9punkt - Die Debattenrundschau

Konfliktherd für die Ewigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2019. Christen haben einen Arbeitskreis in der SPD, Muslime haben einen, Juden auch, aber Säkulare dürfen keinen gründen, berichtet die FAZ. In der NZZ verteidigt Pascal Bruckner das fragile Regime der Demokratie: "Das Unvollendete ist ein Wesenszug der Demokratie. Ihre Herrschaft ist immer eine kommende." Niall Ferguson erklärt, warum sie von Schneeflocken gefährdet wird. Und im Guardian erklärt Ivan Krastev, warum Orban und KonsortInnen bei der Europawahl nicht obsiegen werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Gibt es auch einen antisäkularen Rassismus? Christen haben einen Arbeitskreis in der SPD, Muslime haben einen, Juden auch. Nun wollten auch ein paar versprengte Säkulare einen Arbeitskreis gründen, berichten Klaus Max Smolka und Michael Ashelm ausgerechnet im Wirtschaftsteil der FAZ. Aber sie dürfen nicht! "Mehr noch: Generalsekretär Lars Klingbeil verbietet ihnen mit Hinweis auf die Parteijustiziarin, sich als 'Sozialdemokraten' auszugeben. 'Das gilt auch für öffentliche Auftritte, zum Beispiel im Internet' schreibt Klingbeil in einem Brief an die Gruppe, welcher der FAZ vorliegt." Zum "Sprecher*innenkreis Säkulare Sozis" gehört etwa der Bundestagsabgeordnete Swen Schulz. Klingbeil äußert sich in dem Brief in aller Klarheit: "Insbesondere meine ich damit die Entscheidung, dass der Parteivorstand keinen säkularen Arbeitskreis einrichten wird und dass Ihr daher den Namen 'SozialdemokratInnen' nicht weiter verwenden könnt."

Was tun eigentlich Männer zuhause, fragt der Autor und Männerforscher Thomas Gesterkamp in der taz, und muss konstatieren, dass Männer sehr wohl Hausarbeit leisten, die nur von der von "überwiegend von Frauen betriebenen Geschlechterforschung" nicht beachtet werde: "Die Frauenforscherinnen nämlich hatten Tätigkeiten wie Steuererklärung oder die Fahrradreparatur gar nicht erst berücksichtigt. Diese Aktivitäten sind jedoch keine egomanische Selbstverwirklichung im Hobbykeller. Für das reibungslose Funktionieren eines Familienhaushalts ist es bedeutsam, ob die Lampe im Bad wieder funktioniert. Diese Familienarbeit darf nicht einfach wegdefiniert werden." Und nebenbei " tragen sie deutlich mehr zum Haushaltseinkommen bei als ihre Partnerinnen".

Außerdem: Der amerikanische Jura-Professor und Aktivist Khaled Beydoun beklagt im Gespräch mit Dorothea Hahn in der taz ein seit dem 11. September 2001 zunehmendes Klima der "Islamophobie" in den USA. Und Patricia Hecht unterhält sich in der heutigen literataz mit der Autorin Kate Manne ("Down Girl") über das Thema Misogynie.
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Ideen

Der französische Philosoph Pascal Bruckner fürchtet um die Demokratie in Europa. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie gehasst wurde und jetzt scheint es wieder so weit zu sein, schreibt er in der NZZ. Was die "Empörten" derzeit am meisten aufbringt, ist ihr schillernder Charakter, den man gleichwohl unbedingt bewahren muss: "Das Unvollendete ist ein Wesenszug der Demokratie. Ihre Herrschaft ist immer eine kommende, und man würde sie betrügen, wenn man sie mit einem fest definierten Regime gleichsetzen würde. Wenn sie sich wie in Frankreich drei ebenso widersprüchliche wie unrealisierbare Ziele setzt und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit proklamiert, dann hält sie damit einen Konfliktherd für die Ewigkeit bereit. Und genau darum ist dieses System auch so verletzlich."

Der britische Historiker Niall Ferguson klagt in einem sehr langen Interview mit der NZZ über die vielen Schneeflocken unter den amerikanischen Studenten, über den Kulturkampf der Linken, der Konservative und Liberale zunehmend in die rechte Ecke drängt und den damit einhergehenden Niedergang des akademischen Diskurses: "In den 1980er Jahren hieß das: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heißt es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen. Die neue Diversität ist das Gegenteil von echter Vielfalt. In ihrem Namen werden all jene diskriminiert, die nicht der gewünschten Weltanschauung entsprechen."
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Europa

Die kommenden EU-Wahlen werden die ersten spannenden in der Geschichte der EU. Aber die Rechten werden nicht gewinnen, glaubt der bulgarische Politologe Ivan Krastev im Guardian. Denn erstens hat das Thema Migration einfach an Bedeutung verloren. Und "die migrationszentrierte Kampagne von Orbán wird an dem am besten gehüteten Geheimnis der EU scheitern, nämlich dass in Mitteleuropa und Teilen Südeuropas weniger die Einwanderung als die Auswanderung Sorgen macht. Ein beliebter Witz im kommunistischen Ostdeutschland war, dass die Behörden befürchteten, der letzte Ostdeutsche, der nach Westen ging, könnte vergessen, das Licht auszuschalten. Jetzt ist dieser Witz wieder da. Das heutige Problem Mitteleuropas unterscheidet sich nicht wesentlich von dem Ostdeutschland im Jahr 1961, als seine Regierung die Mauer baute. Schätzungsweise 3,4 Millionen Rumänen verließen ihr Land in den acht Jahren nach dem Beitritt zur EU im Jahr 2007 in Richtung Westeuropa. Und die Zahl der Ungarn, die seit der Machtübernahme von Orbán ausgewandert sind, ist heute höher als die Zahl der Ungarn, die nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 durch die sowjetischen Streitkräfte gegangen sind."

Die Debatten über das "No Outsider"-Programm an Schulen in Birmingham geht weiter. Das etwa vom Guardian gefeierte Programm soll Schülern Toleranz für Homosexualität und Transgender-Personen beibringen (unser Resümee). Aber an der Parkfield Community School protestierten muslimische Eltern gegen das Programm. Die Schule setzte das Programm ab. Inzwischen sind weitere Schulen in Birmingham gefolgt, berichtet Sima Kotecha auf der Website der BBC und bringt ein wunderbares Zitat des Sprechers der Bewegung, Amir Ahmed: "Moralisch gesehen akzeptieren wir Homosexualität nicht als eine gleichweitige Form der Sexualität. Das heißt nicht, dass wir homophob sind... Das wäre ja so, als würde man als islamophob behandelt, wenn man nicht an den Islam glaubt."
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Internet

Der Jurist Reto Hilty erklärt im Interview mit der SZ, warum die geplante EU-Reform des Urheberrechts ein Rückschritt ist: "Gewährt der Gesetzgeber Schutz, wo ein solcher nicht nötig wäre, kann das durchaus negative Folgen haben. ... Ein eindrückliches Beispiel lieferte die Musikindustrie vor bald 20 Jahren. Damals wurde es möglich, Songs über Internet herunterzuladen, was Nutzer auch zunehmend nachfragten. Jahrelang gab es aber nur illegale Anbieter, weil die Musikindustrie nicht bereit war, die notwendigen Lizenzen zu erteilen. Stattdessen setzte sie sich mit allen Mitteln für stärkeren Rechtsschutz ein, sogar für eine Kriminalisierung der Nutzer solcher Angebote. Verloren hat sie am Ende nicht nur diesen Kampf, sondern auch ein Jahrzehnt in der technologischen Entwicklung, letztlich zulasten der Verbraucher." Hilty hätte für eine Vergütungspflicht ähnlich der Kassettenabgabe plädiert, deren Früchte dann direkt an die Urheber hätte verteilt werden können. Aber dafür sei es jetzt wohl zu spät.

In der deutschen Politik gibt es bei strittigen Fragen der EU-Urheberrechtsreform ja wenigstens noch Unsicherheit. In Frankreich ist die Macht der traditionellen Lobbies - besonders der Filmindustrie - noch größer. Alexander Fanta  berichtet bei Netzpolitik, dass die französische Botschafterin in Berlin, Anne-Marie Descôtes, persönlich bei SPD-Abgeordneten für ein Ja vorstellig wurde. "Die Begegnung fand bei einem Europa-Abend der SPD am Donnerstag in Berlin statt. Botschafterin Descôtes bemängelte dort das 'merkwürdige' Verhalten der Partei beim Thema Urheberrecht, berichtet ein Teilnehmer. Botschaftsangehörige verteilten demnach Flyer, die vor 'falschen Interpretationen' der Reform warnen. Auf dem Flugzettel, der netzpolitik.org vorliegt, heißt es, Artikel 13 der Reform führe nicht zu Uploadfiltern. Der Text liest sich wortgleich wie einer des Rechteinhaberverbands GESAC."

Eine Gefahr bei Artikel 13 (Uploadfilter) benennt Internetaktivist Joe McNamee ebenfalls in Netzpolitik: "In unserer Gesellschaft ist Freiheit die Vorgabe, und Einschränkungen, einschließlich des Urheberrechts, sind die Ausnahme. Deswegen sind Sonderregeln vorgesehen, um übermäßige urheberrechtliche Einschränkungen zu vermeiden. So gibt es beispielsweise im EU-Recht Ausnahmen, sogenannte Schrankenregelungen, für die Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte im Privaten, für Satire, Bildung usw. Nach Artikel 13 müssten Filter in der Lage sein, diese Ausnahmen zu erkennen. Doch das können sie nicht. Deswegen wird es unmöglich sein, diese entscheidenden Ausnahmen richtig anzuwenden."

Und bei der Electronic Frontier Foundation schreibt Cory Doctorow zum geplanten europäischen Leistungsschutzrecht für Presseunternehmen: "Artikel 11 weist eine sehr beunruhigende Unklarheit auf: Er hat eine sehr vage Definition von 'Nachrichtenseite' und überlässt die Definition von 'Ausschnitt' der Gesetzgebung jedes EU-Landes. Schlimmer noch, der endgültige Entwurf von Artikel 11 enthält keine Ausnahmen zum Schutz kleiner und nicht kommerzieller Dienste, einschließlich Wikipedia, aber auch eines persönlichen Blogs. Der Entwurf gibt Medien nicht nur das Recht, Links zu ihren Artikeln in Rechnung zu stellen - er gibt ihnen auch das Recht, die Verknüpfung mit diesen Artikeln ganz zu verbieten (wo ein solcher Link ein Zitat aus dem Artikel beinhaltet), so dass Websites Kritiker bedrohen können, die über ihre Artikel schreiben."

Brauchen wir Upload-Filter denn wenigstens, um rechte Hassreden im Netz zu löschen? Auf Netzpolitik hat Thomas Rudl auch nach dem Attentat in Christchurch seine Zweifel. Totschweigen funktioniert einfach nicht mehr: "In einer vernetzten Welt, in der kurz nach dem Anschlag Donald Trump weißen Nationalismus und rechtsextremen Terror als keine große Gefahr einstuft, um wenig später, in der Sprache des Attentäters, vor einer 'Invasion' an der US-Grenze zu Mexiko zu warnen, in einer solchen Welt funktioniert es nicht mehr. Einen vorgeblichen 'Bevölkerungsaustausch' beklagt auch der Täter in seinem 74-seitigen Pamphlet. Die deutsche Bundeskanzlerin steht deshalb ganz oben auf der Tötungsliste des weißen Australiers, weil sie 'wie kaum jemand sonst Europa Schaden zugefügt und ethnisch von seinen Menschen gesäubert' habe. Ein Narrativ, das sich in derselben Form bei sogenannten Identitären findet wie auch bei Horst Seehofer, der Migration als 'Mutter aller Probleme' bezeichnet. Mit Ansichten solcher Art dürften die meisten schon mal konfrontiert worden sein, ob im Netz oder offline. Kein Uploadfilter wird sie je aus der Welt schaffen."
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Medien

Viel dringt nicht aus der FAZ über den knallharten Rauswurf des Herausgebers Holger Steltzner. Die SZ hat immerhin einiges in Erfahrung gebracht: "Der Abgang soll sogar für viele Ressortleiter überraschend gekommen sein. Zuletzt, heißt es, sei Steltzner nicht mehr in der Redaktion gesehen worden sei, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Informiert wurde die Redaktion am selben Tag wie die Öffentlichkeit, die verbleibenden Herausgeber besuchten jedes Ressort einzeln, um die Neuigkeit zu überbringen. Über die genauen Hintergründe der Trennung ließen sich Werner D'Inka, Jürgen Kaube und Berthold Kohler nicht aus, sie sollen aber betont haben: Inhaltliche Meinungsverschiedenheiten seien nicht der Grund."
Archiv: Medien
Stichwörter: Steltzner, Holger, FAZ