9punkt - Die Debattenrundschau

Das Motiv der Ursprünglichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2021. Heute antworten Dan Diner in der FAZ und Saul Friedländer in der Zeit auf A. Dirk Moses' Streitschrift über den angeblichen "Katechismus der Deutschen". Beide Autoren waren von Moses als Urheber dieses Katechismus benannt worden. Diner sucht den eigentlich religiösen Impuls in der Debatte. Friedländer fragt, wen Moses mit "Eliten" meint. Der Streit über eine mögliche Parteistiftung der AfD geht weiter. Ein Papier von WissenschaftlerInnen sucht außerdem nach "Alternativen zum Lockdown".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.07.2021 finden Sie hier

Ideen

Saul Friedländer gehörte neben Dan Diner zu den beiden Autoren, die von A. Dirk Moses in seiner Attacke auf den angeblichen "Katechismus der Deutschen" (all unsere Resümees) als einer der Urheber eben dieses Katechismus benannt worden war. Heute antwortet Friedländer in der Zeit auf Moses' beide Texte - merklich irritiert von dessen unverhohlener Rhetorik: Moses zufolge sei die deutsche Holocaust-Religion eine Konzession an externe Mächte: "Ausgehandelt mit 'amerikanischen, britischen und israelischen Eliten', sei sie die Bedingung für die internationale Anerkennung Deutschlands. Bei der zweiten Erwähnung dieser mysteriösen 'Eliten' werden diese bei Moses wohl nicht ganz zufällig zu rein amerikanischen und israelischen. Denn um wen könnte es sich handeln? Um Juden natürlich! Mit anderen Worten: Mit der gewissenhaften Befolgung des 'neuen Katechismus', der aufgrund der Einzigartigkeit des Holocausts die bedingungslose Unterstützung Israels impliziert, stelle Deutschland sicher, von jüdischen Eliten in Israel und in den USA 'den Kopf getätschelt' zu bekommen."

Auch Dan Diner antwortet heute in der FAZ, ohne den Namen A. Dirk Moses auch nur zu erwähnen. Diner vermutet den eigentlich religiösen Impuls auf der Seite der neuen Relativierer des Holocaust. "Die Diskursstruktur bringt es an den Tag: Indem der Deutungshoheit beanspruchende gegenwärtige Trend den Holocaust zwanghaft der Gestalt kolonialer Gewalt anzuverwandeln sucht, die ihm als vorgeblicher Prius 'faktisch und logisch' vorausgehe, wird das Motiv der Ursprünglichkeit als vorgelagerte theologische Formatierung aufs Neue aufgerufen. Dabei benötigen die Folgen kolonialer Gewalt den Vergleich mit dem Holocaust nicht, um Anerkennung zu erwirken. Kolonialgewalt ist Gewalt eigenen Rechts - genauer: eigenen Unrechts."

Außerdem: In der Zeit fragt der Philosoph Gernot Böhme: "Was hat die Ökologie mit Ästhetik zu tun?" Und in der FAZ rufen die Kommunikationswissenschaftler Johannes Buchmann, Andreas Hepp und Judith Simon: "Die Gesellschaft braucht neue Plattformen."
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Europa

Gäbe es einen Wahlkampf, könnte dies eines seiner Themen sein. Die im Bundestag vertretenen Parteien bekommen für ihre Parteistiftungen Hunderte von Millionen Euro im Jahr. Ein "Manifest der Zivilgesellschaft" mehrerer Organisationen fordert nun, dass die AfD wegen ihrer rechtsextremen Umtriebe aus diesem Selbstbedienungssystem ausgeschlossen wird (unser Resümee). Durch ein Gesetz soll die Finanzierung der Parteistiftungen neu geregelt werden, fordert die Initiative. Die bisher profitierenden Parteien halten sich in der Debatte vornehm zurück. Nun ist Erika Steinbach, designierte Chefin der Desiderius-Erasmus-Stiftung in der "Bibliothek des Konservatismus" aufgetreten, um ihre demokratische Gesinnung zu beteuern, berichtet Gareth Joswig in der taz. "Um das zu bekräftigen, stellt Steinbach die Karrierewege einzelner Vorstände vor, lässt dabei aber pikante Details weg. So erzählt sie von der honorigen Vergangenheit des stellvertretenden Stiftungsleiters Klaus Peter Krause bei der FAZ und der Fazit-Stiftung, der bei der CDU ausgetreten ist und mittlerweile AfD-Mitglied ist. Gleichzeitig blendet Steinbach aber seine jüngeren publizistischen Tätigkeiten aus: Etwa, dass Krause gerne mal den menschengemachten Klimawandel leugnet oder von 'politischem Missbrauch' der Coronakrise schreibt und dabei mit Begriffen wie 'Neue Weltordnung' um sich wirft." Es geht immerhin um 49 Millionen Euro, die die Stiftung der AfD für einen Zeitraum von vier Jahren bekommen würde oder auch nicht, berichtet Markus Wehner in der FAZ.

Eine Gruppe von 16 Experten und Expertinnen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, darunter die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und Christian Schubert, Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, fordert in einem 60seitigen Papier "Alternativen zum Lockdown" und die "aufgeladene öffentliche Debatte zu Covid-19 versachlichen, ins Verhältnis zu setzen und so in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext bringen", meldet die Berliner Zeitung: "Guérot sagte der Berliner Zeitung, es gehe um 'eine Bestandsaufnahme' der bisherigen Corona-Politik. Ziel sei es, den Blick in die Zukunft zu richten: 'Wir müssen verhindern, dass wir im Herbst wieder in eine Situation schlittern, in der hektisch und ohne Differenzierung Maßnahmen beschlossen werden, die zu einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand führen.' Dazu müsse die 'Hysterisierung' aus der Diskussion genommen werden. Das Virus dürfe 'nicht zum Vorwand genommen werden, um unsere Rechtsordnung zu verschieben'. Im Vorfeld der politischen Entscheidungen müsse es 'einen Raum für legitime Kritik geben'."

Tilman Santarius, Professor für Sozial-Ökologische Transformation, überlegt im Gespräch mit Svenja Bergt von der taz, wie die Digitalisierung genutzt werden kann, um den "Übergang in eine Postwachstumsökonomie" zu ermöglichen. Es komme darauf an, die durch Einsparpotenziale gewonnenen Ressourcen nicht für Konsum zu nutzen: "Dafür brauchen wir zum Beispiel eine starke ökologische Steuerreform. Dann werden die Menschen ihr gespartes Geld und ihre gesparte Zeit nicht für energieintensive Dinge ausgeben. Sondern vielleicht für einen Nachmittag am See, einen Theaterbesuch oder einen Sprachkurs."

"Exklusiv" meldete gestern der Tagesspiegel, dass Annalena Baerbock von der Heinrich-Böll-Stiftung von April 2009 bis Dezember 2012 eine Unterstützung von mehr als 40.000 Euro bekommen hat, um ihre Promotion abzuschließen, was sie letztlich nicht tat. In dem vom Tagesspiegel suggerierten Verdacht, eine parteinahe Stiftung habe eine Parteikarriere finanziert, sieht Mladin Gladic in der Welt ein weiteres Zeichen für die "gegenwärtige Obsession" mit Baerbock. Denn: "Vielleicht hat hier (…) nur eine parteinahe Stiftung einen Lebensweg gefördert, wie er in Baerbocks Generation relativ normal ist. Die 'Generation Praktikum' ist auch eine 'Generation Stipendium', Projekte anzufangen und sie, wenn sich Erfolgversprechenderes bietet, wieder aufzugeben, ist gängig. 'Lebenslanges Lernen' beinhaltet auch, immer besser scheitern zu lernen. Die Abbruchquoten bei Promovenden sind hoch, insgesamt höher als die wenigen Prozent, mit der der 'Tagesspiegel' die 'Studienstiftung' zitiert, gerade bei denen, die sich weniger akademisch orientieren, als zunächst geplant."

In der SZ-Wahlkampfreihe knöpft sich Hans Hütt heute das FDP-Wahlprogramm vor: "Die Modernität des liberalen Wahlprogramms kommt vielleicht besonders dadurch zum Ausdruck, dass das Dokument nicht von Menschen aus Fleisch und Blut geschrieben worden sein könnte. Wäre es abwegig zu befürchten, dass die Programmkommission einen ultraliberalen Algorithmus mit einem großen Haufen von rohen Buchstabennudeln gefüttert hat, und der hat dann nach einer sehr klugen Sortierfunktion den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen gefunden?"

In seiner FR-Kolumne rauft sich Klaus Staeck unterdessen die Haare beim Blick auf die Kandidaten der inzwischen auf 20.000 Mitglieder angewachsenen Partei "Die Basis": "Ein weiterer Kandidat ist uns aus dem 'Querdenken'-Umfeld nicht unbekannt: Reiner Fuellmich. Der auch in Kalifornien praktizierende Rechtsanwalt sammelt seit Monaten von Gutgläubigen per Rundmail Geld für eine Sammelklage ein, die er gegen den Virologen Christian Drosten und den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler in den USA vor Gericht bringen will. Die Aussicht der Mandanten auf Schadenersatz ist gering, denn seit Monaten warten sie mit wachsender Ungeduld, dass die Klage eingereicht wird. Inzwischen füllt sich die Kasse des Anwaltsbüros."
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Politik

China spendet Impfdosen an fünfzig Länder und investiert gigantische Summen in Afrika, aber keineswegs aus "Nächstenliebe", schreibt Günther H. Oettinger, Präsident von United Europe e.V., im Tagesspiegel: "Peking sieht nicht nur die Bedeutung Afrikas, des Marktes, des Wachstumspotenzials und der Ressourcen - China ist auch Afrikas Kolonialherr des 21. Jahrhunderts. Entsprechend 'robust' geht man vor: Wer Zugang zu Chinas Finanztöpfen haben will, muss seine Beziehungen zur 'abtrünnigen Provinz' Taiwan abbrechen. Heute unterhalten nur noch drei Staaten Afrikas diplomatische Beziehungen zu Taiwan. Demokratie, Menschenrechte? Solche Fragen lächelt Xi Jinping weg. Sein Credo lautet: 'Das oberste Menschenrecht ist das Recht auf Wohlstand.' Für Xi und Afrikas Regenten ergibt sich daraus eine Win-Win-Situation. Seit zehn Jahren erreicht Afrika ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich mindestens sechs Prozent."

Mit Ebrahim Raisi ist im Iran einer der schlimmsten Verbrecher des Regimes zum Präsidenten gekürt worden. Für Richard Herzinger markiert diese "Wahl" auch "das finale Scheitern der bisherigen europäischen Politik gegenüber dem Regime in Teheran. Die Bestrebungen der EU, das Atomabkommen von 2015 wiederzubeleben, sind damit am Tiefpunkt angelangt. Und die seit Jahrzehnten immer wieder erneuerte Erwartung einer 'Liberalisierung' des iranischen Herrschaftssystems wird dadurch drastisch konterkariert."
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Geschichte

Die Mehrheit der Deutschen hat die Coronamaßnahmen akzeptiert, auch die Impfbereitschaft ist groß. Dabei ist das deutsche Gesundheitssystem vor allem auf die Behandlung individueller Patienten ausgerichtet, die Pandemie hat das Individuelle allerdings zugunsten des Gemeinschaftlichen schwer auf die Probe gestellt, sagt der Gesundheitswissenschaftler Oliver Razum im Zeit-Online-Gespräch mit Claudia Wüstenhagen (hinter Paywall). Den Grund dafür sieht er in der deutschen Geschichte: "In der Nazizeit wurde die 'Volksgemeinschaft' als Ideologie über das Individuum gestellt, über alles andere, und das hat bekanntermaßen zu fürchterlichen Verbrechen geführt. Insofern gibt es nachvollziehbare Vorbehalte gegen Schlagworte wie 'Gemeinschaft', gerade beim Thema Gesundheit. Die Nazis haben die 'Volksgesundheit' in eine Richtung ausgedeutet, die auf angebliche genetische, rassische Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen abhob, die überhaupt nicht existieren. Mit dazu bei trugen ausgerechnet die Gesundheitsämter, die ja eigentlich für viele Aufgaben in der öffentlichen Gesundheitspflege verantwortlich sind."

Seit 1991 sind etwa die Hälfte der 7000 jugoslawischen Partisanendenkmäler in Kroatien zerstört oder beschädigt worden, schreiben in der NZZ Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander, die mit Überlebenden wie dem ehemaligen Partisanen Ivo Karamatic gesprochen haben: "Er kann es nicht fassen, dass es im unabhängigen, demokratischen Kroatien der Gegenwart Straßen gibt, die nach Ustascha benannt sind, und dass der Ustascha-Gruß - 'Za dom spremni' ('Für die Heimat bereit') - immer wieder in der Öffentlichkeit ertönt, während man den Partisanen ihre Würde nehme. Die Verantwortung trägt seiner Meinung nach die nationalpopulistische Regierungspartei Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ)."
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Gesellschaft

Vielweiberei ist in Südafrika erlaubt, ihre Abschaffung würde wohl keine politische Partei überleben. Da die Verfassung jedoch jede Benachteiligung verbietet, hat die Regierung jetzt vorgeschlagen, auch die Vielmännerei zu erlauben. Das hat viele südafrikanische Männer aufgebracht, erzählt Heiner Hoffmann auf Spon. "Besonders laut wehren sich die christlichen Parteien. Reverend Kenneth Meshoe, Vorsitzender der African Christian Democratic Party (ACDP), dreht gleich das ganz große Rad: 'Die Regierungspartei ANC verlässt den Weg Gottes!', ruft er beim Interview empört ins Telefon, dabei ist seine Argumentation streckenweise holprig. Denn auch Polygynie (ein Mann hat mehrere Ehefrauen) sei in der Bibel nicht wirklich vorgesehen, räumt er ein. 'Aber das ist wenigstens praktikabel, Polyandrie nicht. Wer an die afrikanische Kultur glaubt, muss sich dagegen wehren!'"
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Wissenschaft

Vor einiger Zeit hat sich ein "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" gegründet, um gegen Dogmatisierungstendenzen in den Geisteswissenschften zu protestieren (unsere Resümees). Nun gibt es eine Gegengründung unter fast gleichem Namen, berichtet Mathias Brodkorb in der FAZ: "Beide Netzwerke trennen ideologisch Welten. Während dem eigentlichen, als eher konservativ geltenden Netzwerk Hochschullehrer fast aller Disziplinen und Weltanschauungen angehören, speisen sich die Mitglieder der Nachfolgeorganisation vor allem aus der Medienwissenschaft, den Gender Studies und der Rassismusforschung und dürften daher überwiegend dem linken Milieu verpflichtet sein. Und während in dem einen Netzwerk immer wieder sehr viel von 'Wahrheit' die Rede ist, die der Freiheit bedürfe, geht es in dem anderen um 'Macht' und deren 'Aushandlungsprozesse'." Zu den Gründern des neuen Netzwerks gehört Yasemin Karakasoglu, deren Name einst durch einen Brandbrief gegen Necla Kelek in der Zeit bekannt wurde (unsere Resümees).
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