9punkt - Die Debattenrundschau

Besonders brisante Arroganz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2019. In Hongkong hat die Demokratiebewegung einen Erdrutschsieg errungen, der von der Parteizeitung Global Times recht sauer kommentiert wird. Die SZ präsentiert die "China Cables" über Umerziehungslager für Uiguren. In der FAZ denkt der Historiker Wolfgang Reinhard über Religionen und Frieden nach - das sei aber nicht ihr größtes Talent. In der FAS erklären die Friedrichs, warum sie nicht früher über Holger Friedrichs Stasi-Vergangenheit geredet haben. Laut hpd.de ist das Jungfernhäutchen gar keins.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.11.2019 finden Sie hier

Politik

Die Süddeutsche macht auf der Seite 1 und im Feuilleton mit den "China Cables" auf, letzte Woche in der New York Times veröffentlichte Geheimdokumente, die belegen, dass die chinesische Regierung in Xinjiang "eines der größten Gulagsysteme der Geschichte" für Uiguren geschaffen hat (unser Resümee): "Auf Anfrage des Guardian erklärte die chinesische Botschaft in London, die Dokumente seien 'reine Fälschung'. Mehrere unabhängige Experten stuften das geleakte Material hingegen als authentisch ein. Das wohl wichtigste Dokument, ein detailliertes Memo des obersten Sicherheitschefs der Region, erklärt die dogmatischen und die praktischen Grundlagen des Lagersystems. Weitere Papiere beschreiben eine staatliche Massenüberwachung von Orwell'schem Ausmaß. Vor einigen Tagen berichtete die New York Times erstmals über geheime Regierungsdokumente, die das theoretische Fundament hinter der Masseninternierung beschreiben. Die China Cables belegen nun, wie eine der wohl größten Masseninternierungen seit dem Zweiten Weltkrieg organisiert wird." Die Auswertung der Cables durch die SZ finden Sie hier.

Die Demokraten haben bei den Bezirkswahlen in Hongkong einen Erdrutschsieg errungen, berichten alle Zeitungen, etwa auch die Hongkong Free Press. Der Sieg verdankt sich auch dem Wahlsystem: "Bei der Wahl wurde eine Rekordbeteiligung von 71,2 Prozent erreicht, wobei rund 2,94 Millionen Menschen ihre Stimme abgaben. Die Demokraten gewannen etwas weniger als 60 Prozent der Stimmen, aber - da die Wahl nach dem 'First-Past-the-Post'-System durchgeführt wurde - gewannen sie fast 400 der 452 Sitze. Das Pro-Beijing-Camp gewann nur 58 Plätze."

In der Parteizeitung Global Times klingt der Kommentar zu den Wahlen in Hongkong so: "Chinas Entwicklung und Fortschritt sind unaufhaltsam. Die Politik Hongkongs wird sicherlich zunehmend mit der Entwicklung und dem Fortschritt Chinas verknüpft sein. Dies ist der wichtigste historische Trend. Das Land wird Hongkong nie im Stich lassen und nie die Menschen und Kräfte ignorieren, die das Mutterland und die Stadt lieben."
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Religion

Religionen sind bei aller Unschärfe des Begriffs nicht als Phänomene zu begreifen, denen es in irgendeiner Weise um "Frieden" geht, schreibt der Historiker Wolfgang Reinhard auf der Gegenwart-Seite der FAZ. Und das gilt auch für die eigentlich so friedfertigen Christen: "Weil sich alle Völker immer für besser als die anderen halten, hatte sich daraus historisch ein besonders penetrantes, weil doppeltes Überlegenheitsbewusstsein der Christen ergeben. Auf der einen Seite verachteten sie wie die antiken Griechen und Römer immer noch den Rest der Welt als Barbaren. Auf der anderen Seite verachteten sie wie die Juden und die Muslime als Bekenner monotheistischer Religionen den Rest der Welt als Ungläubige. Auf diese Weise verknüpften die Christen beides zu besonders brisanter Arroganz."
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Kulturpolitik

In der SZ fragt sich Johann Schloemann, wie er zu dem Vorschlag steht, über die rund eine Millarde Euro teure Sanierung der Stuttgarter Oper durch eine Volksabstimmung zu entscheiden. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat das erstmal nicht ausschließen wollen. Schloemann sieht im Ganzen mehr Gründe, die gegen einen Volksentscheid sprechen, aber ungemütlich wird ihm bei den jüngsten Kulturprojekten (Elbphilharmonie, Berliner Museen, Gasteig in München, Kölner Oper, Deutsches Museum München) auch: "Auch nach den Maßstäben der weltweit einzigartig dichten, öffentlich finanzierten deutschen Kulturlandschaft - die sich historisch der landesfürstlichen Repräsentation in vielen Kleinstaaten verdankt - fällt gegenwärtig eine Ballung von monströs teuren und hochwertigen Großprojekten auf." Man müsse "auch ohne kunstfeindlichen Populismus darüber diskutieren können, wie sich jene Riesenvorhaben heute zur eigentlichen kulturellen Praxis an der gesellschaftlichen Basis verhalten, also etwa zur Frage, wie viele Menschen Bücher lesen, selber Musik machen oder sich in Kunst vertiefen."
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Internet

Auf dem sozialen Netzwerk Tiktok teilt man lustige Videos. Das Netzwerk gehört einem chinesischen Unternehmen, auch die deutsche Filiale wird chinesisch geleitet. Politische Inhalte kommen nicht vor und werden von einem riesigen Team wohl gelöscht, berichten  Markus Reuter und Chris Köver, die mit einem Moderator von Tiktok sprechen konnte, bei Netzpolitik: "Nicht nur Inhalte können ausgebremst werden, auch ganze Hashtags, erzählt uns die Quelle. Überhaupt scheint TikTok ein System des Promotens und Ausbremsens zu fahren, bei dem bestimmte Inhalte sichtbar und viral sind, andere hingegen nie durchstarten und keine Sichtbarkeit erhalten. Die Kontrolle über das, was Menschen auf TikTok sehen, liegt vor allem in der Hand des Unternehmens."
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Europa

Venedig, wo es am Wochenende wieder Hochwasser gab, ist eine Art Gradmesser für den Klimawandel, schreibt Luca Mercalli in La Stampa: "In einem Jahrhundert ist der Meeresspiegel in Venedig allein durch den Klimawandel um etwa 15 Zentimeter gestiegen, zu denen wir weitere 20 weitere Zentimeter rechnen müssen, die sich durch die Absenkung der Stadt aus geologischen Gründen ergeben. Insgesamt ist das Meer 35 Zentimeter höher als vor hundert Jahren, und so haben die Gezeiten, die über 110 Zentimeter steigen, dramatisch zugenommen: 82 Fälle im letzten Jahrzehnt, vor 1960 waren es weniger als zehn pro Jahrzehnt. Doch das Mose-Projekt wurde vor etwa zwanzig Jahren entworfen und sah trotz aller Studien an eine Erhöhung bis 2100 nur eine Erhöhung von 22 Zentimetervor. Es ist also nicht verwunderlich, dass im Wohnzimmer Wasser steht. Und in Zukunft wird es noch schlimmer, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden."

Der georgische Journalist Sandro Gvindadze porträtiert in der taz den Milliardär Bidzina Iwanischwili, der in Georgien die Strippen zieht, bis hin zu der Besetzung von Regierungsposten, aber selbst kein Mandat hat: "Stellen Sie sich vor, dass sich Ihr Vermögen auf 5,7 Milliarden Dollar beläuft, was fast anderthalbmal so viel ist wie das Staatsbudget. Stellen Sie sich vor, Sie sind in Russland reich geworden, und man nannte Sie in den 90er Jahren in Geschäftskreisen 'Schlange'. Und stellen Sie sich vor: 20 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Viele sind so bedürftig, dass sie bereit sind, ihre Stimme bei Wahlen für einen Sack Kartoffeln zu verkaufen. Und jetzt denken Sie darüber nach, wie groß die Macht ist und wie viele Möglichkeiten Sie haben, diese Macht aufrechtzuerhalten?"
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Gesellschaft

Das Hymen ist kein "Jungfernhäutchen", und "Jungfräulichkeit" ist ein soziales Konstrukt, wie man kürzlich schon in der Marie Claire nachlesen konnte (unser Resümee). Das Hymen reißt auch nicht beim ersten Geschlechtsverkehr, schreibt die Ärztin Verena Brown jetzt in einem Post, der in den sozialen Netzen (hier auf Facebook) viel Aufsehen erregt und den hpd.de übersetzt: "Hymen sehen aus wie zerknäulte Haargummis und ganz ähnlich wie Haargummis sind sie dehnbar. Sie dehnen sich so weit aus, dass sie sich einem Penis und anderen Objekten anpassen können. Sie dehnen sich tatsächlich sogar so weit aus, dass sie einem Baby Platz machen können. Das Hymen ist immer offen. Kleine Mädchen werden mit einem Loch darin geboren. In seltenen Fällen werden Mädchen ohne eine solche Öffnung geboren. Es handelt sich dabei um einen medizinischen Zustand, der als 'Hymenalatresie' (englisch 'imperforate hymen') bezeichnet wird und dessen Behebung eine Operation erfordert."

Laut einer Mitteilung des BKA nimmt die Gewalt gegen Frauen vor allem in Partnerschaften zu, meldet Zeit online. Im Tagesspiegel fordert Anja Nordmann, Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrats, diese Gewalt nicht mehr länger als "Familiendrama" oder "Beziehungstragödie" zu verharmlosen, sondern als "das zu benennen, was sie sind: 'Frauenmord' oder 'Femizid.'" Außerdem fordert sie dazu auf, mehr Informationen zu sammeln: "Dazu gehört die Aufnahme der Kategorie 'Geschlecht' in die Polizeikriminalstatistik zu 'Hasskriminalität' für politisch motivierte Straftaten. Denn ähnlich wie bei rassistisch motivierten Straftaten brauchen wir verlässliche Daten über Straftaten gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Mit der Lücke in der Kriminalstatistik geht auch der Forschungsstand einher. Verlässliche und aktuelle Forschung zum Thema Frauenhass ist nötig, um deren Ursachen zu verstehen und zu bekämpfen."
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Ideen

Digitalisierung und World Wide Web sind eigentlich "nichts anderes als ein großangelegtes antiplatonisches Experiment, bildlich gesprochen nichts Geringeres als der erneute revolutionäre Versuch, die Welt 'vom Kopf auf die Füße' zu stellen: Einheit der Phänomene produziert Vielheit der Ideen", verkündet in der NZZ fröhlich der Philosoph Walther Ch. Zimmerli. Für die Philosophie bedeutet das, "mit ihrem traditionellen - platonisierenden - begrifflichen Instrumentarium den Versuch unternehmen zu müssen, dieses zu überwinden. Das aber setzt die Einsicht voraus, dass wir es in unserer digitalisierten Welt in zunehmendem Maße nicht mehr mit naiv anzunehmenden Dingen und Sachverhalten auf der einen und deren begrifflicher Repräsentation auf der anderen Seite zu tun haben. Vielmehr geht es um die Welt realistisch interpretierter digitalisierter Zeichen, die sich, wie uns jeder Strichcode und jede erfolgreiche Rechnersimulation zeigen, semiotisch auf die zweiwertige Logik reduzieren lässt. Damit aber ist die Tür zu einer umfassenden Algorithmisierung weit aufgestoßen, die nun nicht nur alles durchdringt, sondern auch erlaubt, eine anscheinend vollständig neue virtuelle Realität zu erschaffen." Aha.
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Medien

Silke und Holger Friedrich, die Neubesitzer des Berliner Verlags, antworten im Interview mit Harald Staun von der FAS auf die Frage, warum sie nicht früher über Holger Friedrichs Stasi-Vergangenheit gesprochen haben mit taktischen Argumenten: "Das haben wir schon beantwortet. Was wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen? Hätten wir das im Editorial machen sollen? Das glauben wir nicht, weil wir darin eine Aussage dazu gemacht haben, welchen Beitrag wir in der Zukunft leisten wollen. Vor dem Kauf des Verlages? Dann würden wir nicht hier sitzen - und wir glauben, dass damit eine Chance vertan wäre. Insofern diskutieren wir dieses Thema zu einem Zeitpunkt, an dem wir uns der Redaktion gegenüber schon als neue Eigentümer bewiesen haben."
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