9punkt - Die Debattenrundschau

Wie Demut aussieht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2018. Angela Merkel ist heute in China. Auf ihr ruhen die Hoffnungen für Liu Xia - Merkel ist eine der letzten westlichen Repräsentantinnen, die Menschenrechtsverletzungen in China überhaupt noch ansprechen, schreibt die die taz. Nach wie vor wird über Mark Zuckerbergs Auftritt vor dem EU-Parlament diskutiert - Zuckerberg stand schlechter da, als er selber glauben mag, meint Sascha Lobo in Spiegel online. Unter deutschen Wissenschaftlern hat sich eine rege Debattenkultur entwickelt - abseits der Zeitungen, auf Twitter, berichten Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.05.2018 finden Sie hier

Politik

Die meisten westlichen Regierungen trauen sich nicht mehr, die chinesischen Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren. Angela Merkel ist eine Ausnahme, schreibt Felix Lee in der taz. Heute wird sie sich bei ihrem China-Besuch mit Dissidenten treffen, die sich vor allem eine Erleichterung für Liu Xia erhoffen. "In der Vergangenheit waren solche Treffen für die Dissidentenszene hilfreich, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Die Führung scheint sich davon aber immer weniger beirren zu lassen. Die Bürgerrechtsanwälte Jiang Tianyong und Yu Wensheng, die Merkel bei früheren Besuchen traf, sind inzwischen in Haft."

Liu Xia, die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, den die Chinesen an Krebs verrecken ließen, bevor sie seine Asche im Meer verstreuten, ist inzwischen aus Peking verschwunden, berichtete schon gestern Johnny Erling in der Welt. Offenbar wollen die Behörden nicht, dass sie in der Stadt ist, wenn Angela Merkel eintrifft, "die sich seit Jahren für die Aufhebung der Sippenhaft und des Hausarrests von Liu Xia einsetzt. Bei ihrem vergangenen Besuch fragte Merkel Chinas Staatschef Xi Jinping zweimal direkt nach dem Schicksal von Frau Liu." Einzige Hoffnung wäre, so Erling, dass das Verschwinden ein Vorzeichen für eine Ausreise wäre, die sich Liu Xia wünscht: "Dazu müsste Präsident Xi aber über seinen Schatten springen. Das hat er noch nie gemacht."

Ebenfalls in der Welt warnt der Unternehmer und ehemalige Premierminister von Dänemark, Anders Fogh Rasmussen, dass chinesische Investitionen in Europa, etwa in Spitzentechnologien, auch das Ziel haben, einen "Brückenkopf" nach Europa zu bauen und die EU weiter zu spalten: "Während chinesische Unternehmen in der Lage waren, umfassend in Europa zu investieren, wurde dies europäischen Unternehmen bei Investitionen in China häufig untersagt, was allein im Jahr 2016 zu einer Reduzierung von 25 Prozent führte."

Deprimierendes sagt der Historiker Tom Segev, der gerade eine Ben-Gurion-Biografie vorgelegt hat, im Gespräch mit Christian Buckard von der Jüdischen Allgemeinen über Israel und den Nahostkonflkt: "Umso älter dieser Staat wird, desto mehr bin ich mir bewusst geworden, wie hoch der Preis ist, den der Zionismus kostet... Ben Gurion war von Anfang an dieser Ansicht. 1919 hat er bereits erklärt, dass es mit den Arabern in Palästina eigentlich keinen Frieden geben kann. Weil es einfach kein Volk gibt, das sein Land aufgibt. Das gibt es nicht! Er hat auch manchmal gesagt: 'Wenn ich Araber wäre, dann würde ich dem Terrorismus beitreten.' Also, der Preis für die Entstehung des Staates Israel ist das Bewusstsein, dass es auf lange Zeit - es gibt nichts Ewiges - keinen Frieden geben wird."
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Internet

Nein, auch wenn sich das EU-Parlament nicht sehr PR-tauglich präsentierte - die Befragung Mark Zuckerbergs war ein Desaster nicht für die EU, sondern für Facebook, insistiert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne. Zuckerbergs Gebaren könnte einerseits zu falschen Regulierungen, andererseits zu drakonischen Sanktionierungen führen: Gerade im Bereich des Kartellrechts habe die EU bereits agiert - mit einer zehnstelligen Strafe gegen Google. "Die wichtigste Frage der Anhörung kam von  Manfred Weber (CSU), dem Fraktionsvorsitzenden der konservativen Parteien: 'Können Sie mich überzeugen, Facebook nicht zu zerschlagen?' Ich kann nicht erkennen, dass Zuckerberg das gelungen ist, und bätschi, das wird teuer."

Auch Alexander Fanta von Netzpolitik sieht die EU nach der Befragung nicht in der Verliererrolle: "Die Anhörung ist zweifelsohne in ihrem Anspruch missglückt, den Facebook-Chef zur Antwort auf wichtige Fragen zu zwingen. Dennoch war sie wichtig, denn erstmals wurden vor laufenden TV-Kameras von führenden EU-Politikern einige entscheidende Fragen zu den dubiosen Datenpraktiken und dem problematischen Geschäftsmodell Facebooks gestellt." Dabei ließ sich Zuckerberg "für seine politischen Auftritte sogar von Psychologen beibringen, wie Demut aussieht", behauptet Annika Leister in der FR.

Bemerkenswertes über Uber und Regulierung berichtet unterdessen Mark Scott in politico.eu, der auf einen Satz Dara Khosrowshahis, des neuen Uber-Chefs verweist: "Regulatoren werden eine Rolle spielen, und das ist auch ihr Recht." Uber hat nach den Kriegen mit europäische Taxi-Lobbyisten und Regierungen inzwischen Kreide gefressen, so Scott, "und versucht sich inmitten des Anti-tech-Rückschlags als eine andere Art von Tech-Firma neu zu erfinden. Zu Ubers  Bemühungen gehören über den ganzen Kontinent Partnerschaften mit Städten und Taxi-Verbänden, die der Präsenz von Uber in der Region bisher feindselig gegenüberstanden."

Unter deutschen Wissenschaftlern hat sich eine rege Debattenkultur entwickelt - abseits der Zeitungen, auf Twitter, berichten Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich in der Zeit und verweisen auf die Tweets unter anderem des Historikers Erich Keller (@erich_keller_), der Autorin Kathrin Passig (@kathrinpassig), des Soziologen Armin Nassehi (@ArminNassehi), des Historikers Remo Grolimund (@grawzone), des Philosophen Daniel-Pascal Zorn (@fionnindy), des Juristen Christoph Möllers (@ChristophMllers), des Soziologen Stephan G. Humer (@netsociology) oder der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (@ulrikeguerot): "An Accounts wie ihrem wird deutlich, dass Tweets viel mehr sein können als eine Abfolge von Kurzmitteilungen. Vielmehr ergeben sie in der Summe ein vielschichtiges, sich immer neu konturierendes Bild eines Themenfelds, und wer etlichen Accounts von Vermittlern folgt, fühlt sich mindestens so gut informiert wie bisher nur Abonnenten einer großen Zeitung, die deren Leitartikler auch genau zu unterscheiden und individuell zu schätzen wussten. ... Was spräche also dagegen, bei Berufungsverfahren künftig nicht nur darauf zu achten, was und wo jemand publiziert und wie viele Drittmittel er oder sie bereits eingeworben hat, sondern ebenso Aktivitäten in den sozialen Medien zu würdigen? Und hat, wer sich bei Twitter als Vermittler hervortut, nicht zudem eine spezifische Art der Lehrerfahrung gesammelt?"

500 Menschenjahre Arbeit hat Google nach eigenen Angaben in die Vorbereitung auf das DSGVO investiert, weiß Oliver Voss im Tagesspiegel. Für kleinere Unternehmen, Selbstständige und andere gibt es dennoch keinen Grund zur Hysterie, winkt Voss ab: "Natürlich erfordert die Vorbereitung einiges an Arbeit, ein Großteil der Bestimmungen galt hierzulande im Kern aber auch schon vorher." Und in der FR warnt die Grünen-Abgeordnete Tabea Rössner davor, die DSGVO aufzuweichen und ärgert sich mit Blick auf Facebook: "Wäre sie bereits früher in Kraft getreten, könnten wir der Plattform jetzt empfindliche Geldstrafen auferlegen." Für die SZ hat Marvin Strathmann mit dem Datenschützer Thomas Kranig gesprochen, dessen Broschüre "Erste Hilfe zur Datenschutz-Grundverordnung für Unternehmen und Vereine" sich aktuell auf Platz eins der Bestseller-Liste für Bücher von Amazon befindet.

Auch der Mossad hat seine Leitlinien mit Blick auf die DSGVO überarbeitet und teilt per Twitter mit:


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Europa

Die nationalkonservative PiS in Polen kann sich noch so "antikommunistisch" geben - Jaroslaw Kaczynskis Machtfülle, mediale Regierungspropaganda, der Zugriff der PiS auf staatliche und öffentliche Institutionen oder die aktuelle Geschichtspolitik erinnern den Publizisten Reinhold Vetter in der NZZ doch sehr an die sozialistische Volksrepublik vor der politischen Wende von 1989: "Das Bestreben der PiS, einen starken Staat mit autoritären Zügen zu schaffen, entspricht dem Verlangen eines Teils der polnischen Gesellschaft nach einem Obrigkeitsstaat mit sozialstaatlicher Komponente. Mindestens ein Drittel der Polen, so der Historiker Andrzej Friszke, akzeptiere autoritäre Regierungsformen, die ja auch von der katholischen Kirche unterstützt würden. Diese Menschen verlangten vom Staat, dass er sie schütze, besonders in von ihnen als bedrohlich empfundenen extremen Situationen - etwa angesichts der Flüchtlingskrise."

Nicht nur die britische Politik ist "zerklüftet", bald könnte es schon das ganze Land sein, befürchtet in der SZ der britische Dichter und Literaturwissenschaftler Jeremy Adler mit Blick auf die "bizarren" Versprechungen der Brexiter: "Regionen wie Edinburgh befinden sich bereits in einem Machtkampf mit London, denn sie wollen lieber direkt mit Brüssel verhandeln. Auch Wales hat dafür gestimmt, seinen eigenen Weg zu gehen. Besonders riskant ist die Situation in Nordirland. Die Administration dort ist zur Zeit des Amtes enthoben. Findet die britische Regierung für das Verhältnis zu Irland nach dem Brexit keine vernünftige Lösung, vor allem dafür, wie die Grenzen geregelt werden, dann droht dort Gewalt." Und Zeit Online meldet, dass Deutschland ein neues Rekordhoch bei der Einbürgerung von BritInnen verzeichnet.
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Medien

Die Verlage DuMont und Madsack gründen eine gemeinsame Hauptstadtredaktion, berichtet Anne Fromm in der taz. Für die ehemals eigenständigen Redaktionen von Berliner Zeitung und Kurier, die 2016 unter großen Personalverlusten zusammengelegt wurden, bedeutet das weitere Stellenstreichungen.

Sehr scharf kritisiert Uwe Vorkötter, ehemals Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, diese Fusion bei Horizont: "Es gibt Fusionen auf Augenhöhe. Es gibt Partnerschaften. Es gibt Beteiligungen. Im Falle DuMont trifft all das nicht zu. Im Fall DuMont werden wir Zeugen einer Kapitulation. Das einstmals stolze und erfolgreiche Medienhaus gibt auf."
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Gesellschaft

Die taz setzt ihre Serie zu Abtreibung in Europa fort. Maria Lavik berichtet über Norwegen, wo erwartungsgemäß alles zum besten steht. Grund sei der "Staatsfeminismus", der sich auf Betreiben von Politikerinnen wie Helga Hernes entwickelt habe: "Die Pionierin der Gleichstellungsforschung stellte fest, dass Frauen drei potenzielle Verbündete haben: sich selbst, Männer - und den Staat. Das stellte die traditionelle Sichtweise auf staatliche Institutionen als männlich geprägte und paternalistische Arena infrage. Hernes zeigte, dass es möglich ist, einen frauenfreundlichen Wohlfahrtsstaat aufzubauen."

Außerdem: Mike Wuliger erklärt in der Jüdischen Allgemeinen, "warum ich keinen Dialog mit Andersdenkenden mehr führe": "Die allermeisten derer, die mich in Gespräche über Juden im Allgemeinen, Israel und/oder die Schoa im Besonderen verwickelten - und die Initiative dazu ging in der Regel von ihnen aus, nicht von mir -, taten dies nicht, weil sie ehrliche Verständnisfragen hatten oder eine sachlich begründete Meinung... Sie wollten nur ihre Vorurteile loswerden."
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Stichwörter: Abtreibung, Norwegen