9punkt - Die Debattenrundschau

Treuer Vollstrecker der Befehle meines Herrn

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2018. Die New York Times druckt eine Rede Jamal Khashoggis, in der der Journalist den arabischen Frühling beschwor und auf demokratische Prozesse setzte. In seinem Blog bekennt Bernard-Henri Lévy seinen Abscheu vor Michel Onfray, der Emmanuel Macron mit zotigen Anspielungen auf Homosexualität anschwärzt. In der SZ zweifelt der Historiker Jürgen Zimmerer am Willen der Bundesregierung, sich mit dem kolonialen Erbe Deutschlands auseinanderzusetzen. Das europäische Leistungsschutzrecht wird der Öffentlichkeit schaden, warnt Netzpolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.10.2018 finden Sie hier

Politik

Die New York Times druckt eine Rede Jamal Khashoggis, die er bei einer Konferenz in Denver gehalten hat. Er beschwört den arabischen Frühling, der selbst einige (einigermaßen) gemäßigte Islamisten für die Demokratie begeistert habe, und beklagt den Rollback seitdem. Zugleich meint er, dass nur demokratische Prozesse die Gewalt in der arabischen Welt stoppen könne. "Die Leute verlieren ihre demokratischen Hoffnungen wegen des Scheiterns der Revolten im arabischen Frühling. Sie haben Angst, wie Syrien zu enden. Viele arabische Regimes, ihre Fernsehsender, ihre Autoren und Kommentatoren versuchen, den Leuten mit dieser Idee Angst zu machen vor Demokratie."

Inzwischen tröpfeln weitere Details über den Mord an Khashoggi in die Öffentlichkeit. Reuters meldet, dass Saud al-Qahtani, einer der engsten Berater des Prinzen Mohammed bin Salman, den Mord höchstpersönlich per Skype überwachte. Seine Loyalität zu seinem Herren hatte er vor vor Monaten schon per Twitter bekannt: "Glaubst du, ich treffe Entscheidungen ohne Anleitung? Ich bin ein Angestellter und ein treuer Vollstrecker der Befehle meines Herrn, des Königs und meines Herrn, des treuen Kronprinzen." Und middleasteye.com bringt neue Informationen über die Todesschwadronen des saudischen Kronprinzen. Khashoggi soll den islamistischen Muslimbrüdern nahegestanden haben und sich darum in der Türkei unter Erdogan, der ein Bündnisgenosse der der Muslimbrüder ist, sicher gefühlt haben, berichtete bereits vor einigen Tagen Christian Böhme im Tagesspiegel.
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Geschichte

In der SZ zweifelt Jürgen Zimmerer, Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg, am Willen der Bundesregierung, sich mit dem kolonialen Erbe Deutschlands auseinanderzusetzen. Anlass dafür ist ein etwas ungeschicktes Interview, das der persönliche Afrikabeauftragte der Bundesregierung Günter Nooke kürzlich der BZ gab. "Auch das Humboldt Forum, in gefährliche Turbulenzen geraten durch seine Weigerung, sich der kolonialen Amnesie auch nur zu stellen, scheut die offene Debatte mit Kritikern im In- und Ausland. Man wählt lieber selbst aus, mit wem man diskutiert. Derweil hält der neue Intendant Hartmut Dorgerloh die Planung funktionierender Rolltreppen für wichtiger als inhaltliche Debatten über das (post-)koloniale Erbe. Verständlich, denn es braucht Manager, und er steht unter enormem Zeitdruck, dennoch: Zukunft geht anders."

Außerdem: Marion Hahnfeldt besucht für die Welt Kory Darnall in Iowa, der sich für die Erinnerung an die 200.000 deutschen Einwanderer einsetzt, die im amerikanischen Bürgerkrieg für die Abschaffung der Sklaverei kämpften.
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Medien

Die französische Zeitung Le Monde, einst eines der renommiertesten Institute der Welt, ist heute im Besitz einiger Milliardäre. Einer von ihnen, Matthieu Pigasse, hat nun Anteile an den weithin unbekannten tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky verkauft. Aber Jérôme Lefilliâtre versichert in Libération, gestützt auf eine in Le Monde selbst zitierte anonyme Quelle, "dass Kretinsky gekommen ist, um die Tageszeitung ganz zu kaufen, und nicht um eine Statistenrolle zu spielen. Diese Quelle ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: Nach unseren Informationen handelt es sich um niemand anderen als den tschechischen Premierminister Andrej Babis, den großen Rivalen Kretinskys in seinem Land. Der Regierungschef soll diese Vertraulichkeit gegenüber einem Korrespondenten von Le Monde geäußert haben. Übrigens hat Kretinsky nicht den Ruf, in das Kapital von Unternehmen einzutreten, um dort die Büropflanzen zu gießen." Dem Milliardär gehören in Frankreich bereits das Meinungsblatt Marianne und die Modezeitschrift Elle.

In der FAZ reibt sich Michael Hanfeld die Hände: Grund ist ein Gutachten des Verfassungsrechtlers Hubertus Gersdorf, der den öffentlich-rechtlichen Sendern ein "Grundrecht auf Quotenorientierung" abspricht. Um für Qualität zu sorgen, dürfe der Gesetzgeber den Sendern sogar inhaltliche Programmschwerpunkte vorgeben. "Das reiche bis zu Sendezeitvorgaben, da zur 'Unzeit' (etwa mitten in der Nacht) gesendete Programme den Versorgungsauftrag der Sender nur in geringem Maß erfüllten. Informationssendungen zur besten Sendezeit hingegen stellten sicher, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk unabhängig von Einschaltquoten ein Programm biete, das - an dieser Stelle zitiert Gersdorf das Bundesverfassungsgericht -, Sendungen enthalte, 'die über die Standardformate von Sendungen für das Massenpublikum hinausgehen'."

Auf DWDL weist Uwe Mantel ausdrücklich darauf hin, dass der Dokumentarfilmer-Lobbyverband AG DOK, den Hanfeld in seinem Artikel so eifrig zitiert, Auftraggeber des Gutachtens von Gersdorf ist und hier "Lobbyarbeit in eigener Sache" macht: "Ziel sei es, das Argument, der Gesetzgeber könne keinen Einfluss auf die Schwerpunktsetzung des Programms nehmen, zu entkräften. 'Mit diesem Scheinargument haben die Sender bisher immer den Weg zu einem besseren Fernsehprogramm blockiert. Wir sind sehr froh, dass Professor Gersdorf es jetzt zum Einsturz gebracht hat', kommentiert der AG-DOK-Vorsitzende Thomas Frickel und verweist auf die Schweiz, wo in Folge der No-Billag-Initiative festgelegt wurde, dass künftig 50 Prozent des Programmbudgets für Informationsprogramme ausgegeben werden müssen."
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Gesellschaft

In der SZ ist der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk froh, dass der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, wegen der sexuellen Übergriffe eines Mitarbeiters gestolpert ist. Ein Racheakt war das nicht, versichert er, während er gründlich nachtritt und Knabe als Teil der "Deutungselite" markiert. Aber jetzt kann man wenigstens mal über ein neues Gedenkstättenkonzept reden, bei dem nicht mehr so strikt zwischen Stasi-Tätern und -Opfern unterschieden wird. In diesem Punkt hat ihn Knabes Konzept nämlich immer selbst an die DDR erinnert: "Im Prinzip erinnert seine Einrichtung an die Mahn- und Gedenkstätten der DDR - auch dort führten einstige Häftlinge die Besucher durch die Ausstellungen. Mit Holzhammerargumenten wurde allen eingetrichtert, dass es nur eine Wahrheit gebe, und diese führe gesetzmäßig zur DDR. Nur hier würde das Erbe des Antifaschismus richtig bewahrt. Hatte diese Antifaschismuspädagogik etwas mit den neofaschistischen Umtrieben in den Achtzigern und Anfang der Neunzigerjahre im Osten zu tun? Ja, da sind sich die Experten einig. Nun muss sich auch die DDR-Aufarbeitung, nicht nur wie Knabe sie vertritt, unangenehme Fragen gefallen lassen. Die unangenehmste vielleicht: Hat sie mit dazu beigetragen, was gegenwärtig im Osten geschieht?"
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Internet

(Via turi2) YouTube-Chefin Susan Wojcicki ruft die Nutzer - besonders jene, die selbst Videos hochladen - im Blog der Plattform dazu auf, gegen Artikel 13 der geplanten EU-Urheberrechtsreform zu protestieren, der Uploadfilter für Videos vorsieht: "Falls Artikel 13 wie vorgeschlagen umgesetzt wird, sind hunderttausende Arbeitsplätze bedroht - von  europäischen Creatorn, Unternehmen, Künstlern und jedem, den sie beschäftigen. Der Vorschlag könnte Plattformen wie YouTube dazu zwingen, nur eine kleine Anzahl von Inhalten großer Unternehmen zuzulassen. Es wäre schlichtweg zu riskant, Inhalte von kleinen Videomachern zu präsentieren, da die Plattformen nun direkt für diese Inhalte verantwortlich wären."

Ein Argument gegen Artikel 11 der EU-Urheberrecht, also Leistungsschutzrechte, die das Zitieren von Presseartikeln schwieriger machen, bringt unterdessen Julia Krüger in Netzpolitik vor: "Ein restriktiver Umgang mit Presseartikeln, Werken und anderen Schutzgegenständen in sozialen Netzwerken impliziert indirekt eine Begrenzung qualitativ hochwertiger Inhalte, insbesondere für sozial schwache Schichten. Denn diese sind häufig nicht bereit oder fähig, für die hochwertigen Inhalte von FAZ & Co. zu zahlen. Gleichzeitig müssen wir davon ausgehen, dass bei rassistischen, nationalistischen oder verschwörungstheoretischen Inhalten tendenziell keine Urheberrechte geltend gemacht werden."
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Europa

Bebend vor Abscheu antwortet Bernard Henri Lévy in seinem Blog La Regle du Jeu auf einen offenen Brief des einst als Philosoph geltenden Michel Onfray voller zotiger Anspielungen auf Emmanuel Macrons angebliche Homosexualität - Anlass ist ein Foto, das Macron bei einem Besuch auf den Antillen zeigt. Ein junger Schwarzer nimmt ihn in den Arm und zeigt dabei den Stinkefinger, eine Geste, die Onfray in seinem Blog als Anspielung auf Analsex deutet. "Hier ist es ein Präsident, den man bloßstellt", schreibt Lévy, "aber morgen mag diese Gewalt jedermann drohen. Eine Gewalt, die zur Zeit noch symbolisch ist, aber wurde dieses Wort 'symbolisch' nicht schon zur Zeit des entstehenden Faschismus gebraucht, als die Schwarzhemden in ähnlicher Lust zur Vergewaltigung wie heute Onfray ihren Gegnern hinterhierliefen, um ihnen reinigendes Rhizinusöl zu verabreichen?"

Fast schon belustigend, wie der britische Marxist Terry Eagleton trotz mancher Nachfragen von Ronald Pohl vom Standard partout nicht über den Brexit reden will: "Ein nicht wahnsinnig bedeutendes Land wie Großbritannien will plötzlich nicht mehr Mitglied in einem Klub von reichen Leuten sein. Das ist vielleicht nicht das bedeutsamste Vorkommnis in einer Welt voller Völkermorde. Aber natürlich ist es ein weiteres Symptom für den globalen Konflikt zwischen Neoliberalen und Populisten. In der Tat müssen wir die Möglichkeit einer Wiederkehr des Faschismus ins Auge fassen..."

Im Interview mit der FAZ ist Irina Prochorowa, Moskauer Verlegerin und Schwester des Milliardärs Michail Prochorow, verhalten optimistisch, was die Zukunft Russlands angeht. Trotz aller Repressionen formiert sich eine Zivilgesellschaft von unten, erzählt sie: "Was wir jetzt sehen, ist der allmähliche Zerfall des sowjetischen Bewusstseins. Der Pseudostalinismus, die Einschüchterungsmethoden, die wie eine Parodie auf das Repressionssystem eines totalitären Regimes nach stalinistischem Modell wirken, sind Symptome der Krise des alten politischen Systems im Kontext der vierten industriellen Revolution. Ich bin kein reiner Optimist, ich kenne die Schwierigkeiten, doch das Interesse an ernsthafter Lektüre und die Suche nach neuen Wegen, neuen Werten existiert. Es gibt so viele Runde Tische, Vorlesungsreihen zu philosophischen, neuerdings auch zu ethischen Fragen. Unser Koordinatensystem funktioniert nicht mehr, was Gut ist und was Böse, ist nicht mehr selbstverständlich."
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Ideen

Maurizio Ferraris, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Turin, schreibt für die NZZ einen Text und betrachtet beim Verfertigen seine Hände: "Wittgenstein hat einmal geschrieben, dass sich die wahre Geistesarbeit im Schüler äußere, der mühevoll versucht, halbwegs richtige Sätze zu schreiben. Dabei wird er an seine niederösterreichischen Grundschüler gedacht haben, die er mit seiner Handgreiflichkeit in Schrecken versetzte. Seine Aussage ist dennoch wahr. Der Geist ist kein Gespenst, das im Kopf herumwandert, sondern manifestiert sich im Außen, zumeist in schriftlicher Form, und schöpft aus dem riesigen Vorrat an Handfertigkeiten, den wir 'Kultur' nennen."
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Stichwörter: Ferraris, Maurizio, Ferrari