9punkt - Die Debattenrundschau

Computer, Brunch und Podcasts

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2021. "Belarus lebt" heißt eine Ausstellung in Berlin, die die Proteste gegen das Lukaschenko-Regime würdigt. Aber leider lebt es zum Teil inzwischen im Gefängnis, wie der Präsidentschaftskandidat  Wiktor Babaryka. Über beide berichtet die taz. Die FAZ schildert das Versagen Russlands in der Coronakrise. Auch in Chile hat die Katholische Kirche in der Bewältigung ihrer Missbrauchsgeschichte Kredit verloren, berichtet die Welt. Die SZ beleuchtet das dunkle Wesen und Wirken des Bitcoin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.07.2021 finden Sie hier

Europa

Gaby Coldewey bespricht für die taz die Ausstellung "Belarus lebt" im Pilecki-Institut in Berlin: "Kuratiert wird die Ausstellung von dem Minsker Fotografen Andrei Liankevitsch. Sein Hauptaugenmerk lag auf den vielfältigen kreativen Formen, die der Protest in Belarus angenommen hat. Und das, obwohl die Bevölkerung seit fast einem Jahr brutalsten Repressionen ausgesetzt ist. Gleich am Eingang erschlagen einen die bloßen Zahlen: Bis Mitte Mai waren in Belarus 35.000 Menschen im Rahmen der Proteste inhaftiert worden. Darunter 548 Journalist*innen. Mehr als 500 Menschen sind offiziell als politische Gefangene anerkannt."  Ebenfalls in der taz porträtiert Barbara Oertel den ehemaligen belarussischen Bankmanager und Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babaryka, der zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. "Am Dienstag dürfen erstmals auch Verwandte an der Gerichtsverhandlung teilnehmen. Sie applaudieren, nachdem Babaryka die letzten Worte wiederholt, die ihm seinen Kinder mit auf den Weg gegeben haben: 'Vater, wir schämen uns nicht für dich!'"

In einem beeindruckenden Leitartikel benennt Friedrich Schmidt, Moskau-Korrespondent der FAZ, das Ausmaß der russischen Schlamperei in der Coronakrise, bei gleichzeitiger "zarenhafter Entrücktheit" Wladimir Putins: "Die enorme Übersterblichkeit mit voraussichtlich weit mehr als einer halben Million Toten in der Pandemie wird von so gut wie niemandem benannt. Sie ist der Preis für Russlands Scheinnormalität."

Der Versuch eine Gay-Pride-Parade zu organisieren, hat die Macht- und Gewaltverhältnisse in Georgien offengelegt, berichtet Barbara Oertel für die taz: "Beim Kampf gegen dekadente Umtriebe aus dem Westen und zum Schutz der 'heiligen Familie' marschiert immer wieder die orthodoxe Kirche in der ersten Reihe mit. Manchmal legen Priester auch selbst Hand an, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient. Das ist auch am vergangenen Montag wieder so. Ein Priester ist an einem Angriff auf einen Journalisten beteiligt. Ein Dekan predigt der Menge vor dem Parlament, man habe Gewalt anwenden müssen - für das Vaterland. Den ganzen Tag über ruft das Patriarchat die Protestierenden dazu auf, Ruhe zu bewahren - was einer gewissen Chuzpe nicht entbehrt, da die Kirche die Gewalt selbst mit befeuert hat."

In der FR fragt Jürgen Knirsch von Greenpeace, warum die EU beim Freihandelsabkommen mit Südamerika nicht auf die so viel beschworene Transparenz setzt. Nachdem das Abkommen im EU-Parlament abgelehnt worden war, dachte man sich einen Trick aus, um den Deal zu retten, "der schon bei der Debatte um das Ceta-Abkommen zwischen der EU und Kanada half, die Zustimmung zu erreichen. Strittige Punkte werden in ein Zusatzdokument gepackt und zusammen mit dem eigentlichen Vertragstext verabschiedet. Bei CETA war dies das sogenannte gemeinsame Auslegungsinstrument, bei EU-Mercosur ist von einer Zusatzerklärung die Rede. Was genau in dieser Zusatzerklärung steht oder stehen soll, wer sie aktuell mit wem verhandelt, welchen völkerrechtlichen Stellenwert dieser zusätzliche Text haben soll - alle diese Fragen bleiben bisher unbeantwortet." Zur Kritik von Greenpeace an dem Abkommen: mehr hier.
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Geschichte

Florian Coulmas bespricht für die NZZ die große Ausstellung über Sklaverei im Amsterdamer Rijsksmusum (unser Resümee) und beleuchtet nebenbei das Verhältnis der Niederländer zu ihrer eigenen Geschichte, das in Umfragen erkundet wurde: "Im Laufe der rund zweieinhalb Jahrhunderte vom Ende des 16. bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren etliche Städte, insbesondere Rotterdam und Amsterdam, direkt in den Sklavenhandel verwickelt und profitierten beträchtlich davon. Darum wird auch darüber diskutiert, ob vonseiten der Städte Entschuldigungen geäußert werden sollten. Dies hält gegenwärtig freilich nur ein Fünftel aller Bürger für angebracht."
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Religion

In Chile hat sich die katholische Kirche durch ihren Umgang mit Missbrauch in den eigenen Reihen jeden Kredit verloren, berichtet in der Welt Tobias Käufer, der Parallelen zu Deutschland sieht: "Was mit einer Handvoll rebellischer Katholiken in der Diözese Osorno begann und mit eben dieser unglücklichen Bemerkung des Papstes seine Fortsetzung fand, endete in einem Totalschaden für die chilenische Kirche. Weil die Bischofskonferenz bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im Land erst wegschaute und dann banalisierte, blieb ihr am Ende nur der geschlossene Rückzug. Vieles, was in Chile passierte, erinnert an die Geschehnisse heute um Kardinal Rainer Maria Woelki im Erzbistum Köln - und sollte der deutschen Kirche eine Lehre sein. Wer nicht bereit ist, rückhaltlos aufzuklären, Verantwortung zu übernehmen, kann schnell von der Dynamik solch eines Prozesses überrollt werden."
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Internet

"Bitcoin hat das Internetverbrechen globalisiert, befreit", meint in der SZ Philipp Bovermann, der die Existenz der Kryptowährungen auch verantwortlich macht für die Erpressungen mit verschlüsselten Daten. Hinter den Kryptowährungen steht für Bovermann aber auch ein tiefes Misstrauen gegen Banken und Behörden als Intermediäre. Könnte man nicht statt dessen einen Geldwert oder auch eine Identität "in einer offenen Blockchain eintragen, selbst zum Manager seiner Identität werden? Diese Fantasien sind mächtig, sie wurzeln so tief im Zeitgeist, dass sie linken Bankenhassern und libertären Regulierungshassern erstmals eine gemeinsame Sprache gegeben haben: Die Welt soll dezentraler werden, und das tut sie ja auch, so sehr reaktionäre Kräfte sich dagegen stemmen. Krypto ist der Fortschritt in einer Welt, in der das Gefüge des Vertrauens in die Institutionen brüchig geworden ist."
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Ideen

Christhardt Henschel, Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau, wirft in geschichtedergegenwart.ch einen Seitenblick auf die von A. Dirk Moses entfachte Debatte um einen angeblichen "Katechismus der Deutschen", der die Singularität des Holocaust zu einer Art Totem aufrichte. In Warschau stießen deutsche Debatten über die Singularität (mal abgesehen davon, dass die Moses-Debatte nicht in erster Linie eine deutsche war) auf Schulterzucken: "Für manche bestätigt sich, was man schon längst wusste: Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich zwar für die Schoah, für die Millionen nichtjüdischen Toten finden sich höchstens ein paar Worte an Jahrestagen. Indes - die meisten Interessierten sind aktuell so sehr in den innerpolnischen Deutungskämpfen engagiert, dass für die Beschäftigung mit den Diskursen im Nachbarland nur wenig Raum bleibt."

Am Versuch, Sprache zu regulieren, scheiterten schon die französischen Revolutionäre. Schließlich hätte George Orwells Roman "1984" eigentlich "die Idee einer politischen Sprachreinigung ein für allemal diskreditieren müssen", meint der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant in der Welt. Aber nichts da, selbst die Berliner Behörden gendern inzwischen: "In Deutschland hat die linguistische Purifikationswut vermutlich damit zu tun, dass die Herrschaft der Nazis mit einer politischen Verunreinigung der Semantik in den von ihnen beherrschten Diskursen einher ging, gegen die dann die Sprachkritik Victor Klemperers für reine Luft gesorgt hat. Klemperer hat gezeigt, dass Bacon recht hatte: Die Wörter können falsch und gemein sein, und sie können 'befehlen', das heißt, sie können das Denken von der Wahrheit oder einfach vom menschlichen Anstand abbringen. Aber Klemperers Sprachkritik ist analytische historische Semantik eines bestimmten Diskurses gewesen, keine politische Aktion zur Sprach-Reform. Die aktuelle permanente semantische Revolution" sei dagegen "selbst Durchsetzung einer totalitären Semantik, die unter Klemperers Sprachkritik fallen würde, wenn er sie beobachten könnte."

In der NZZ wünscht sich die Autorin und LGBT-Aktivistin Anna Rosenwasser mehr spielerischen Umgang mit der Sprache, dann falle auch das Gendern ganz leicht: "Ich vermute, der Grund für unseren Widerstand gegen inklusive Sprache ist eine Stellvertreterdiskussion. Unsere Sprache verändert sich ja ständig auch in streitbar semiästhetische Richtungen: Der Aufschrei gegen die Schreibweise 'iPhone' blieb meines Wissens aus. Heute nervt sich niemand aktiv über die Neologismen Computer, Brunch und Podcasts. Weil wir die Existenz dieser Dinge nicht nur anerkennen, sondern mitunter feiern. Das ist beim Thema Feminismus und Geschlechtervielfalt nicht so."
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Politik

Die Gewalt ist wieder entfesselt in Äthiopien, und Premierminister Abiy Ahmed ist mit seinem Reformprogramm durch den Krieg in Tigray vollends gescheitert, schreibt Ilona Eveleens aus Addis Abeba in der taz. Fatalerweise waren es gerade auch seine Reformen, die die Reethnisierung und den Hass auf die einst dominierenden Tigrayer bestärkten: "Es war vor drei Jahren schon deutlich, wie groß der Hass gegen die TPLF war, die Partei der kleinen Tigray-Ethnie, die 1991 als Guerilla Addis Abeba erobert und seitdem Äthiopiens Regierung dominiert hatte. Vor allem unter den Oromo und Amhara, die zwei größten Bevölkerungsgruppen im Land, war die Abneigung gegen die Dominanz der TPLF groß. Mit Abiy, der eine Amhara- Mutter und einen Oromo-Vater hat, dachten beide Ethnien, dass sie jetzt an der Macht seien." Über die Lage in Tigray ist immer schwieriger zu berichten, ergänzt Eveleens in einem zweiten Artikel: "Seit Kriegsbeginn in Tigray im November 2020 wurden Dutzende äthiopische Journalisten festgenommen."
Archiv: Politik
Stichwörter: Äthiopien, Tigray