9punkt - Die Debattenrundschau

Auf der Überholspur einer Diskursautobahn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2021. Frankreich hat offiziell die Zahl der 100.000 Coronatoten überschritten - Le Monde zieht traurige Bilanz. Im Spiegel kritisiert der Historiker Peter Longerich die "Jerusalem Declaration", die als "nicht per se" antisemitisch deklariere, was von Antisemitismus nicht zu unterscheiden sei. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention macht laut SZ noch einmal deutlicher, wie krass Gewalt gegen Frauen gerade in der Türkei ein Thema ist.  Wenn erst die Benin-Bronzen zurückgegeben sind, "werden wir uns überlegen", was Museen in Deutschland behalten dürfen, sagt Mnyaka Sururu Mboro vom Verein Berlin Postkolonial in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2021 finden Sie hier

Europa

Auf Seite 3 der SZ schaut sich Tomas Avenarius am Beispiel einiger Türkinnen an, was Erdogans Austritt aus der Istanbul-Konvention für türkische Frauen bedeutet (Unsere Resümees): "Gewalt gegen Frauen ist kein türkisches, es ist ein weltweites Phänomen. Aber in der Türkei hat es besonderes Gewicht, nicht nur wegen der berüchtigten 'Ehrenmorde', bei denen Väter oder Brüder ein Mädchen töten, das sich auf einen Mann eingelassen und damit angeblich die eigene Familie beschmutzt hat. Die türkischen Zeitungen sind voll mit Berichten über Gewalt gegen Frauen, immer wieder. Zum Beispiel Güldünya Tören, vergewaltigt und geschwängert von einem Verwandten, nach der Geburt des Kindes getötet von der eigenen Familie. Ein 'Ehrenmord'. Der Mord an der Gymnasiastin Münevver Karabulut, einer jungen Frau aus einer religiösen Familie: Sie wurde enthauptet, ihr wurden die Gliedmaßen abgetrennt, der Rumpf wurde in einen Müllcontainer geworfen von ihrem Freund, einem verwöhnten Upperclass Boy. (…) Seit 2017 werden Jahr für Jahr rund 300 Türkinnen getötet, mal sind es mehr, mal ein paar weniger. Die Dunkelziffer dürfte enorm hoch sein. Allein seit Beginn dieses Jahres starben mindestens 79 Frauen."

Frankreich hat offiziell die Zahl der 100.000 Coronatoten überschritten. Eine Reihe von Artikeln in Le Monde zieht Bilanz. Im Laufe der Krise haben sich die Debatten immer weiter nationalisiert - und doch sieht man, dass überall die gleichen Debatten geführt werden. Jérôme Fenoglio schreibt im Editorial des Dossiers: "Es gehört alle Blindheit der Welt dazu, nach dem Sarkasmus der 'kleinen Grippe' in den ersten Monaten heute noch das Ausmaß der Katastrophe zu leugnen. Und den ganzen bösen Willen dieser Epoche, um die Restriktionen, die das Coronavirus eindämmen sollten, mit der Errichtung einer 'Hygienediktatur' gleichzusetzen. In Frankreich wurden sie mit pedantischem Autoritarismus und einem Mangel an Erklärungen verfügt, der die Unterstützung unserer Mitbürger schwächte. Dennoch waren sie notwendig."

Außerdem: Vier Präsidenten, neun Premierminister und viele Minister und Manager hat die französische Verwaltungshochschule École Nationale d'Administration (ENA) ausgebildet, nun soll sie laut Macron geschlossen werden, schreibt Martina Meister in der Welt: "Womöglich ist die Schließung der verhassten Eliteinstanz ein Jahr vor der nächsten Präsidentschaftswahl auch ein Signal an Frankreichs Wähler. Es soll sagen: Macron, der mutige Reformer, ist zurück. Auch könnte Macron hoffen, damit bei Wählern des extrem rechten Spektrums zu punkten, denn für viele von ihnen ist die staatliche ENA eine Chiffre für das Versagen von Frankreichs Elite."
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Gesellschaft

"Ich glaube nicht einen Moment lang, dass Foucault pädophil war", sagt der französische Essayist Pascal Bruckner, der Foucault gut kannte, im NZZ-Interview mit Claudia Mäder (Unsere Resümees). Aber Foucault leistete wie viele andere Linke in und nach den 68ern "intellektuelle Schützenhilfe für pädophile Verhaltensweisen", räumt er ein. Über die aktuellen Identitätsdebatten wäre Foucault entsetzt, glaubt er: "Dass Foucault, Deleuze, Derrida und zu Teilen auch Roland Barthes das amerikanische 'woke'-Denken inspiriert haben, ist eine Tatsache. Nur sind die Ideen dieser Denker auf eine Art und Weise interpretiert worden, die man durchaus absurd finden kann. Die Amerikaner haben eine stark kommunitaristische, auf einzelne Gruppen fokussierte intellektuelle Tradition, und in diesen Rahmen sind die französischen Theorien eingepasst worden. Ich glaube, dass die Urheber der sogenannten French Theory einigermaßen entsetzt wären, wenn sie sähen, was in Amerika aus ihren Werken wurde. Namentlich die Überbetonung sexueller oder rassischer Identitäten dürfte sie schockieren, da sie selber für die Auflösung jeder Identität eintraten."

"Das Wohnen ist die soziale Frage der Gegenwart", konstatiert Gerhard Matzig in der SZ. Der nun gekippte Berliner Mietendeckel hätte am Wohnungsmangel nichts geändert, fährt er fort. Er macht sechs Vorschläge, etwa "das Privatisieren des sozialen Wohnungsbaus" einzustellen. Außerdem: "Die zeitliche Befristung dieses geförderten Wohnungsbaus (Mietpreisbindung) als das begreifen, was es ist, nämlich Unsinn. Viertens: Die Förderung, die zuletzt eher den Banken und der Immobilienwirtschaft zugutekam, endlich auf die Basis der Gemeinnützigkeit umstellen. Fünftens: Die Baupreise reduzieren, indem der Norm-Furor eingehegt wird. Sechstens: Das Wohnen in Teilen zur Staatsaufgabe machen. Das geht auch ohne Plattenbauweise. Dafür mit Ministerium."
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Politik

Bis zum Juli könnten die USA vielleicht schon Herdenimmunität erreicht haben. Wie machen die das bloß, fragt sich Andrian Kreye in der SZ und findet die Antwort in einem Dokument aus dem Jahr 2014 mit dem Titel "Counter-Zombie Dominance", einem Notfallplan des U.S. Strategic Command für den Ernstfall der Zombie-Apokalypse, den "die Streitkräfte vor allem für jüngere Offiziere als Schulungsmaterial für strategisches Denken verwenden. (…) Prinzipiell verläuft die Abwehr einer Invasion der Untoten nach denselben Mustern wie ein klassischer Verteidigungsfall in sechs Phasen." Aber: "Längst geht es da um mehr als um den bloßen Seuchenschutz. In einem Essay über Impfnationalismus beschreibt die Historikerin und Publizistin Anne Applebaum das Wettrennen zur Immunität wie einen neuen Kalten Krieg. Vergessen sind die globalen Solidaritätsgedanken des vergangenen Sommers, die Wissenschaftler und Impfexperten predigten. Die USA, Russland und China betreiben längst schon eine Art Soft-Power-Kolonialismus mit ihren Impfstoffen."
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Ideen

Helmut Ortner liest für hpd.de Gerd Schwerhoffs Studie "Verfluchte Götter - Die Geschichte der Blasphemie", die unter anderem zeigt, dass das Thema bizarrer Weise aktueller denn je ist. Der Terrorismus, so Ortner, ist nur "der blutige Begleitrahmen eines Prozesses, der seit einigen Jahren im Gange ist: die Einschüchterung des Denkens, die Bekämpfung des Rechts auf freie Meinung, einschließlich des Rechts auf Spott. Nein, Gotteslästerung ist kein Relikt von gestern. Ob die Punk-Gebete von Pussy Riot, die Satanischen Verse Salman Rushdies oder Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo: sie alle wurden unter dem Etikett Blasphemie traktiert, verfolgt, bedroht - getötet."

Sehr freundlich, aber deutlich in der Sache kommentiert der Historiker Peter Longerich im Gespräch mit Klaus Wiegrefe vom Spiegel die "Jerusalem Declaration" als "etwas naiv": "Die BDS-Bewegung ist doch Teil des palästinensischen Kampfes gegen Israel mit dem Ziel der Beseitigung dieses Staates. Wie muss man sich eine Abschaffung Israels vorstellen? Doch wohl kaum als einen menschenrechtskonformen friedlichen Transformationsprozess. Es gibt eine Grauzone, in der Israel-Feindschaft nicht mehr von Antisemitismus unterschieden werden kann."

Kürzlich hatte der Historiker Michael Wolff die unter dem Titel "Kant - ein Rassist?" stattfindende Diskussions-Reihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in der NZZ scharf kritisiert. (Unser Resümee). Kant war aber "Rassist, Semi-Rassist, Ethnizist und Kulturchauvinist, und zwar in allen Phasen seines Denkens", entgegnet ihm heute der Philosoph und Mitveranstalter der Reihe, Dieter Schönecker, ebenfalls in der NZZ: "Rassistisch ist Kants Rassenthese dadurch, dass er menschliche Rassen in Bezug auf ihre, wie er sagt, 'unausbleiblichen' erblichen Merkmale abwertet oder sogar hierarchisiert. Semi-rassistisch sind Kants abwertenden Bemerkungen über Völker (die keine Rassen sind, sondern Varietäten), sofern er sie mit seiner Rassentheorie verknüpft oder aus ihr ableitet. Die diskriminierende Abwertung von nicht-unausbleiblich erblichen Eigenschaften von Völkern - etwa der Haarfarbe -, ist ethnizistisch. Und dort, wo Kant Völker, Nationen und Kulturen in Bezug auf nicht-erblich fundierte kulturelle Leistungen und Ausprägungen herabsetzt, bietet sich der Begriff des Kulturchauvinismus an."
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Kulturpolitik

Susanne Memarnia von der taz spricht mit Mnyaka Sururu Mboro, einem seit 30 Jahren in Berlin lebenden Aktivisten aus Tansania, und dem Historiker Christian Kopp, beide Mitbegründer des Vereins Berlin Postkolonial, über die mögliche Rückgabe der Benin-Bronzen aus dem Humboldt-Forum und anderen Museen. Mboro stellt drüberhinaus weitergehende Forderungen: "Es geht sicher nicht um die gesamten Bestände. Selbst in ethnologischen Museen kommen nicht alle Objekte aus kolonisierten Gebieten. Aber es kann auch nicht nur um einzelne Prestigeobjekte gehen, die uns von den Nachfahren der Räuber gnädig zurückgegeben werden. Es geht um unsere Ahnen und unser Eigentumsrecht an allen Kultur- und Naturschätzen, für die ein rechtmäßiger Erwerb durch die Museen nicht nachgewiesen werden kann. Wenn das anerkannt ist, werden wir uns überlegen, was wir den Häusern im Norden unter welchen Bedingungen als Leihgabe überlassen."

In der FAZ kritisiert Patrick Bahners die immer größere Ausdehnung des Begriffs "Raubkunst". So hat die Limbach-Kommission jetzt die Rückgabe eines Bildes empfohlen, das der Eigentümer nicht unter unmittelbarem Zwang verkauft hatte, sondern um sein Leben im Exil aufzubauen. Für Bahners ein gutes Beispiel, wie vage der Begriff Raubkunst geworden ist: "Die Washingtoner Erklärung spricht von Beschlagnahmen, widerrechtlicher Aneignung durch den Staat. In der Praxis bezog man auch zivilrechtlich getarnte Beschlagnahmen ein, erzwungene Scheinverkäufe. Den Begriff des Zwangsverkaufs dehnte man dann auch auf Fälle aus, in denen das Kulturgut gar nicht in die Hände des Staates gelangte. Und nach der jüngsten Empfehlung sollen jetzt auch die Geschäfte rückabgewickelt werden, in denen Gerettete gerettetes Eigentum veräußerten, um ihr neues Leben aufzubauen. Sollten sich die übrigen Signatarstaaten der 'Washingtoner Erklärung' der Auslegung der deutschen Beratenden Kommission anschließen, käme auf die Museen der Welt eine Welle neuer Restitutionsanträge zu."
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Medien

taz-Redakterin Lena Kaiser verteidigt die ehemalige taz-Kolumnistin Kübra Gümüsay gegen die ehemalige taz-Koluministin Ronya Othmann. Othmann warf Gümüsay kürzlich in der FAS Nähe zu konservativen türkischen Positionen und zum politischen Islam vor, die sie als Feminismus ausstaffiere (unser Resümee). Kaiser dazu: "Sie kritisiert letztlich nicht Gümüsays Haltung, sondern prangert sie als Person an. Die Geste des Textes ist die: Hier fährt jemand hinter verdunkelten Scheiben mit Sonnenbrille auf der Überholspur einer Diskursautobahn. Die Straße ist das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, eines Flaggschiffs der konservativen Presse, das offen ist für Gastbeiträge von Alexander Gauland und das einer vermeintlichen Cancel Culture das Handwerk legen will. Wenn Gümüsay auf dieser Bühne angegriffen wird, dann auch als Protagonistin eines intersektionalen Aktivismus, der gerne unter dem Label Identitätspolitik abgetan wird und den man mit seinem Anliegen eines Empowerments marginalisierter Guppen gar nicht erst verstehen will."
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