Essay

Historikerstreit 2.0, zweiter Teil

Von Thierry Chervel
20.06.2021. Von der Mbembe-Debatte über das Papier der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" bis zur "Jerusalem Declaration" und A. Dirk Moses' Spott über den "Katechismus der Deutschen": Die Saison 20/21 wird nicht nur als die der Coronakrise in die Geschichte eingehen, sondern auch als Moment eines (zumindest eifrig betriebenen) Paradigmenwechsels in der Debatte über den Holocaust. Im ersten Historikerstreit hatte Ernst Nolte den Holocaust als "asiatische Tat" relativiert. Die Protagonisten des zweiten Historikerstreits stellen die Bedeutung des Holocaust von links, aus der Warte des Postkolonialismus, in Frage. Ein Überblick über die wichtigsten Texte der Debatte. In diesem zweiten Teil geht um A. Dirk Moses' "Katechismus" und die Folgen.
Zurück zum ersten Teil der Choronologie, Mbembe-Debatte.

Bisher hatten wir die seit einem Jahr laufende Debatte um Holocaust-Relativierung von links unter dem Stichwort "Mbembe-Debatte" resümiert, aber A. Dirk Moses' Artikel "Der deutsche Katechismus" in Geschichte der Gegenwart vom 23. Mai 2021 hat der Debatte noch einmal einen solchen Push gegeben, dass wir sie ab jetzt unter "Historikerstreit 2.0" resümieren werden. Die intensive Debatte hat bisher vor allem in dem linken amerikanischen Historikerblog The New Fascism Syllabus stattgefunden.

Wir haben die Debatte nicht sofort entdeckt, und darum haben wir nicht alle Artikel dazu in unserer Presseschau 9punkt protokolliert. New Fascism Syllabus war für uns bisher kein Name. Hier ist der Überblick des Blogs über die "Katechismus-Debatte".

Hier zunächst ein Resümee des Artikels von A. Dirk Moses:

In flapsig satirischem Ton greift Moses das Kleistsche Pamphlet "Katechismus der Deutschen" auf, das den Deutschen zur nationalen Ertüchtigung gegen die Franzosen dienen sollte. Moses mokiert sich in seinem Essay über einen angeblichen religiösen Kult der Deutschen, der darin bestehe, geradezu panisch an der "Singularität" des Holocaust festzuhalten. Vor diesem Katechismus hätte ein konservatives Paradigma gegolten, das die Verantwortung für den Holocaust nur einigen wenigen zuschieben wollte, aber in den achtziger Jahren, nach dem Historikerstreit, sei es vom "Katechismus der Deutschen" abgelöst worden.

Dabei unterstellt Moses ein weithin taktisches und opportunistisches Verhalten: "Viele linke und liberale Deutsche begriffen nun, dass sie nach dem Holocaust nur dann als 'gute Menschen' gelten können, wenn sie diese Deutung in das eigene Selbstverständnis eingliederten, und dies auch gegenüber einer internationalen Öffentlichkeit dokumentierten." Überdies sei den Deutschen klargeworden, dass "Deutschlands geopolitische Legitimität davon abhing, ob der neue, im Austausch mit amerikanischen, britischen und israelischen Eliten ausgehandelte Katechismus von ihnen akzeptiert wurde."

Der Holocaust werde seitdem in Deutschland als ein "heiliges Trauma" tabuisiert, das keine nicht-jüdischen Opfer als gewissermaßen gleichwertig zulasse. In einer geradezu unheimlichen Überblendung erklärt Moses dabei ausgerechnet zwei jüdische Autoren zu Einflüsterern dieser deutschen Ideologie, Dan Diner und Saul Friedländer, und wirft Diner vor, dass bei ihm "der Holocaust als Zivilisationsbruch den Platz ein(nimmt), der vormals Gott zukam". Erstaunlicherweise spricht Moses dabei von einem "christologisch geprägten Erlösungsnarrativ".

Fortan hätten sich in Deutschland "Hüter der erinnerungspolitischen Orthodoxie" etabliert, die nun über die Einhaltung des deutschen Holocaust-Kultes gewacht hätten. In einer weiteren seltsamen Verdrehung erklärt Moses ausgerechnet die Unterzeichner des "Weltoffen"-Papiers - fast alle höchste Repräsentanten des Staates - zu Häretikern, die sich gegen die Diktate des Kults gewandt hätten.

Dann kommt ein für Moses sehr wichtiger Punkt. In ihrer Verblendung könnten die Deutschen den wahren Grund für den Holocaust nicht erkennen: "Das Nazi-Reich war ein kompensatorisches Unternehmen, das permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte." Dabei sei aber festzuhalten, dass die "Eliminierung ganzer Gruppen in paranoiden und rachsüchtigen Kämpfen gegen 'Erbfeinde' keineswegs einzigartig und in der Weltgeschichte ein verbreitetes Muster ist." Der Holocaust, so Moses' Botschaft an die Deutschen, ist nur ein Verbrechen unter vielen.

Und am Ende entlässt Moses die Deutschen in eine hoffnungsvolle Zukunft: "Der Katechismus ist nicht nur nicht mehr nützlich, er gefährdet inzwischen gerade die Freiheit, die die Deutschen zu schätzen vorgeben." Es wird also Zeit, dass die Deutschen sich aus diesem Kokon befreien.

In The New Fascism Syllabus antworteten zwei Wochen lang fast täglich immer neue Geschichtsprofessoren - und nicht wenige erweisen Moses ihre Reverenz. Bei Artikeln, die wir bereits zitiert haben, verlinken wir auf unsere Presseschau. Wir versuchen, die Presseschau zu aktualisieren, sobald neue Artikel hinzukommen. Für Hinweise sind wir dankbar.

Thierry Chervel


23. Mai 2021

A. Dirk Moses veröffentlicht seinen Artikel "Der Katechismus der Deutschen" in Geschichte der Gegenwart. Wir resümieren ihn am 26. Mai.

Am selben Tag erscheint die englischsprachige Version des Artikels.


27. Mai

Der Geschichtsprofessor Matt Fitzpatrick betont eine Differenz zu Moses: "Ich teile übrigens nicht Zimmerers oder Moses' Ansicht, dass es starke strukturelle Kontinuitäten zwischen Windhoek und Auschwitz gibt. In meiner Arbeit habe ich oft versucht, darauf hinzuweisen, dass der vergleichende Ansatz zwar fruchtbar ist, aber auch der kontrastive." Aber er versichert auch: "Dies ist vielleicht mein einziger Unterschied zu Moses" und kritisiert "Deutschlands Unterstützung für Israel und sein Handeln in allen Lebenslagen". Und er stellt klar, "dass ich Israel immer zu den Siedlerkolonialstaaten gezählt habe".


28. Mai

Helmut Walser Smith, Geschichtsprofessor an der Vanderbilt University, ist einer der wenigen Autoren auf newfascismsyllabus.com, die sich wirklich dezidiert kritisch zu Moses äußern. Das Gedenken an den Holocaust sei in Deutschland nicht von "Hohepriestern" instituiert worden, es sei im Gegenteil eine Graswurzel-Bewegung gewesen: "Betrachten wir nur die lokale Dimension. Mehr als 1.300 Synagogen wurden während des Novemberpogroms geschändet oder zerstört. Fast tausend haben jetzt Gedenktafeln. Dazu gehörten Hunderte von lokalen Konflikten, Stadt- und Gemeinderatsdiskussionen, Treffen von Restaurierungsvereinen, Briefe an Überlebende (viele Städte und Gemeinden organisierten Besucherwochen), und ja, eine Menge Leute, die über Geschichte lesen und auch schreiben. Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von Menschen, aus allen Gesellschaftsschichten, beteiligten sich an dieser Bewegung. Dirk Moses' späte Datierung beginnt übrigens mit dem Erfolg der Bewegung und verpasst die jahrelange, manchmal sogar jahrzehntelange Vorarbeit, die nötig war, um begrenzte Siege zu erringen, als Tausende und Abertausende von Menschen in einer Stadt nach der anderen für ein ehrlicheres historisches Verständnis dessen kämpften, was in ihrer eigenen Heimatstadt geschah."


Etwa 30. Mai


Die Münchner Professorin Paula-Irene Villa Braslavsky scheint davon auszugehen, dass es Moses tatsächlich um Vergangenheitsbewältigung in Deutschland geht, nicht um die Durchsetzung eines bestimmten neuen Framings über den Holocaust und seine Kontexte."Während Moses alle möglichen Debatten und neuen Definitionen darüber erwähnt, wie Deutschland mit seiner völkermörderischen Vergangenheit zurechtkommt - oder auch nicht -, verdeckt und verhöhnt das Katechismus/Häresie/Sekte-Framing genau die Debatten und Verhandlungen, die in Deutschland stattgefunden haben und weitergeführt werden. Anstatt diese Debatten als Teil einer komplexen, noch immer nicht vollständig verstandenen politischen Geschichte in Nachkriegsdeutschland anzuerkennen, dessen geteilte Vergangenheit Moses komplett übergeht, ist das Framing, das er anbietet, selbst reduktionistisch. Er macht die Nuancen und die Komplexität der Politik, des öffentlichen Raums und des Bildungssektors systematisch unsichtbar, einschließlich der Spannungen, der Kämpfe, der intensiven Debatten und der inneren Widersprüche innerhalb sozialer Gruppen und Bewegungen."

2. Juni


Der britische Historiker Bill Niven glaubt ebenfalls, dass es Moses um die deutsche Vergangenheitsbewältigung geht und schlägt für konkurrierende Ansprüche auf Erinnerung die "so genannte 'Faulenbach-Formel'" vor, "wonach bei der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus weder die NS-Verbrechen relativiert, noch die stalinistischen Verbrechen durch den Verweis auf die NS-Verbrechen verharmlost werden sollten".

Der britische Deutschland-Historiker Neil Gregor stimmt Moses mit einigen Einschränkungen zu, unser Resümee.


3. Juni


Der in San Diego lehrende deutsche Historiker Frank Biess ("Republik der Angst") bekennt unter dem Titel "Confessions of an Ex-Believer", ebenfalls einmal an den von Moses beklagten Katechismus geglaubt zu haben, unser Resümee.


4. Juni


Der Historiker Johannes von Moltke gibt eine Menge Hinweise auf weitere Reaktionen (unter anderem ein Tweet von Patrick Bahners). Und er nimmt Moses' Schärfe in Schutz, unser Resümee.




5. Juni


Der Holocaust-Historiker Alon Confino, Mitunterzeichner der "Jerusalem Declaration", stimmt Moses zu und ergänzt, dass es sich im Grunde nicht um eine Debatte über die "Singularität" des Holocaust handelt, sondern um eine Debatte über Israel. unser Resümee.


7. Juni

Thierry Chervel im Perlentaucher: Der Kampf des Narrativs gegen die Geschichte - Jedes Ereignis ist singulär, nur beim Holocaust wird die Singularität in Frage gestellt. Zu A. Dirk Moses' "Katechismus der Deutschen".


8. Juni


Der Historiker und Rechtsextremismusexperte Volker Weiss hat sich auf Facebook sehr kritisch über A. Dirk Moses' Polemik "Katechismus der Deutschen" geäußert. In der taz erläutert er diese Kritik am postkolonialistischen Historiker, den er in die Nähe rechter Holocaustrelativierer stellt, unser Resümee.

Die postkolonialistische Historikerin Tiffany Florvil erklärt, dass schwarze Deutsche sich in ihrer Leidensgehichte schon häufiger den Holocaust zum Referenzpunkt genommen haben, aber sie beklagt auch, dass diese Ansprüche von der Mehrheitsgesellschaft kaum aufgegriffen wurden: "Wenn Vergangenheitsaufarbeitung ein so grundlegendes Merkmal der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist, wo sind dann die Perspektiven von Schwarzen Deutschen, türkischen Deutschen und Roma-Gemeinschaften? Warum kennen wir sie nicht und warum prägen sie nicht die Debatte? Die letztgenannte Gruppe wurde erst 1982 offiziell als Opfer des Dritten Reiches anerkannt."


9. Juni


Der amerikanisch-jüdische Historiker Andrew Port stimmt Moses mit Einschränkungen zu und erzählt, wie er selbst schon seit einiger Zeit vom "Glauben" abfiel, unser Resümee.


10. Juni

Die Historikerin Mirjam Brusius will in der Debatte über Moses' Polemik "Der Katechismus der Deutschen" auf newfascismsyllabus.com nicht in seine Behauptung von einem deutschen Schuldkult einsteigen, aber sie stimmt ihm bei anderen Punkten zu.

12. Juni


"Von rechts auf links gedreht". Alan Posener schreibt in der Welt über Moses' "Schulkult"-These (unser Resümee).

Moses wählt die religiöse Sprache bewusst, schreibt Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. Und es wimmelt in seinem Artikel von "Häresieprozessen, Exorzismen, Hohepriestern, Katechismus, Glaubensartikeln" und so weiter. Am meisten stutzt Wessel aber bei der von Moses eingeführten Figur des "selbsternannten Hohepriesters" (unser Resümee).


14. Juni


In der FAS findet Jürgen Kaube schon die Behauptung, der Bezug auf  den Holocaust habe das bundesdeutsche Selbstverständnis nach dem Krieg geprägt, faktisch falsch: "Im Kontext der bundesrepublikanischen Staatsgründung spielte die Absetzung vom Staat Hitlers eine Rolle, auch die Konfrontation mit dem Kommunismus, aber der Holocaust keine. (Unser Resümee.)

In The New Fascism Sylybus intervenieren ideenhistoriker Sébastien Tremblay, Fabian Wolff, Christiane Wilke und Ussama  Makdisi. (Resümee und Links.)


15. Juni


Kate Davison erhofft sich in The New Fascism Syllabus ein Tauwetter durch A. Dirk Moses Text über den "Katechismus". (Unser Resümee.)


16. Juni

Ziemlich happy über die Debatte, die er auslöste, aktiviert Moses jetzt in The New Fascism Syllabus ein zweites Mal und resümierend die Walsersche Moralkeule, um dem deutschen Publikum eine Linke zu versetzen. Er resümiert die weitgehend zustimmenden Äußerungen seiner Anhänger und spricht über Kritiker (unser Resümee).


17. Juni

Jennifer Evans, eine der Betreiberinnen des Blogs The New Fascism Syllabus beendet die Debatte um Moses' Polemik "Der Katechismus der Deutschen" mit einigen abschließenden Bemerkungen.

Alex Feuerherdt schreibt bei mena-watch.com: "Der Historiker Dirk Moses stellt in einem Essay die Singularität der Shoah von links infrage und behauptet, das Beharren auf ihr sei Teil eines 'Katechismus der Deutschen', eines 'Erlösungsnarrativs', mit dem gebrochen werden müsse. Mit der gesellschaftlichen Realität in Deutschland hat das nicht viel zu tun, es verweist vielmehr auf die geschichtspolitischen, 'israelkritischen' Absichten des Autors." Feuerherdt verweist auf einen Text des "identitären" (also rechtsextremen) Autors Martin Sellner in sezession.de (schon vom 25. Mai), der Moses "absolut lesenswert" findet.


18. Juni


Zumindest auf den Meinungsseiten der SZ ist die Debatte um Moses'  Polemik gegen den "Katechismus der Deutschen" (unsere Resümees) nun auch angekommen. Es gehe Moses nur vordergründig um die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, stellt der Historiker Norbert Frei in seiner Kolumne fest (unser Resümee).

Zurück zum ersten Teil der Choronologie, Mbembe-Debatte.

Thierry Chervel