seine Meinung im Hohenzollern-Streit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.11.2020 finden Sie hier

Politik

Die zutiefst unbefriedigende Überschrift dieses Morgens, hier aus der New York Times, lautet: "Die Wahlen werden zur Zitterpartie. Das könnte Tage dauern."
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Gesellschaft

Im Interview mit der SZ macht Christina Végh, Direktorin der Bielefelder Kunsthalle, einen großartigen Vorschlag, wie man die jetzt leeren Museen nutzen könnte: Schulunterricht. "Natürlich würde ich zuerst daran denken, unsere Vermittlungsprogramme weiterzuführen. Aber daneben sind doch auch unsere - jetzt leer stehenden - Räume sehr viel sicherer als die engen, schlecht gelüfteten Klassenzimmer. In Abstimmung mit Lehrern oder Schulleitern könnte man diese umfunktionieren und andere Formen des Unterrichts installieren. Ich würde den Schulen gerne zurufen dürfen: Wir sind da! Kommt in unsere Vermittlungsprogramme. Oder - wenn euch damit gedient ist - haltet euren Unterricht bei uns ab!"
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Europa

Robert Misik schildert in der taz die Stimmung in Wien nach dem islamistischen Terrorattentat mit vier Toten - in genau jener Nacht, als der neue Lockdown begann: "Terror und die dschihadistische Kriegserklärung gegen eine heterogene Gesellschaft der Freiheit erregen den spontanen, emotionalen Wunsch, gemeinsam aufzustehen, ein massives Zeichen zu setzen, sich aber damit als Gesellschaft auch wechselseitig psychisch zu stützen. In Zeiten der Ansteckung wird es das aber nicht geben können. Wie schrieb eine Wiener Journalistin auf Twitter? 'Zusammenstehen nach Terroranschlag - isolieren wegen Lockdown. Es ist alles zu viel.'"

"Der Terror von der Wiener Innenstadt trifft eine von Pandemiestress und Daseinsangst hart getroffene Gesellschaft", schreibt Ronald Pohl im Standard. Und ein so strapaziertes gesellschaftliches Gewebe kann irgendwann auch mal nachgeben: "Es ist, als würde ein neuer, das Kollektiv betreffender Stressfaktor mit einem anderen, altbekannten multipliziert. Wer zum Beispiel bisher im Wiener Raum meinte, er könne seine Kinder - trotz Pandemie - guten Gewissens in die Schule schicken, der wurde am Dienstag terrorbedingt auch dieser Illusion kurzfristig beraubt. Man muss somit den übel kontaminierten Begriff des 'Ausnahmezustands' keineswegs wie Carl Schmitt gebrauchen, um den Stress, der die Gesellschaft akut plagt, als Kompositum aufzufassen. Als multiples, bedrohlich aufblitzendes Geschehen; es gleicht einem Gewitterregen von Zumutungen, die von allen Seiten, scheint's, auf uns einprasseln."

Die Dschihadisten seien in Österreich "besonders gefährlich und noch mal gewaltbereiter als in Deutschland", sagt der Terrorismusexperte Guido Steinberg im Gespräch mit Konrad Litschko ebenfalls in der taz: "Ein Großteil kommt aus Tschetschenien, Bosnien oder Kosovo/Albanien/Mazedonien, viele können mit Waffen umgehen. Als der IS zu Ausreisen aufrief, folgten dem 250 Islamisten aus Österreich. Hochgerechnet auf die Bevölkerung waren das doppelt so viele wie in Deutschland."

In der SZ macht Alexandra Föderl-Schmid die Österreicher und insbesondere Kanzler Sebastian Kurz mitverantwortlich für das Attentat in Wien und scheut dabei auch das Wort vom "Kreuzzug" nicht: "Der stramme Konservative Sebastian Kurz führt in Wahlkämpfen einen Kreuzzug gegen den 'politischen Islam', den er als Kampfbegriff nutzt. Er stellt damit alle Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht und trägt damit zur Polarisierung der Gesellschaft bei. ... Die weit verbreitete Bereitschaft der Österreicher zu verdrängen, trägt dazu bei. Was fehlt, ist eine konsequente Beschäftigung mit Problemen. In diesem Fall fehlt es an Programmen oder Sozialarbeitern, um diese radikalen Menschen aus ihrer bedrohlichen Gedankenwelt zu befreien." (Zitat aus der Printausgabe, online liest sich der Kommentar leicht anders.)

Multikulti gehört seit Jahrhunderten zu Österreich, schreibt dagegen der Historiker Julien Reitzenstein in der Welt. "Der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag des österreichisch-ungarischen Imperiums bestand im grantelnden Ablehnen des anderen und gleichzeitigem Ertragen seiner Existenz. ... Die traditionelle Mentalität der Vielfalt - heute würde man 'Multikulti' sagen - im Staatsverständnis zeigt sich in einem bemerkenswerten Detail: Das katholisch geprägte Österreich war pragmatisch genug, den Islam als gleichberechtigte Religion anzuerkennen. Das Ertragenwollen auch religiöser Gegensätze führte dazu, dass Österreich-Ungarn zu Anfang des 20. Jahrhunderts der einzige christlich geprägte Staat war, der die Beziehungen mit muslimischen Gemeinschaften auf eine gesetzliche Grundlage stellte."

Auf einer weiteren Seite zum Attentat klagen einige taz-Journalisten, dass sich Medien und soziale Medien bei ihrer "Bilderflut" nicht immer an die Vorgaben der Polizei halten: "Dass die Wiener Polizei dazu aufrief, keine Videos und Bilder ihrer Einsätze in sozialen Medien zu teilen, hat vor allem mit der Sicherheit der Wiener:innen zu tun. In erster Linie ging es darum, die polizeilichen Maßnahmen und damit den Schutz der Bürger:innen nicht zu gefährden. Die Bitte wurde von vielen Nutzer:innen geteilt. Und dennoch waren die sozialen Netzwerke in der Nacht auf Dienstag voll mit privatem Bildmaterial mit teils gewaltvollen und expliziten Szenen."

In der SZ empfiehlt Gustav Seibt der Bevölkerung mehr "mürrische Indifferenz" angesichts von Terroranschlägen, um das Spiel der Täter nicht mitzuspielen: "Sie kann eine Vorform der Klärung unserer üblichen Affekte sein. Wir haben allen Grund, mit den Opfern zu trauern und die Verbrecher zu verabscheuen. Es gibt nicht den geringsten Grund, die Gefahren auf die leichte Schulter zu nehmen. Und wo Jammer war, muss Erkenntnis werden. Aber es gibt, immer wieder, allen Grund, das Spiel der Täter mit den Bildern nicht mitzumachen. Erst dann wird der Raum frei für Analysen, die helfen, und vor allem für politische und polizeiliche Strategien."

Der Terror in Frankreich ist eine schlimme Sache. Aber Emmanuel Macron ist schon auch selber schuld, findet der Autor und Europa-Experte in Harvard Arthur Goldhammer im Guardian. Noch bevor der Samuel Paty der Kopf abgeschnitten wurde, hatte Macron ein Programm angekündigt, um mit der muslimischen Parallelgesellschaft zu brechen, hatte aber auch die soziale Abschottung der Banlieues durch den Zentralstaat anerkannt. Macron wollte einen 'aufgeklärten Islam' schaffen, etwa durch eine Ausbildung der Imame in Frankreich, und er wollte, dass die Republik von ihren Bürgern wieder geliebt wird. Das sind Widersprücghe, findet Goldhammer: 'Religion aufzuklären' bedeutet, die Leidenschaften des Glaubens mit kühler Vernunft zu ersticken, während das Entzünden patriotischer Leidenschaften mit dem Gerede vom Krieg genau das Gegenteil bewirkt. Der beste Weg, leidenschaftliche Dschihadisten zu besiegen, könnte einfach darin bestehen, durch ein Beispiel zu zeigen, dass sich kühlere Köpfe tatsächlich durchsetzen können, selbst angesichts wiederholter Provokationen und hurrapatriotischer Reaktionen." Wie dieses Beispiel aussähe und ob es nicht einfach wie Weggucken aussähe, sagt Goldhammer nicht.
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Geschichte

Der Historiker Christopher Clark legt im Gespräch mit Andreas Kilb in der FAZ (eigentlich vorher schon bei CNN) eine spektakuläre Wende hin. Er hatte sich relativ wohlwollend zu den Hohenzollern und den Nazis geäußert. Nun nicht mehr: "In den letzten Jahren ist eine Unmenge an neuem Material zutage gefördert worden. Stephan Malinowski hat gezeigt, wie energisch der Kronprinz gearbeitet hat, auch nach der Machtergreifung, um die Berührungsängste der Konservativen gegenüber den Nationalsozialisten zu überwinden. Es gab in den rechten Milieus durchaus noch viele Konservative, die mit den Nationalsozialisten nicht paktieren wollten. Der Kronprinz hat sich jedoch stets für die Schwächung solcher dezidiert konservativer Optionen eingesetzt, indem er zum Beispiel immer wieder für die enge Zusammenarbeit von Stahlhelm und SA plädierte."
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Ideen

Wir haben auch in Deutschland ein Klima der Einschüchterung durch Islamisten entstehen lassen, dass tief in die Gesellschaft und vor allem in die Schulen eingedrungen ist, fürchtet in der FR der Dresdner Philosophieprofessor Markus Tiedemann. Das liegt für ihn auch an einem akademischen Diskurs, der Lehrer sofort unter Rassismusverdacht stellt, wenn sie Probleme ansprechen. "Konfliktscheu oder Gleichgültigkeit sind keine Toleranz. ... Kulturelle Überzeugungen und Lebensformen zu dulden kann viele Gründe haben. Zu diesen zählen auch Ignoranz, Gleichgültigkeit oder die Überzeugung, dass der Andere eine intellektuelle Auseinandersetzung nicht verdient oder gar genetisch dazu nicht in der Lage sei. Wer beispielsweise behauptet, gewisse Teile der Bevölkerung seien einfach noch nicht reif dafür, mit Religionskritik konfrontiert zu werden, argumentiert ähnlich wie das Apartheidsregime in Südafrika. Damals hieß es auch, die Schwarzen seien eben noch nicht in der Lage, mündige Staatsbürger zu sein."

Die Islamisten hassen den Laizismus besonders, weil er gerade auch für Muslime attraktiv ist, meint der französische Philosoph Pascal Bruckner in der NZZ. "Die Republik bietet jedem Gläubigen, sei er Christ, Jude, Buddhist oder Muslim, die Möglichkeit, seinen Glauben zu leben. Und sie lässt jedem die Freiheit, seinen Glauben aufzugeben oder einen neuen anzunehmen (wobei islamische Organisationen in Frankreich die Apostasie weiterhin als Verbrechen verstehen). Jedem Anhänger des Islam steht hier demnach die Option offen, Religionsfragen nunmehr mit Gleichgültigkeit zu begegnen: eine schreckliche Perspektive für all jene, die sich eine Welt wünschen, in der sich die Menschen Riten unterwerfen und sie Tag und Nacht befolgen. Aus laizistischer Warte umfasst der Schutz von Minderheiten vor allem auch ein fundamentales Recht für jedes Individuum: Es soll sich von Traditionen zurückziehen dürfen, ohne Schaden zu nehmen, es soll sein eigenes Schicksal schmieden können und das Recht haben, den Glauben der Eltern aufzugeben oder sich einer neuen Religion zuzuwenden."

Deutsche Journalisten wie Patrick Bahners (allerdings nur auf Twitter) fürchten eine "Überhöhung des Laizismus zur Superreligion". Eine Gruppe muslimischer Intellektueller in Frankreich hatte dagegen am Samstag ihre Unterstützung für die Idee des Laizismus bekannt: "Die politische und religiöse Ordnung sind in Frankreich getrennt, bei vollem Respekt für die Grundrechte der Bürger. Die Unterscheidung dieser beiden Ordnungen erlaubt es, sowohl die Transzendenz der Gläubigen zu respektieren als auch die Ansprüche einiger einzuschränken, die glauben, für Gott zu sprechen (und darum mit ihm konkurrieren)."

Als Ursache für den Hass der Islamisten auf Europa macht Ahmad Mansour das komplette Versagen fast der ganzen muslimischen Welt vor den Herausforderungen der Moderne aus: "Zum weltweiten Wettbewerb können die Wissenschaften kaum viel beitragen, und Versuche der Demokratisierung, etwa während des Arabischen Frühlings, scheinen sämtlich gescheitert. Perspektivlosigkeit, Armut und Bürgerkriege treiben viele junge Menschen aus dem Land. Wohin? In den doch so verhassten Westen. Gegen diese erneute Erniedrigung wird oft eine 'muslimische Identität' mobilisiert, die keinen Zweifel zulässt und Stärke und Selbstbewusstsein suggeriert im inneren Wettbewerb mit 'dem Westen' - dem man längst angehört."

Außerdem: In der Welt denkt Byung-Chul Han über Liberalismus und Gemeinsinn im Westen und in Asien nach.
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Medien

Christian Bartels greift in der "Altpapier"-Kolumne des MDR die Studie über den "Medienmäzen Google" (unsere Resümees) auf, die bekanntlich ergab, dass Google vor allem die größten und einflussreichsten Printmedien in Deutschland mit Förderungen in Millionenhöhe bedachte. Das Medienecho war bisher mager: "Wer bislang nicht berichtete: Spiegel, Zeit, FAZ, SZ und auch die dpa, die als mutmaßlich zehntgrößter deutscher Google-Spendenempfänger genannt wird. Vielleicht ist es zu früh, daraus weitreichende Schlüsse zu ziehen, aber: zu beobachten, ob und wie von Google bespendete Medien über die sehr zahlreichen Themenfelder berichten, auf denen Google als Quasi-Monopolist eine mindestens dominante Rolle spielt und deswegen kritisiert wird, dürfte künftig noch wichtiger werden als es ohnehin schon ist. Vorsichtig formuliert."

Reinhard Wolff berichtet in der taz, dass die rechtspopulistische Partei Nye Borgerlige (Neue Bürgerliche)in dännische Zeitungen eine Anzeige schalten wollte, in der jene Zeichnungen von Mohammed gezeigt werden, die Samuel Paty seinen Schülern zeigte. Manche Zeitungen sagten zu, manche ab (darunter Jyllands Posten, die 2005 die Mohammedkarikaturen veröffentlicht hatte). Einen Strich durch die Rechnung machte schließlich Charlie Hebdo selbst: "Das Blatt ließ wissen, dass man keine Nachdruckgenehmigung erteile 'für eine politische Partei, mit der wir nichts gemeinsam haben'."
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