9punkt - Die Debattenrundschau

Was immer schon so und nur so war

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2015. Die taz besucht die Karikaturisten und Charlie Hebdo-Bewunderer Ahmad Makhlouf und Muhammad Anwar in Ägypten. Im Guardian plädiert Historiker Antony Beevor für Putins Präsenz bei den Auschwitz-Gedenkfeiern. In Libération erklärt die jüdische Autorin Coralie Miller, warum sie trotz allem Frankreich als ihre Heimat ansieht. Die Zeitungen sind sich immer noch nicht ganz klar in der Frage, wie ernst Pegida eigentlich zu nehmen ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Karim El Gawhary besucht für die taz die Karikaturisten Ahmad Makhlouf und Muhammad Anwar in Kairo. Beide sind große Bewunderer von Charlie Hebdo, erzählen sie. Selbst müssten sie aber etwas vorsichtiger arbeiten: "Anders als ihre Kollegen in Europa müssen arabische Karikaturisten eingezwängt zwischen einer konservativen religiösen Gesellschaft und einem meist autokratischen Regime ihren Raum zum Arbeiten finden. "Wir müssen stets zwischen den gesellschaftlichen und politischen Fesseln in der arabischen Welt lavieren, aber genau das macht uns kreativer", ist Makhlouf überzeugt und beschreibt das mit einer Metapher. "Das ist, als wenn ein Soldat nicht in einer Kaserne, sondern gleich in einem Krieg sein Handwerk lernt. Da wird er schneller zu einem guten Kämpfer.""

Im indischen Blog Kafila fragt die pakistanisch-amerikanische Aktivistin Fawzia Naqvi, Vizepräsidentin des Soros Economic Development Fund, ob die Ermordung von 135 Schulkindern die pakistanische Mittelschicht endlich wachrütteln und begreifen lässt, das der islamistische Terror auch sie etwas angeht. "Wie konnten wir uns alle entführen, in die Ecke treiben und gefangen nehmen lassen von einer abscheulichen Erzählung, die jede Spur unserer Vergangenheit ausradiert, die diktiert, wie wir miteinander umgehen, wie wir beten, wie wir unseren täglichen Geschäften nachgehen, was wir lernen und lehren, die bestimmt, ob wir gleiche Bürgerrechte haben oder nicht, sogar, ob wir leben oder nicht. Wie konnten wir alle unsere verbürgten Rechte an Mörder abgeben, die uns jetzt belauern und unsere Kinder ermorden, um uns eine Lektion zu erteilen? [...] Warum darf der Talkmaster Amir Liaqat Gott spielen und die Todesstrafe über unschuldige Bürger Pakistans verhängen? Warum? Die Antwort ist einfach und Übelkeit erregend: Weil wir sie lassen und weil es unter uns so viele gibt, die das alles sogar ganz in Ordnung finden."

Frank Jansen hat eine Bägida-Demo in München besucht und fragt sich jetzt verblüfft im Tagesspiegel, wie er diese Leute ernst nehmen soll: "Auf den vielen Schildern, die auf dem Platz am Sendlinger Tor hochgehalten oder umgehängt an Bäuchen getragen wurden, sind Sprüche zu lesen, die aus einem Drehbuch für eine schräge Satire stammen könnten. "Putin! Hilf uns, rette uns vor dem korrupten BRD-Regime" präsentiert ein älterer Mann. Ein etwa gleichaltriger Demonstrant läuft an ihm vorbei, sein Schild ist offenbar aus einem Umzugskarton geschnitzt und hat eine längere Botschaft: "Muslime jetzt taufen lassen das ist das Bekenntnis das ihr zeigen solltet statt Showveranstaltung machen". Auch die Rückseite ist beschriftet. "Ich will kein Nordirland deshalb stoppt den Islam in Europa.""

Der Dresdner Politologe Werner J. Patzelt warnt in der FAZ, die Pegida-Anhänger vorschnell unter Nazi-Verdacht zu stellen: "Die oft auch beabsichtigte Abschreckung möglicher Abweichler vom Denk- und Redekanon zieht zunächst Grummeln, dann innere Kündigung gegenüber einem Gemeinwesen nach sich, das sich diskursoffener gibt, als es in konkreter Praxis ist. Solcher Rückzug tatsächlichen Meinens oder Sprechens ins Nichtöffentliche löst aber keinerlei Spannungen. Vielmehr unterbleibt dann gerade das, was doch ein entscheidender Vorteil repräsentativer Demokratie ist."
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Europa

Die Autorin Coralie Miller ist Jüdin und erklärt in Libération, dass sie trotz allem in Frankreich bleiben wird: "Ich bin Französin, ob das gefällt oder nicht, und ich werde nicht zulassen, dass jemand diese Evidenz in Frage stellt. Ich bin Französin, bevor ich Jüdin bin. Ich bin eine Tochter der Aufklärung und der Revolution, die Erbin Voltaires und Victor Hugos, das Kind des Mais 68 und der Befreiung, das Produkt meiner Schulen und aller meiner Lehrer und jeden Tag feiere ich durch mein Metier die Sprache und Kultur, die mich geformt haben... Mein Land ist das Land, das meinen Großvater empfangen hat, der in seinem Geburtsland Polen nicht das Recht hatte, Arzt zu werden."
Archiv: Europa

Internet

Mit recht starken Thesen ist Digitalkommissar Günther Oettinger bei der DLD-Konferenz in Münchenm aufgetreten, berichtet Detlef Borchers bei heise.de. Europa habe das Spiel in der IT verloren, eine Konkurrenz zu Google steht nicht in Aussicht, der Markt müsse vereinheitlicht werden. ""Wir haben 28 fragmentierte Märkte mit 28 verschiedenen Regelungen zum Datenschutz. So kann keine europäische Cloud existieren", erklärte Oettinger seinen Plan für einen "Single Digital Market". Neben dem EU-einheitlichen Datenschutz habe eine Vereinheitlichung des Copyrights oberste Priorität. Im September werde er dazu einen Entwurf vorlegen."

Da war die Piratin und Europaabgeordnete Julia Reda schneller. Sie präsentierte gerade im EU-Parlament einen Vorschlag zur Reform des Urheberrechts, berichtet Peter Riesbeck in der Berliner Zeitung: "Die alte Regelung stammt aus dem Jahr 2001. "Da gab es noch kein Facebook und Wikipedia steckte in seinen Anfängen", sagte Reda, die ihren Gesetzesvorschlag "technikoffen" gestaltet hat. Also mit Blick auf mögliche Neuerungen. Technik ist das eine. Die Rechtspraxis das andere. Denn trotz EU-Regelung gibt es viele nationale Besonderheiten. So schreibt die EU eine Mindestzeit von 70 Jahren nach dem Tod eines Autors vor, ehe das Urheberrecht ausläuft. Spanien will 90 Jahre. Redas Vorschlag: 50 Jahre - wie international üblich."

Sascha Lobo plädiert in der FAZ trotz allem gegen ein Verbot von Anonymität im Netz: "Der vielleicht größte Irrtum, der in der Forderung nach dem Verbot von Pseudonymen und Anonymität im Netz steckt, ist die Annahme, dass ein solches Verbot den Umgangston verbessern würde. Hier ist der Wunsch Vater des Gedankens."
Archiv: Internet

Medien

Einige Meldungen aus der Zeitungsbranche: "Überregionale Tageszeitungen verlieren 2014 kräftig Auflage", meldet turi2 unter Bezug auf neue Statistiken. Zu den stärksten Verlierern gehören hier die Bild und die Welt, meldet Meedia. Und auch "nur wenige Zeitschriften trotzen dem Abwärtstrend", meldet ebenfalls Meedia.

Michael Miersch erklärt in deutlichen Worten, warum er mit der Achse des Guten bricht, die er vor elf Jahren mit begründetet hatte: "Ich möchte mich nicht mehr täglich ärgern, wenn Menschen verbal ausgegrenzt und herabgesetzt werden, weil sie als Moslems geboren wurden. Menschen nach Herkunft zu beurteilen finde ich boshaft. Sippenhaft ist absolut inakzeptabel. Es geht aber nicht nur um den immer wieder verwischten Unterschied zwischen Islam-Kritik und monokulturellem Dünkel. Ich finde es auch nicht lustig, wenn auf der Achse behauptet wird, die EU ähnele immer mehr der UdSSR und der Euro sei die schlimmste Destruktion seit dem Zweiten Weltkrieg. Mir missfällt das reflexhafte Eindreschen auf alles, was unter dem Verdacht steht, "links" zu sein. Ich finde nicht, dass das heutige Deutschland dekadent ist. Und ich finde auch nicht, dass sexuelle oder andere Abweichungen von der Norm Verfallserscheinungen sind."
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Religion

Der Kirchenhistoriker Joachim Frank erklärt im Interview mit der FR, warum sein Buch "Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte" dem Papst als Materialsammlung für Reformen helfen kann: "Es gibt in der Kirche nichts, was immer schon so und nur so war."
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Geschichte

Im Guardian plädiert der Historiker Antony Beevor dafür, Putin doch noch zur Feier des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz einzuladen - gerade um sich an die zwiespältige Rolle der Sowjetunion zu erinnern: Denn einerseits befreite die Rote Armee die Konzentrationslager im Osten, andererseits pflegte sie selbst einen ausgesprochenen Antisemitismus. So lernte der Schriftsteller Wassili Grossman 1943, "dass alle Hinweise auf das Leiden der Juden aus seinen Artikeln entfernt wurden. [...] Gegen Kriegsende wurden die Kontrollen immer strenger. Auschwitz war zwar im Januar 1945 befreit worden, aber vor dem Endsieg im Mai wurden keine Einzelheiten veröffentlicht. Das Jüdische Antifaschistische Kommittee fand bald heraus, dass seine Arbeit der Parteirichtlinie widersprach: Teilt nicht die Toten. Juden wurden nicht als besondere Leidenskategorie erfasst. Sie wurden nur als Bürger der UdSSR oder Polens beschrieben. In diesem Sinne war Stalin der erste Holocaustleugner, auch wenn sein Antisemitismus nicht ganz derselbe war wie der der Nazis."

Auch Götz Aly plädierte gestern in seiner Kolumne in der Berliner Zeitung für Putins Präsenz.
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Kulturmarkt

Schweizer Verlage werden unter dem erhöhten Frankenkurs zu leiden haben, scheibt Thomas Steinfled in der SZ: "Nicht minder unangenehm sind die Folgen für den Buchhandel: Für ihn gibt es, in Gestalt des Versandbuchhandels über das Internet, eine durch den Wechselkurs massiv geförderte Konkurrenz schon im eigenen Land. Denn selbstverständlich liefert Amazon in die Schweiz, umgehend und auf der Grundlage von Euro-Preisen. Nun könnte zwar der Einzelhandel selbst seine Bücher aus Deutschland oder Österreich beziehen. Das wird er sich aber dreimal überlegen, weil er damit den Großhandel im eigenen Land schädigte." Bücher, so Steinfeld, kosten in der Schweiz durch die Aufwertung inzwischen an die 50 Prozent mehr als in Deutschland.
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