9punkt - Die Debattenrundschau

Impuls zu einem Prozess

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2020. Wolfgang Schäuble denkt in einer Rede, die er im Perlentaucher veröffentlicht, über deutsche Identitäten nach: Warum fühlen sich Westdeutsche als deutsch, Ostdeutsche als ostdeutsch? Im Tagesspiegel konstatiert der Historiker Martin Sabrow eine Krise der Erinnerungskultur, die ebenfalls im Zeichen von Identitätsdiskursen stehe. Die FAZ druckt Ronald S. Lauders Rede zum Gedenktag in Auschwitz, in der Lauder auch das Wegsehen der anderen thematisiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.01.2020 finden Sie hier

Europa

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble denkt in einer Rede zum Jahresempfang des MDR, die er im Perlentaucher veröffentlicht, über deutsche Identitäten nach: "Frustriert von der medialen Debatte fragte die frühere DDR-Athletin und heutige Publizistin Ines Geipel vor kurzem: Wo bleibt die ostdeutsche Glückserzählung? Das ist eine berechtigte Frage. Umfragen sagen uns, dass die allermeisten Menschen in den neuen Ländern froh sind über die deutsche Einheit. Zugleich gab es im Glück der Wiedervereinigung auch persönliche Tiefschläge, Niederlagen, Demütigungen. Häufig haben die Menschen beides erfahren. Zur Wahrheit gehört: Die Wiedervereinigung haben wir in Ost und West unterschiedlich erlebt. Für viele Westdeutsche änderte sich fast nichts. Für die meisten Ostdeutschen änderte sich fast alles."

Nach langem Siegeslauf in den italienischen Regionen musste Matteo Salvini in der Emilia-Romagna eine herbe Niederlage einstecken. Zu verdanken ist das weniger den siegreichen italienischen Sozialdemokraten, als der Bürgerbewegung der "Sardinen", die gegen die "Sprache des Hasses" mobilisiert hatte, schreibt Michael Baun in der taz: "Tausende trafen sich zu einem Flashmob, mit Pappsardinen bewaffnet, auf der Piazza - und die Bewegung ging wie eine große Welle durch die Region, ja durch ganz Italien. Wie gut das funktionierte, zeigt schon die Wahlbeteiligung: Lag sie vor fünf Jahren bei mageren 38 Prozent, so schnellte sie jetzt auf 68 Prozent hoch - und am stärksten legte sie dort zu, wo die Linke vorn lag."

Schwarz-grün in Österreich ist gar nicht so exotisch, wie man denkt, meint die Wiener taz-Kolumnistin Isolde Charim, die hier mit dem Soziologen Andreas Reckwitz argumentiert. Beide Strömungen stünden für ein liberales Paradigma, für kosmopolistischen Linksliberalismus die einen, für Wirtschaftsliberalismus die anderen: "Gemeinsam bilden sie den gesamten - ökonomischen und kulturellen - Liberalismus. So weit die Soziologie. Die Realpolitik hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Kanzler Sebastian Kurz hat als Motto für die neue Regierung ausgegeben: 'Es ist möglich, sowohl das Klima als auch die Grenzen zu schützen.' Das Motto sagt also: Unser Programm ist der Schutz. Ob Klima oder Grenze, Hauptsache Schutz."

Durch das überaus komplizierte, für Bürger fast nicht verständliche System der gleichzeitigen Berücksichtigung von Direktmandaten und des proportionalen Wahlergebnisses droht der jetzt schon bedrohlich gewachsene Bundestag nach der nächsten Wahl auf bis zu 800 Abgeordnete zu kommen - obwohl nur 598 Sitze vorgesehen sind (jetzt sind es 709). Daniel Deckers wägt im Leitartikel der FAZ die Chancen ab, dies noch vor der Bundestagswahl zu verändern. Kann es sein, dass die Parteien im Bundestag insgeheim ganz gerne anschwellen? "Inzwischen hat sich das Spiel auf Zeit 'Eigennutz vor Gemeinnutz' ausgezahlt. Zwar könnte man theoretisch die Zahl der Wahlkreise bis zum Beginn des Nominierungsverfahrens der Direktkandidaten Ende März mathematisch optimiert auf 250 verringern. Doch politisch ist eine solche Hauruckaktion schwierig." Es gebe aber noch einen komplizierteren Weg, die Größe zu begrenzen, so Deckers, der aber den Verzicht auf Direktmandate beinhalten könnte.
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Geschichte

Die FAZ veröffentlicht die Rede Ronald S. Lauders, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, die er zum gestrigen Gedenktag in Auschwitz gehalten hat. Wo die Schuld für den Holocaust liegt, ist klar. Aber es gab auch ein Wegsehen der anderen Länder, das Lauder ebenfalls thematisiert: "Im Juli 1938 organisierten die Vereinigten Staaten eine Konferenz in Evian, auf der über die Krise der jüdischen Flüchtlinge beraten werden sollte. Viele schöne Reden wurden gehalten, doch die Vereinigten Staaten nahmen keine weiteren jüdischen Flüchtlinge mehr auf. Die anderen Konferenzteilnehmer schlossen sich an. Zweiunddreißig Staaten waren vertreten, und keiner half den Verzweifelten - mit Ausnahme der kleinen Dominikanischen Republik."
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Urheberrecht

Die Buchverlage haben mit ihrer Lobbymacht in der EU-Urheberrechtsreform eine Beteiligung an den den Einnahmen der Verwertungsgesellschaften erstritten, die eigentlich den Urhebern zustehen. Die Reform muss in deutsches Recht übersetzt werden, und der Börsenvereinsvorsitzende Alexander Skipis  ist mit dem Erreichten noch nicht zufrieden, meldet der Buchreport: "Die Leistung der Verleger werde nicht mehr selbstverständlich gesehen. Das sei gerade an dem ersten Entwurf der Verlegerbeteiligung an den Erlösen der Verwertungsgesellschaften abzulesen. In dem stehe 'ohne Not', die Autoren zu mindestens zwei Dritteln zu beteiligen. Daran zeige sich, dass es ein maßgebliches Misstrauen gegenüber den Verlegern gebe."
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Medien

Die öffentlich-rechtlichen Sender dürften den Vorschlag der Finanzierungskommission Kef für eine Erhöhung der Gebühren auf 18,36 Euro akzeptieren, vermutet der Medienjournalist Daniel Bouhs in der taz - und das obwohl der Vorschlag kaum mehr Geld bringt, denn die Sender konnten bisher zusätzliches Geld verbrauchen, das die Bürger nach Einführung des neuen Gebührenmodells zu viel bezahlt hatten: "Warum so zahm? Das dürfte mit der politischen Lage zusammenhängen. Einen höheren Rundfunkbeitrag müssen erst alle Landesregierungen, dann die Landtage beschließen. Bei Änderungen des Rundfunkrechts gilt das 16:0-Prinzip. Da ist eine Erhöhung realistischer, wenn die Sender den Vorschlag der Kef nicht bekämpfen. Das gilt noch mal mehr in Zeiten, in denen die FDP für die Halbierung des Beitrags kämpft, die AfD sogar für eine Abschaffung dieses Modells."
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Internet

Das ist ein ziemlicher Super-Gau: Offenbar ist es Hackern gelungen, im Herbst letzten Jahres mittels einer Emotet-Virus-Attacke den gesamten Datenbestand des Berliner Kammergerichts abzusaugen. Das berichtet der Tagesspiegel, und inzwischen musste das auch Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) bestätigen, der seit Monaten über die Geschichte informiert ist, das aber nicht zugeben wollte. Von der Attacke betroffen sind laut Robert Kiesel im Tagesspiegel "neben Tätern und Opfern von am Kammergericht verhandelten Prozessen auch Zeugen und verdeckte Ermittler oder Informanten. Das Kammergericht ist unter anderem für Terrorprozesse zuständig. Die dort lagernden und möglicherweise gestohlenen Daten sind höchst sensibel." Fest steht auch, dass die Daten des Kammergerichts höchst unzureichend gesichert waren, meint Kiesel nach Lektüre eines Gutachtens vom 23. Dezember zu dem Fall: "So habe sich die Schadsoftware auch deswegen ausbreiten können, weil das Kammergericht keine 'Netzwerksegmentierung' vorgenommen habe - also die Aufteilung in verschiedene, aus Sicherheitsgründen voneinander getrennte Bereiche. Außerdem habe das Schutzsystem den Angriff nicht erkannt, obwohl die Schadsoftware schon vorher bekannt war."
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Ideen

Am Wochenende hat der Schriftsteller Lukas Bärfuss im Schweizer Magazin Sonntags-Blick seine Zweifel an der Demokratie angemeldet: Sie stehe mit ihrer altmodischen Art oft hilflos vor den Problemen einer globalisierten Welt. Wie die neue "perfekte Staatsform" aussehen soll, sagt er aber nicht. Thomas Risi zuckt darum in der NZZ auch nur mit den Achseln: "Demokratie, so wie sie die Denker des 18. Jahrhunderts entworfen haben, ist ein Versprechen, das sich seiner Unerfüllbarkeit bewusst ist. Der Impuls zu einem Prozess, der nie an ein Ende kommt. Wer, wie Lukas Bärfuss, 'die endgültige, perfekte Staatsform' sucht, den muss die Demokratie enttäuschen. Sie bietet keine fertigen Lösungen, die für immer gültig wären, sondern muss jeden Tag neu errungen werden. Demokratie gibt es nicht ein für alle Mal. Sie ist das, was wir aus ihr machen. Darin liegt ihre Verletzlichkeit. Aber auch ihre Stärke."

Im Tagesspiegel konstatiert der Historiker Martin Sabrow eine Krise der Erinnerungskultur. Sie hat viele Gründe, erklärt er, eins davon sei "die zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation. So gebe es in der Gesellschaft "immer wieder Stimmen, die historisch tradierte Sichtachsen identitätspolitisch zu verändern verlangen. Im Streben nach Entmilitarisierung und Dekolonisierung des öffentlichen Raums sind Hindenburgstraßen und Carl-Peters- Plätze zu einem Konfliktfeld geworden, in dem Tradition und Benennungszusammenhang immer stärker dem Anspruch auf Identitätsschutz zu weichen haben. Nicht anders ergeht es Mohren-Apotheken und Mohren-Hotels ... Die Krise des Allgemeinen ist auch eine Krise des Historischen. Sie nimmt der Vergangenheit ihr Eigenrecht und macht sie zur Projektionsfläche von konkurrierenden Zugehörigkeitsansprüchen, die gleichermaßen Identität über Historizität stellen."
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