9punkt - Die Debattenrundschau

Kaum Spuren hinterlassend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2020. Die SZ erklärt, warum es für arme spanische Kinder ein Nachteil ist, dass das Spanische jetzt "Kastilisch" heißt. Die taz fragt, warum sich Jens Spahn schlicht weigert, Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe zu ziehen. In der NZZ geißelt Ayaan Hirsi Ali die Ideologie der kulturalistischen Linken. Perlentaucher Thierry Chervel lehnt die von der Bundesregierung geplante Subvention von Zeitungen  als " eine krasse Wettbewerbsverzerrung" ab. Medien wie die FAZ lassen sich dagegen gern nicht nur vom Staat, sondern auch von Google unter die Arme greifen, berichtet die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.11.2020 finden Sie hier

Kulturpolitik

Kulturministerin Monika Grütters bergründet in der FAZ, warum sie sich mehr Gedenkorte wünscht, die an die Geschichte deutscher Demokratiebewegungen erinnern. Besonders die Paulskirche will sie aus ihrem Schattendasein erlösen. Um sie und andere Orte "ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken, braucht es übergreifend - auch zur Unterstützung des vielfach anzutreffenden großartigen zivilgesellschaftlichen Engagements - eine zukunftsfähige Struktur. Dafür werde ich zum einen in Kürze den Entwurf einer Förderkonzeption vorlegen."

Außerdem: In einem ebenfalls in der FAZ abgedruckten Vortrag macht sich der Historiker und Philosoph Krzysztof Pomian Gedanken über die Zukunft dr Museen.
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Robert-Blum-Saal im Schloss Bellevue einweihte, hätte er ruhig auch mal Gustav Heinemann danken können, der schon Anfang der 1970er Jahre für die Erinnerung an den demokratischen Revolutionär Robert Blum warb, oder Elisabeth Thalhofer, die in Rastatt einen Blum-Saal eingerichtet hat, meint in der NZZ der Politikwissenschaftler Peter Reichel, der auch daran erinnert, dass "die Wiege der Demokratie nicht nur in der Paulskirche stand. ... Unsere Parteien- und Parlamentsdemokratie ist das Kind der südwestdeutschen Freiheitsbewegungen. Diese wurzeln in den Städten des ländlich-kommunalen Raums zwischen Landau und Lörrach, der unter dem Einfluss der Französischen Revolution und Napoleons früher bürgerlich-liberal war und rechtlich modern wurde als Preussen-Deutschland. Längst hat man dort die Initiative Heinemanns fortgeschrieben, die Spuren der vormärzlichen Freiheitsbewegungen freigelegt und die Wege zwischen den kleineren und größeren Städten, in denen sie identifiziert wurden, so miteinander verknüpft, dass die deutsche 'Straße der Demokratie' entstanden ist. Das ist in Berlin offenbar unbemerkt geblieben. Vielleicht, weil dieser beschwerliche Weg nicht bis dorthin führt?" Vielleicht könnte man im Humboldt-Forum eine ständige Ausstellung zum Thema "Demokratie in Europa" einrichten, regt Reichel an.
Archiv: Geschichte

Politik

Wenn Joe Biden tatsächlich Antony Blinken zum Außenminister macht, bedeutet das eine prononcierte Rückwendung zu Europa, vermuten David M. Herszenhorn und Rym Momtaz bei politico.eu. Denn Blinken äußert sich nicht nur sehr proeuropäisch, er wuchs als Diplomatensohn in Paris auf: "Blinken spricht ein lupenreines Französisch mit nur einem Schatten von Akzent. Der zukünftige Diplomat kam als Kind nach Paris, nachdem sich seine Eltern scheiden ließen und seine Mutter den polnisch-amerikanischen Holocaust-Überlebenden und Staranwalt Samuel Pisar heiratete... Blinkens Halbschwester Leah Pisar lebt in Frankreich, wo sie die Aladdin-Projekt, eine gemeinnützige Organisation für kulturellen Dialog leitet. Als Student in Harvard schrieb Blinken 1981 sogar einen Bericht für die Studentenzeitung The Crimson über den historischen Wahlsieg der Sozialisten über Valéry Giscard d'Estaing, den sein Stiefvater gut kannte."

Was genau die Welt reitet, ein mehr als einseitiges Interview mit Yanis Varoufakis zu bringen, der gerade ein neues Buch hat, und dieses Interview von Angela Richter, einer Angehörigen der Organisation DiEM25 führen zu lassen, die Varoufakis gegründet hat, wäre auch eine interessante Frage. Varoufakis mäkelt hier unter anderm am Wahlergebnis Joe Bidens herum. Er hätte ihm einen Erdrutschsieg gewünscht. Der jetzigen Situation hätte er sogar einen Wahlsieg Trumps vorgezogen, weil Biden im Senat  womöglich keine Mehrheit hat und nicht alle Wünsche der Linken ausführen kann: "Sowohl Biden als auch die Republikaner werden die Flaute auf den Einfluss der Linken schieben. Alexandria Ocasio-Cortez und die Progressiven sind bereits in der Defensive und werden den Angriffen der Medien standhalten müssen. Die Linke wird zerrüttet werden, während die extremen Rechten immer stärker und stärker werden. Es haben 71 Millionen Menschen für Trump gestimmt. Sie sind natürlich überzeugt, dass ihnen die Wahl gestohlen wurde. Das wird sie fester zusammenschweißen. Sie werden giftiger, faschistischer, radikalisierter werden."
Archiv: Politik

Europa

In Spanien hat die linke Regierung mit ihrer Bildungsreform einen heftigen Streit ausgelöst, der auch ihre Anhänger auf Distanz gehen lässt, berichtet in der SZ Karin Janker. Mit der Reform wird nämlich auch das Spanische als Hauptsprache quasi abgeschafft. Es heißt jetzt Kastilisch und gilt nur noch als eine Sprache von vielen, wie Baskisch oder Katalanisch. Das benachteilige vor allem Kinder aus ärmeren Familien, wenn sie - wie jetzt vorgesehen - an den Schulen komplett in den nicht-Kastilischen Landessprachen unterrichtet werden, erfährt Janker von dem Autor Daniel Gascón. "'Studien zeigen, dass gerade in Katalonien die spanischsprachigen Schüler aus ärmeren Elternhäusern kommen', sagt Gascón. Diese Schüler müssten künftig in einer Fremdsprache, dem Katalanischen, dem Unterricht folgen. 'In einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, tut man sich schwerer.' Gascón ist einer der wenigen, die öffentlich kritisieren, dass die linken Parteien die benachteiligten Kinder nicht im Blick haben."

Auf Zeit online antwortet eine Gruppe von ungarischen EU-Parlamentariern auf einen Artikel Alan Poseners, der vor einem "Euroimperialismus gegenüber Polen und Ungarn" gewarnt hatte. "Niemand soll sich täuschen bezüglich der parlamentarischen Mehrheit von Orbán. Durch den Abbau der Pressefreiheit, die Nötigung der Opposition und nicht zuletzt durch die maßgeschneiderten Wahlmodalitäten kann in Ungarn mit den Stimmen von einem Viertel der stimmberechtigten Wähler eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erzielt werden. In Ungarn sind die Wahlen weder frei noch gerecht. Eine überwältigende Mehrheit der Bürger von Ungarn unterstützt die EU-Mitgliedschaft ihres Landes und steht in seiner Anti-EU-Haltung nicht hinter Orbán, deswegen irrt sich der Verfasser des Artikels so gewaltig."
Archiv: Europa

Ideen

In der SZ hat Gustav Seibt die Nase voll von Querdenkern, die sich für Sophie Scholl halten oder für sich das Widerstandsrecht in Anspruch nehmen, das Jürgen Habermas 1984 gegen den Nato-Doppelbeschluss rechtfertigt hat. Der nämlich "knüpfte die Legitimität eines zivilen - idealerweise auch zivilisierten - Ungehorsams an drei Bedingungen", erinnert Seibt die Gerichte, denen er einen etwas robusteren Umgang mit Coronaleugnern empfiehlt. "Erstens müsse die Rechtsordnung im Ganzen, und damit auch das Gewaltmonopol des Staates, prinzipiell intakt bleiben; zweitens müsse der Regelverletzer für die rechtlichen Folgen seines Tuns einstehen - im Zweifelsfall muss er bereit sein, eine Sanktion hinzunehmen; drittens aber, und das ist die höchste Hürde, verlangt Habermas, dass der Regelbrecher, 'was immer seine subjektiven Überzeugungen sind, seinen Ungehorsam aus anerkannten verfassungslegitimierenden Grundsätzen begründen kann'. Der Protest soll also im Einklang mit den Prinzipien der Verfassung auch dann bleiben, wenn er einzelne positive Gesetze verletzt." Und davon könne bei den Coronaleugnern wohl keine Rede sein.

In der NZZ passt kein Blatt zwischen Interviewer René Scheu und Ayaan Hirsi Ali, die die "Denkstereotype" der Linken kritisiert: "Es gibt nur Unterdrücker und Unterdrückte, also Machtverhältnisse. Anders als im Marxismus ist es jedoch nicht die soziale Stellung, sondern die Gruppenzugehörigkeit, die darüber entscheidet, wo man in der Unterdrückungshierarchie steht. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Kategorien und also auch keine Versöhnung, es gibt bloß den Kampf, und da sind alle Mittel erlaubt. Das sind keine Denkstereotype mehr, das ist längst zur echten Glaubenslehre geworden. ... Der Selbsthass, die Selbstscham wird zur Schau getragen. Dahinter verbirgt sich aber eine eigenartige Form eines moralischen Überlegenheitsgefühls, nach der Logik: Wer sich erniedrigt, erhöht sich zugleich. Er liebt sich im Selbsthass. Er ist der moralische, erhabene, unfehlbare Mensch, der letztlich auf alle anderen herabsieht."
Archiv: Ideen

Medien

Perlentaucher Thierry Chervel lehnt die von der Bundesregierung geplante Subvention von Zeitungen und Anzeigenblättern als "eine krasse Wettbewerbsverzerrung" ab: Die wenigen tatsächlichen Online-Medien wie der Perlentaucher oder die Krautreporter stehen "mit unseren überaus heiklen Geschäftsmodellen auch in Konkurrenz zu Zeitungen und zu den öffentlich-rechtlichen Sendern, die ebenfalls im Netz expandieren. Es geht um Aufmerksamkeit, teilweise um Werbeeinnahmen und natürlich um die Frage, wie das Publikum in digitalen Zeiten auf anspruchsvolle Weise informiert werden kann. Eine einseitige Subventionierung, um die Zeitungen im Wahlkampf bei Laune zu halten, wäre ein Skandal. Also lieber gar keine."

Google fördert die Presse ebenfalls - und setzt wie die Bundesregierung dabei vor allem auf die etablierten und einflussreichen Medien. Bisher gab es die Google News Initiative, die millionenschwere Subventionen für Medien wie Spiegel und FAZ bedeuteten. Nun kommt der "Google News Showcase" hinzu, eine Google-eigene News App, in die einige Medien - wieder unter anderem Spiegel und FAZ - gegen viel Geld Inhalte einspeisen, berichtet Jann-Luca Künßberg in der taz. Natürlich tut Google das, um die von der EU beschlossenen Leistungsschutzrechte zu umgehen, so Künßberg: "Um ein solches Gesetz streiten sich die Verlage und Google seit Jahren. Es soll Google verpflichten, Geld an die Verlage zu zahlen, wenn es deren Texte oder Textausschnitte bei Google News anzeigt. Das dürfte nun obsolet werden: Mit der Teilnahme der Verlage an Googles neuem Programm Showcase dürften die Lizenzansprüche abgegolten sein. Dass die Verlage kaum anders können, als Geld von Google zu nehmen, ist teils hausgemacht. Bis heute haben es viele Verlage nicht vermocht, funktionierende Finanzierungskonzepte für ihren digitalen Journalismus zu finden." Künßberg notiert übrigens auch, dass die mit Google kooperierenden Medien bisher nicht über das neue Modell berichtet haben, und kritische Berichte der Welt zu "Google News Showcase" seien über Google nicht zu finden.

Außerdem: In der FAZ berichtet Cai Tore Philippsen über das neue Crowdfunding der Krautreporter (und behauptet, bis 2014 seien alle Internetmedien ohne Paywall zugänglich gewesen).
Archiv: Medien

Gesellschaft

Leonie Gubela schildert in der taz den Fall des Hans-Jürgen Brennecke, der an Krebs erkrankt ist und sich ein Fläschchen Natrium-Pentobarbital in den Medizinschrank stellen will, um in der finalen Phase eine Chance auf einen sanften Tod zu haben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Paragrafen 217 gekippt, das assistierten Suizid bisher verbot. "Für die Bundesregierung bedeutet das Urteil, dass sie nun Regeln schaffen muss, um die Beihilfe zum Suizid zu ermöglichen. Doch wie schon Hermann Gröhe weigert sich der aktuelle Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, dieser Pflicht nachzukommen..." Offenbar wird es nicht als Skandal empfunden, dass die Bundesregierung ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht umsetzt: "Mitte April betonte Spahn in einem Schreiben an Rechts- und GesundheitsexpertInnen, dass ein neues Sterbehilfegesetz auf breite Zustimmung in der Gesellschaft stoßen müsse. Eine Mehrheit in der Bevölkerung für selbstbestimmtes Sterben gibt es allerdings längst. Laut einer Studie von Infratest dimap, die kurz vor dem Urteil im Februar veröffentlicht wurde, sprachen sich 67 Prozent gegen den damals noch geltenden Paragrafen 217 aus, 81 Prozent befürworteten ausdrücklich, dass es ÄrztInnen gestattet sein sollte, Menschen beim Suizid zu unterstützen."

Vermutlich Linksradikale haben neulich eine Immobilienmaklerin in ihrer Leipziger Wohnung niedergeschlagen. Das ist nur eine von vielen Taten, die Stefan Locke im Leitartikel der FAZ zitiert um zu zeigen, dass das Gewaltpotenzial der linksextremen Szene, besonders in Leipzig, Hamburg und Berlin, eher steigt. Für die Polizei sei die Aufgabe nicht einfach, weil sich die Linken tendenziell etwas intelligenter verhielten als die Rechten: "Unter Ermittlern ist es kein Geheimnis, wie schwierig es oft ist, linksextreme Täter zu ergreifen, weil sie eher geplant und kaum Spuren hinterlassend zuschlagen, während Rechtsextreme oft spontan unterwegs sind und sich dabei schon mal von Überwachungskameras an Tankstellen filmen lassen."
Archiv: Gesellschaft