9punkt - Die Debattenrundschau

Einblicke ins Heilige

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2021. Die Coronakrise zeigt: Es ist Zeit, "das staatliche Gefüge insgesamt einer strengen und grundsätzlichen Inspektion zu unterziehen", schreibt Thomas Schmid in der Welt. Hongkong kommen die Hongkonger abhanden: 44 Prozent der Bevölkerung wollen die Stadt gern verlassen, berichtet die Zeit. Wer die deutsche "Schuldobsession" kritisiert, wie Hedwig Richter und Bernd Ulrich das letzte Wochen taten, bedient die Rede vom "Schuldkult", wie Neurechte sie führen, kritisieren die Historiker Christina Morina und Dietmar Süß  in der SZ. Der Tagesspiegel stellt einen UN-Bericht zur (oft beklagenswerten) Lage der Frauen in der Welt vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Politik ist weit davon entfernt, während der Pandemie die "Macht an sich zu reißen", konstatiert Thomas Schmid in der Welt: "Keineswegs nur in Reaktion auf den Nationalsozialismus ist das politische System der Bundesrepublik auf Beschränkung, Teilung und Bremsung von Macht ausgerichtet worden. Der Föderalismus gehört genauso dazu wie die Kompliziertheit des Verfahrens, einen Regierungswechsel durch Misstrauensvotum zu bewerkstelligen." Nun aber sei es "hohe Zeit, nicht nur das 'Format' der Ministerpräsidentenkonferenz zu überdenken. Die Corona-Pandemie macht es nötig, das staatliche Gefüge insgesamt einer strengen und grundsätzlichen Inspektion zu unterziehen. Den Föderalismus neu zu gewichten. Der Bürokratie ihre Allmacht in Routine und Stillstand zu rauben."

Matthias Meisner hat mit "Fehlender Mindestabstand" ein erstes Buch über die Coronaleugnerszene vorgelegt, die häufig mit antisemitischen und rassistischen Verschwörungstheorien operiert. Meisner beobachtet im  Gespräch mit Eugen El von der Jüdischen Allgemeinen eine schwache Reaktion der Behörden auf die Querdenker-Demonstrationen: "Es ist wichtig, dass Menschen in einer Demokratie ihren Unmut zum Ausdruck bringen können. Aber es darf nicht sein, dass Coronaleugnerinnen und Coronaleugner den Behörden auf der Nase herumtanzen. Das ist zum Beispiel in München geschehen, als ein Querdenken-Protest als Gottesdienst deklariert wurde und so die Auflagen ausgehebelt wurde. Die Schlupflöcher der freiheitlich-demokratischen Grundordnung werden zum Teil schamlos ausgenutzt."

Der Deutsche Ärztetag soll im Mai darüber entscheiden, ob der Satz "Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten" aus der Musterberufsordnung gestrichen wird, schreibt Karin Dalka in der FR und ergänzt: "Klingt selbstverständlich, längst überfällig im Sinne der Berufs- und Gewissensfreiheit. Aber dass der Ärztetag so entscheidet, ist längst nicht ausgemacht - obgleich niemand, wirklich niemand die Medizinerinnen und Mediziner zur Sterbehilfe verpflichten will. Auch in der Ärzteschaft werden die Stimmen lauter, die die vermeintlichen Gewissheiten einer bevormundenden Medizin infrage stellen. Etwa dass bei einer flächendeckenden Palliativversorgung der Wunsch nach Sterbehilfe gar nicht erst aufkomme. Oder dass fast jeder Suizidwunsch auf eine psychische, meist depressive Störung zurückgehe."

Es gibt eine unschöne Tradition der Päderastie unter französischen Intellektuellen in Bezug auf den Maghreb, schreibt Iris Radisch in der Zeit mit Blick auf die Debatte um Michel Foucault, dem Verfehlungen in Algerien vorgeworfen werden (unsere Resümees) Man habe sich Knaben im Bordell gekauft und dann geglaubt, dem Mythos zu begegnen: "Der koloniale Hintergrund solcher im Bordell gewonnenen Einblicke ins Heilige, die auch Foucault begeisterten, weil sie 'das Nachdenken über Gott und das Nachdenken über die Sexualität zu einer gemeinsamen Form verbinden', wurde diskret übergangen. Das gilt auch für die französische Umdeutung der nordafrikanischen Kolonien zu einer Wellnesszone des sonnigeren, authentischeren Lebens, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von jungen intellektuellen Algerienfranzosen unter dem Schlagwort Mittelmeerkultur propagiert wurde."

Außerdem: Im großen NZZ-Interview mit Rene Scheu kritisiert der Virologe Hendrik Streeck Medien und Journalismus, aber auch Politik und Wissenschaft. Er fordert mehr Interdisziplinarität in der Debatte: "Die Virologen sollten nicht die Macht übernehmen, und die Politiker sollten sich nicht hinter den Virologen verstecken." Wenn es um Diversität geht, sind Juden meist nicht mit gemeint, stellt Andreas Schreiner in der NZZ fest und leitet daraus ab, linke Identitätspolitik habe eine Antisemitismus-Problem.
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Ideen

Neue autoritäre Politik braucht nicht mehr das Militär und Gewalt um sich durchzusetzen, schreibt  Sozialanthropologin Shalini Randeria in der Zeit. Sie nennt Polen und Ungarn, aber auch Brasilien als Beispiele: "Sanft autoritäre Politiker legitimieren sich durch klare Wahlsiege bei formal demokratischen Wahlen. Sie setzen ihre Macht dann jedoch dazu ein, die Institutionen von innen heraus auszuhöhlen. Wesentliche Eckpfeiler liberaler Demokratien wie die Prinzipien der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes von Minderheiten werden dadurch untergraben. Weil diese Verschiebungen fast unmerklich und schleichend vor sich gehen, lässt sich dieser Autoritarismus als 'sanft' bezeichnen. Doch die Folgen für die Zukunft liberaler Demokratien sind nicht minder schwerwiegend."

Außerdem: Herfried Münkler fragt ebenfalls in der Zeit, ob Armin Laschet oder Markus Söder dem Wort "konservativ" heute noch einen Sinn geben können. Mathias Brodkorb berichtet in der FAZ von einem Protest des Asta der Uni Osnabrück gegen einen Auftritt des Altphilologen Egon Flaig, der ein Rechter sei.
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Europa

Bülent Güven, ein Erdogan nahestehender Politiker in Deutschland, hatte neulich in der Zeit beklagt, dass konservative Muslime im Bundestag kaum repräsentiert seien. Darauf antwortet heute Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland und Sprecher der Initiative Säkularer Islam. Es sei entlarvend, "wenn Vertreter des politischen Islams, solange es darum geht, ihren Einfluss in Deutschland geltend zu machen, alle Menschen (Säkulare, Aleviten, Christen, Jesiden und Atheisten) aus mehrheitlich islamischen Ländern zu Muslimen erklären, aber dann, wenn es um die Durchsetzung der konkreten politischen Teilhabe von Muslimen geht, plötzlich innerhalb der Muslime hierarchisieren und behaupten, dass säkulare Muslime nicht für die angeblich wahren Muslime sprechen könnten."
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Geschichte

Vergangene Woche hatten die Historikerin Hedwig Richter und der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich in der Zeit eine erinnerungspolitische Wende gefordert: Den Deutschen attestierten sie eine Schuldobsession, die "Sonderweg-Erzählung" lähme das Land, schrieben sie (Unser Resümee). "Beschämend" nennen heute im SZ-Feuilleton die Historiker Christina Morina und Dietmar Süß den Text und werfen den Autoren vor, einen "Popanz aufzubauen, um historische Tiefe zu suggerieren": "Für die drängenden Fragen nach der Zukunft des NS-Gedenkens interessiert sich der frivole Vorstoß derweil nicht. Vielmehr dient die Abrechnungspose zur Ausschmückung einer faktenarmen Kritik an der Politik im Dauerkrisenmodus. Dass man allein für diesen Effekt bereit ist, die neurechte Rede vom 'Schuldkult' wenn auch nicht wörtlich zu zitieren, so doch wortreich zu bedienen und so in die politische Mitte zu hieven, ist gefährlich. Die Überlegungen von Hedwig Richter und Bernd Ulrich stellen deshalb nicht weniger dar als einen geschichtspolitischen Einschnitt. Mit ihrem Plädoyer, sich von den 'Ketten' der bislang geltenden 'Raison d'Etre' und von 'Zombie-Paradigmen' zu lösen, stellen sie den Grundkonsens eines prinzipiell selbstkritischen Umgangs mit der NS-Zeit infrage."

Wilhelm von Preußen hat dem Nationalsozialismus keinen "erheblichen Vorschub" geleistet (Unsere Resümees), dafür war er viel zu unbedeutend, schreiben die Historiker Ulrich Schlie und Thomas Weber in einer zweiseitigen Analyse im Feuilleton der Welt: "'Erheblicher Vorschub' ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Vorschub haben Hitlers Machtergreifung viele geleistet, insbesondere auch die alten Eliten in Heer, Beamtenschaft und Diplomatie, und ohne Zweifel auch der ehemalige Kronprinz. Was aber kann 'erheblicher Vorschub' in der konkreten historischen Situation 1932/1933 bedeuten? Bei der Beantwortung der Kernfrage ist es rechtlich unerheblich, ob Wilhelm von Preußen die Staatsform der Weimarer Republik abgelehnt hat oder nicht. Die KPD beispielsweise bekämpfte heftig die Weimarer Republik. Doch es wäre absurd, deshalb den Kommunisten vorzuwerfen, Hitlers Machtergreifung 'erheblichen Vorschub' geleistet zu haben."  Sollten den Hohenzollern nun "Ausgleichsleistungen zustehen, würden aus ihnen eine moralische, historische und gesellschaftspolitische Pflicht für die Hohenzollern entstehen."
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Internet

Ein Prozess des Bundeskartellamts gegen Facebook vor dem OLG Düsseldorf ist für das Amt zunächst mal eher frustrierend verlaufen, berichtet Malaika Rivuzumwami in der taz: "Am Ende teilte das Oberlandesgericht mit: 'Die Frage, ob Facebook seine marktbeherrschende Stellung als Anbieter auf dem bundesdeutschen Markt für soziale Netzwerke deshalb missbräuchlich ausnutzt, weil es die Daten seiner Nutzer unter Verstoß gegen die DSGVO erhebt und verwendet, kann ohne Anrufung des EuGH nicht entschieden werden.' Das Gericht bezweifelte, dass Facebook seine Nutzer:innen ausbeute. Dafür, dass Facebook den Nutzer:innen die Datensammelei gegen ihren Willen aufzwinge, habe das Kartellamt keine 'belastbaren Belege' vorgelegt."
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Stichwörter: Facebook, Eugh, Bundeskartellamt

Politik

Der letzte macht das Licht aus. Die Hongkonger verschwinden nach der Gleichschaltung aus Hongkong, berichten Xifang Yang und Kris Cheng in der Zeit: "Statt Protestslogans sieht man an Häuserwänden nun Anzeigen für Auslandsimmobilien in Großbritannien, Kanada und Australien. In Zeitungen und auf Facebook werben Auswanderungsagenturen für ihre Dienste. Einer Umfrage der Chinese University of Hongkong zufolge würden 44 Prozent der Hongkonger ins Ausland ziehen, wenn sie die Mittel dazu hätten. Von ihnen gibt wiederum ein Drittel an, bereits den Umzug vorzubereiten."

Laut Weltbevölkerungsbericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen "haben nur 55 Prozent der Frauen die volle Entscheidungsmacht über ihre Gesundheitsversorgung, Familienplanung und über die Frage, ob sie Sex haben wollen oder nicht", meldet Inga Barthels im Tagesspiegel: "Die Studie analysiert die Lage von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren in 57 überwiegend armen Ländern in Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa. Nur 75 Prozent der Länder bieten sicheren Zugang zu Verhütungsmitteln an. In 20 der Staaten, darunter Algerien und Thailand, kann ein Vergewaltiger der Strafe entgehen, wenn er sein Opfer nach der Tat heiratet, in 43 Ländern ist Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar. Viele Frauen und Mädchen würden Opfer weiblicher Genitalverstümmelung und demütigender Jungfräulichkeitstests oder bereits als Kinder zwangsverheiratet, heißt es in dem Bericht."
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Medien

Der Springer-Verlag will Bild zur TV-Marke machen. Als Internetstream gibt es die Marke schon, aber Springer scheint eine richtige Lizenz zu wollen. Dies sollten die öffentlich-rechtlichen Sender als "Weckruf" verstehen, schreibt Hannah Knuth in der Zeit. Sie sollten "darauf eine Antwort finden, ohne in ihren Positionen zu versteifen". Mit der Marke Bild setze Springer "auf emotionales, krawalliges Boulevardfernsehen". Und "die Öffentlich-Rechtlichen wiederum scheitern zunehmend daran, die Strömungen in der Gesellschaft abzubilden, die Bild für sich beansprucht. Auch sie haben diese Lücke aufgemacht. Konservative Stimmen sind in ARD und ZDF nahezu verstummt, selbst ihre Entscheider sehnen sich danach."
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