9punkt - Die Debattenrundschau

Schnurgerade Linie im Sand

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2016. In La Croix plädiert Papst Franziskus für einen säkularen Staat. In der SZ will Friedrich Wilhelm Graf auf den Begriff der Werte lieber verzichten. Zeit online erinnert an das Sykes-Picot-Abkommen und seine Folgen. Die NZZ fragt, wie sich Wutjournalisten von Wutbürgern unterscheiden. Laut politico will die New York Times sich retten, indem sie den Medien der übrigen Welt Konkurrenz macht. In amerikanischen Internetmedien wird unterdessen weiterhin intensiv über Facebook diskutiert. In der taz schlägt Marlene Streeruwitz eine Fusion von SPÖ und ÖVP vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2016 finden Sie hier

Religion

Im Interview mit Guillaume Goubert und Sébastien Maillard von der katholischen Tageszeitung La Croix sagt Papst Franziskus auf den ersten Blick überraschende Dinge: "Ein Staat muss laizistisch sein. Konfessionelle Staaten enden schlecht. Ich glaube, dass Laizität zusammen mit einem soliden Gesetz, das Religionsfreiheit garantiert, einen Rahmen bietet, mit dem man vorankommen kann. Wir sind als Kinder Gottes und mit unserer Menschwürde alle gleich. Aber jeder muss das Recht haben, seinen Glauben nach außen zu bekunden. Wenn eine muslimische Frau Kopftuch tragen will, soll sie es tun dürfen. Das gleiche, wenn ein Katholik ein Kreuz trägt." Ob er sich demnächst in Deutschland gegen den staatlichen Einzug von Kirchensteuern wendet?

Gegen Kulturkonservatismus und die Rede von "Werten" im konservativen Sinne wendet sich der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der SZ: "Man muss Einwanderern die Einsicht nahebringen, dass es in einer offenen, religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft allein die Rechtsordnung ist, die das friedliche Zusammenleben der vielen verschieden Denkenden und Lebenden ermöglicht. Rechtsgehorsam ist dabei prägnant zu unterscheiden von irgendwelchen 'einheimischen Kulturwerten', auf die manche die Zuwanderer gern verpflichten möchten. Auf der Wiesn mögen auch Deutschitaliener Tracht tragen. Aber niemand darf ihnen dies vorschreiben."

In der Welt sieht Henryk M. Broder keinen Widerspruch zwischen beidem. Er wünschte sich, hiesige Bischöfe würden einmal dies sagen: "Wir sind kein allzu christliches Land mehr. 30 Prozent der Deutschen gehören der evangelischen Kirche an, ebenso viele der katholischen. Aber 34 Prozent sind konfessionslos, und es werden immer mehr. Dennoch sind wir ein christlich geprägtes Land, deswegen feiern wir Ostern, Pfingsten, Fronleichnam, Allerheiligen und Weihnachten, auch wenn viele von uns nicht wissen, was diese Feste bedeuten. Eine, zwei oder drei Millionen 'mehr Muslime' werden die 'christliche Kultur' oder das, was von ihr übrig geblieben ist, nicht zum Verschwinden bringen, auch dann nicht, wenn immer mehr Kirchen zu Moscheen umfunktioniert würden. Aber die weltliche Kultur, die sich gegen zahllose Verbote mühsam durchsetzen musste, wird Schaden nehmen, nein, sie hat es schon getan."
Archiv: Religion

Europa

Marlene Streeruwitz spricht mit Ralf Leonhard in der taz über das Versagen der Volksparteien in Österreich, über die nach wie vor nicht erreichte Gleichstellung der Frauen und über Reaktionen auf den Rechtspopulismus: "Wenn aber nun, wie in Österreich, von der Freiheitlichen Partei Österreichs das vertrags­theoretische Modell der Demokratie der Gleichen verlassen wird und ein hierarchisches Modell vorgelegt wird, in dem über Geburtszugehörigkeit Ausschlüsse vorgesehen sind, dann ist dieser Staat an einer Grundfrage angelangt. Eigentlich müssten SPÖ und ÖVP fusionieren, um - ähnlich wie die Demokratische Partei in den USA - einen Block gegen das Aufkündigen des Modells zu bilden."

Jan Feddersen fordert auch im Deutschlandfunk eine Entschuldigung der Politik für die Behandlung schwuler Männer in der frühen Bundesrepublik nach dem bewusst aus der Nazizeit mitgeschleppten Paragrafen 175: "Homosexualität war verboten. Es war eine entwürdigende Zeit für schwule Männer. Die Nachbarn - Denunzianten? Die Eltern - enterbend und Kontakt abbrechend. Arbeitskollegen - gern die 'warmen Brüder' im Job an die Personalabteilung verpetzend. Und auf der Straße bei Umfragen? 'Die haben sie wohl vergessen zu vergasen' - so viele Stimmen aus der früheren Volksgemeinschaft."

Der deutsch-syrische Autor Rafik Schami wendet sich in Qantara gegen "Islamophobie": "Alle sind für den Hasser gesichtslose Muslime. Nun versetzen wir uns für nur fünf Minuten in die Seele eines friedlichen Menschen dieses Landes, der durch Zufall der muslimischen Minderheit angehört. Er bekommt nach all den Jahrzehnten die Ohrfeige der Diffamierung, ob durch eine dämliche Karikatur, die seinen Propheten mit einer Bombe im Turban darstellt, oder durch die Tiraden eines Thilo Sarrazin und dessen Verteidiger Udo Ulfkotte und Peter Sloterdijk. Durch die ständige Diffamierung der Muslime erhöhen die Hasser den Anteil der Muslime, die sich in diesem Land nicht akzeptiert fühlen."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Was bedeutet die Krise der großen Energiekonzerne eigentlich für die Kultur in NRW, fragt Michael Kohler in der SZ: "Ohne die finanzielle Unterstützung von Unternehmen wie Eon oder RWE gerieten viele Museen und Festivals in Schwierigkeiten. Gerade die mit den Bodenschätzen des Ruhrgebiets groß gewordenen Energiekonzerne gehören zu den fleißigsten Kultursponsoren in NRW - und kämpfen derzeit ums langfristige Überleben. Und wenn es RWE schlecht geht, spürt man das im Essener Museum Folkwang doppelt."
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Kaum hatte Woody Allen mit seinem neuen Film das Festival von Cannes eröffnet, trat Allens Sohn Ronan Farrow wie so oft an die Öffentlichkeit, um den angeblichen Missbrauch seiner Schwester als Siebenjährige durch Allen anzuprangern. Der Vorwurf, erhoben 1993 während der Scheidungsschlacht zwischen Allen und Mia Farrow, war 14 Monate lang gerichtlich untersucht und schließlich abgewiesen worden. Dass er trotzdem immer wieder verbreitet wird, nagt auf die Dauer am Prinzip der Unschuldsvermutung, warnt im Guardian Catherine Shoard: In Allens Fall "wird es abgetan, das Gesetz ignoriert und statt dessen auf Gerüchte gesetzt. In seinem Artikel hat Farrow die Presse angegriffen, weil sie Allen 'keine harten Fragen' stelle. Aber das hat sie und die Antwort ist jedesmal dieselbe: Er weist die Vorwürfe zurück und glaubt, dass seine ehemalige Partnerin die Kinder gegen ihn aufgehetzt habe - was übrigens auch Ronans Bruder Moses glaubt."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Auf Zeit online erinnert Martin Gehlen an das vor hundert Jahren geschlossene Sykes-Picot-Abkommen, mit dem Franzosen und Briten nach der Niederlage des Osmanischen Reiches die arabische Welt unter sich aufteilten. Das für den Kampf gegen die Türken versprochene arabische Großreich blieb dabei auf der Strecke: "Sykes' schnurgerade 'Linie im Sand', wie sie der britische Historiker James Barr 2011 in seinem Buch über die Schicksalsjahre nach dem Ersten Weltkrieg nannte, teilte die Region in eine französische und eine britische Machtsphäre - ungeachtet der Wünsche der Bevölkerung, ungeachtet aller ethnischen und konfessionellen Grenzen, quer durch zahlreiche Stammesgebiete. Das riesige neue Kolonialgebiet aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches mit seinen 20 Millionen Menschen erstreckte sich von Beirut bis an den Persischen Golf, von Ostanatolien bis zum Sinai. 'Selbst unter den Maßstäben der Zeit war es ein schamlos eigennütziger Pakt', urteilte James Barr über diesen imperialen Coup."
Archiv: Geschichte

Medien

Wutbürger hier, Wutjournalisten dort. In der NZZ kritisiert Heribert Seifert anhand vieler verlinkter Beispiele - von FAZ bis Freitag - den Ton, in dem deutsche Journalisten "gegen den Feind von rechts" pöbeln und jede differenzierende Debatte unmöglich machen: "So überraschte der Berliner Tagesspiegel seine Leser mit einem Beitrag, in dem er den Prügelmeuten der sogenannten Antifa ausdrücklich dankte, weil sie mit ihren Gewaltaktionen den politischen Gruppen, die sie zu Nazis erklären, die Wahrnehmung von Rede- und Demonstrationsfreiheit nach Kräften unmöglich machen. [...] In der Zeit findet sich die Forderung nach 'Notstandsgesetzen gegen den Mob', worunter man dort die Teilnehmer an rechtlich zulässigem öffentlichem Protest gegen eine Unterkunft für Einwanderer versteht. Es ist dieselbe Autorin, die vor ein paar Jahren in der Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau Thilo Sarrazin eine 'lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur' genannt hat und die jetzt unter dem Zeit-Signet verlangt, Kundgebungen zu verbieten, Telefone zu überwachen und aufzuhören zu 'labern, schreiben und argumentieren'."

(Via turi2) FAZ und SZ, Le Monde und El Pais müssen sich warm anziehen! Die New York Times will online aggressiv international expandieren und nimmt dafür in den nächsten drei Jahren 50 Millionen Dollar in die Hand, berichten Joe Pompeo and Alex Spence in Politico Media: "'Jede Abteilung des Unternehmens muss kreativ darüber nachdenken, wie sie eine größere nicht-amerikanische Leserschaft und wachsendes Einkommen außerhalb der USA erzielen kann', schrieb CEO Mark Thompson in einem Memo im April, das auch vom Herausgeber Arthur Sulzberger Jr. und Chefredakteur Dean Baquet gezeichnet war. 'Wir wollen ein wesentlich größeres und intensiver lesendes Publikum in den Kernmärkten außerhalb der USA.'" Auf diese Weise will die New York Times ihren Umsatz aus der digitalen Ausgabe auf 800 Millionen Dollar jährlich steigern.

In amerikanischen Internetmedien wird weiter heftig über Facebook diskutiert. Tony Haile setzt in recode.net seine vierteilige Serie über die Auswirkungen von Facebook auf Medien fort - mit dem harschen Thema der Adblocker, gegen die sich die Medien kaum wehren können und die sie selbst duch Zulassen exzessiver Werbung gefördert haben. Dagegen setzt Facebook "Instant Articles", also die direkte Veröffentlichungsmöglichkeit auf Facebook, die Medien anlocken soll: "Instant Articles gibt den Medienunternehmen zwei Möglichkeiten der Refinanzierung. Sie können entweder ihre eigene Werbung platzieren und hundert Prozent der Einnahmen einstecken, oder Facebook verkauft für sie Werbung und gibt ihnen einen Siebzig-Prozent-Anteil. Das bedeutet also, dass Facebook Hosting und Refinanzierung auf die Liste seiner Dienstleitungen für Medien setzt. Den Medienunternehmen bleibt nur die einzige und riskanteste Aktivität: Inhalte schaffen."

Ein wenig abtörnend klingt da eine von Lucia Moses in Digiday.com verbreitete Erkenntnis: Ganze "43 Prozent der Facebook-Nutzer wissen die ursprüngliche Quelle der Nachrichten, die sie auf Facebook lesen, nicht zu nennen".

Der Fotojournalismus ist eine künstlerisch-handwerkliche Praxis, die an einem Wahrheitsbegriff festhalten muss, schreibt das Magazin Disphotic in einem Editorial zur Diskussion um den berühmten Fotografen Steve McCurry, dem digitale Manipulationen in seinen Fotos nachgewiesen wurde - störende Elemente, die per Photoshop beseitigt wurden. "Enthüllungen über digitale Bearbeitungen von Fotos ziehen stets den Zorn von Fotojournalisten auf sich, aber die Ironie liegt darin, dass sie nur eine von vielen Formen sind, in denen im Fotojournalismus manipuliert wird. Dieselben Leute, die jemanden wie McCurry scharf verurteilen, weigern sich einzugestehen, in welchem Ausmaß auch ihr eigener Prozess der Veröffentlichung von Bildern Manipulationen ausgesetzt ist, von Interaktionen mit den fotografierten Menschen, über bestimmte Arrangements beim Fotografieren oder der Auswahl der Bilder, bis hin zu redaktionellen Bearbeitungen, die den visuellen Effekt erhöhen sollen." Mehr zur Diskussion über Steve McCurry hier bei Petapixel und hier in der Huffpost.
Archiv: Medien