9punkt - Die Debattenrundschau

Weltweites Nervensystem

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2019. Was nützt der beste investigative Journalismus, wenn er am Ende keine Konsequenzen hat, fragt die tunseische Reporterin Hanène Zbiss in der FAZ. In der NZZ erklärt Tom Segev, warum es furchtbar viele Friedenspläne für Israel und die Palästinenser gibt, aber vorerst - und auf lange Sicht - keinen Frieden. Es reicht nicht zu sagen, wogegen man ist, sagt Jeremy Rifkin im Freitag an die Adresse der Klimaschützer und fordert einen Green New Deal. Einige Feministinnen protestieren in einem offenen Brief gegen eine allzu harmlose Plakatkampagne der Bundesregierung für den Rechtsstaat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft



(Via emma.de) Überall prangt zur Zeit in Berlin eine Anzeigenkampagne mit dem schönen Titel "Wir sind Rechtsstaat". Eines der Motive zeigt einen lachenden jungen Muslim und einen lachenden jungen Juden auf einem Tandem. Einige bekannte Feministinnen, darunter Luise Pusch, Helke Sander und Eva Quistorp kritisieren in einem offenem Brief an das Bundesjustizministerium die allzu harmlose Präsentation: "Weit effektvoller wäre es, wenn Sie schreiben würden,
- dass jeder* hier glauben kann, was sie* will, solange der Glaube und daraus folgende Taten nicht gegen das Grundgesetz verstoßen,
- dass Menschen nicht verfolgt werden dürfen, wenn sie sich von der Religion lossagen möchten, in die sie hineingeboren wurden,
- dass auch Religionslosigkeit akzeptabel ist und durch das Grundgesetz geschützt.
Großartig wäre auch ein Plakat, das darauf hinweist, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind - möglichst in mehreren Sprachen." Der größte Kritikpunkt der Autorinnen: "Jetzt ist die gut gemeinte Idee lediglich eine Verschwendung von Steuergeldern. Das schrecklichste Problemfeld in unserem Land und weltweit - die Gewalt gegen Frauen, der tagtägliche Femizid - wird nicht einmal erwähnt!" Alle Motive der Kampagne sind hier zu sehen.

Mit Theodor Wonja Michael ist einer der letzten schwarzen Zeitzeugen der NS-Geschichte im Alter von 94 Jahren gestorben. Im taz-Nachruf schreibt Vanessa Spanbauer: "Ihm war es immer wichtig zu betonen, dass Schwarzsein und Deutschsein eine Selbstverständlichkeit ist. Es ist nichts, was sich ausschließt, auch wenn dieser Umstand für viele bis heute schwer zu akzeptieren ist. Rassismus ist ein Thema, welches Michael immer klar ansprechen konnte." Weitere Nachrufe in Zeit online (hier) und Freitag (hier).
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Ideen

Der Klimawandel braucht mehr als eine Protestbewegung, die immer nur sagt, wogegen sie ist, meint im Interview mit dem Freitag der Ökonom Jeremy Rifkin und skizziert seine Vision eines Neuen Grünen Deals, der lokale Initiativen global verbinden will: "Wir haben eine Kommunikationsrevolution, das World Wide Web ist 29 Jahre alt, die Chinesen und die Koreaner haben ein Smartphone für 25 Dollar. Dieses digitalisierte Kommunikationsnetz verbindet sich, in Europa und China und an wenigen Orten in Amerika, mit digitalisierten Netzen für erneuerbare Energien. So haben wir Millionen von Playern, die ihre eigene Solar- und Windenergie produzieren, Hausbesitzer, Unternehmen, Gemeinden, Städte. Sie teilen diese Energie in einem stark digitalisierten Internet, das die gleichen Daten und Algorithmen verwendet wie das Kommunikationsinternet. Dann verschmelzen diese beiden Netze mit einem dritten, Mobilität und Logistik: Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeugen, die mit Solar- und Windkraft aus dem Energie-Internet betrieben und digital verwaltet werden. Was wir erzeugen, ist ein globales Gehirn. Ein weltweites Nervensystem."

Eine repräsentative Demokratie ist einer Meritokratie oder Lottokratie bei weitem vorzuziehen, meint in der SZ der Politologe Jan-Werner Müller in einem Text zur Krise der Demokratie: "Genau wie die Meritokratie beruhen viele Vorschläge zur Lottokratie auf einem letztlich eher technokratischen Verständnis von Politik: Es gibt die eine korrekte Lösung; die Herausforderung besteht darin, Entscheidungsträger zu finden, welche sie finden und für die Bürger legitimieren können. Im toten Winkel bleibt für diese Sicht, dass sich Demokratie nicht im Abarbeiten von Problemen erschöpft oder in der mechanischen Abbildung vorsortierter gesellschaftlicher Gruppen im Parlament. In der Demokratie kann theoretisch jeder ein Repräsentationsangebot machen, nach dem Motto: 'Leute, folgt mir, ich sehe etwas in euch, was in der Politik nicht präsent ist!'"
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Politik

So, wie es jetzt ist, wird es in Israel noch lange bleiben, glaubt im Interview mit der NZZ der israelische Historiker Tom Segev. Wie schon Ben Gurion sieht er wenig Aussicht auf einen dauerhaften Frieden: "Und das ist fast das Einzige, was Israeli und Palästinenser gemeinsam haben. Auch die meisten Palästinenser sehen eigentlich nicht, wie jemals Frieden sein kann. Es gibt furchtbar viele Friedenspläne, Friedensparteien und Friedensdiskussionen. Die Palästinenser wollen das Land für ihre Nation. Wir wollen es für unsere Nation. Ich wüsste keinen Palästinenser, der einverstanden damit wäre, dass Palästina ein jüdischer Staat wird. Das meiste, was die gemäßigtesten Israeli vorzuschlagen haben, ist nicht genug für die Palästinenser. Das meiste, was die Palästinenser den Israeli bieten können, ist nicht genug für eine Mehrheit der Israeli. Und so stecken wir in einer Situation, die sich vielleicht später irgendwann nur als eine Phase in der Geschichte des zionistischen Projekts erweist."
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Stichwörter: Israel, Segev, Tom

Überwachung

Unter dem Endruck des Attentats von Halle soll ein Verfassungsschutzgesetz durchgewunken werden, das die Aushöhlung des Redaktionsgeheimnisses erlaubt, fürchtet Markus Reuter bei Netzpolitik unter Bezug auf die "Reporter ohne Grenzen": "Nach Ansicht von Reporter ohne Grenzen würde das Redaktionsgeheimnis und damit eine der Säulen der Pressefreiheit in Deutschland mit dem Gesetz faktisch wirkungslos: Während es verboten bliebe, mit einer Redaktionsdurchsuchung die Identität journalistischer Quellen zu ermitteln, könnte dies mit einer Online-Durchsuchung digital umgangen werden."
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Medien

Sehr interessant spricht die tunesische Reporterin Hanène Zbiss, die gerade den Raif Badawi Award erhalten hat, im FAZ-Interview mit Lili Hering über Journalismus in Tunesien, dem einzigen Land, das nach dem arabischen Frühling eine, wenn auch holprige Demokratisierung hinbekommen hat. Die Bedingungen seien besser geworden, sagt Zbiss, aber "wir können noch so viel aufdecken und die Verantwortlichen anhand von Beweisen benennen - sie werden nicht zur Verantwortung gezogen, weil die Justiz nicht unabhängig ist. Es herrscht eine Kultur der Straffreiheit. Prozesse werden nicht zu Ende geführt, Geschichten unter den Teppich gekehrt. Das ist frustrierend für uns Journalisten. Unsere Arbeit wird zwar von der Zivilgesellschaft sehr gut angenommen, sie hat aber wenig Konsequenzen. Wir prangern an, aber niemand ist schuldig."
Archiv: Medien

Europa

In Polen wird von der bei ihrer Bevölkerung so beliebten PiS-Regierung ein Gesetz zum Schutz der Kinder vor Pädophilie vorbereitet. Wer Sex unter Minderjährigen gutheißt, soll mit Gefängnis bestraft werden können. Die Opposition fürchtet, dass das Gesetz auf den Seuxualkundeunterricht zielt, berichtet Magdalena Gwozdz-Pallokat bei der Deutschen Welle: "Der Gesetzentwurf geht weiter. Das Verbot, Sexualverkehr Minderjähriger gut zu heißen betrifft auch andere Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben, ausdrücklich auch Ärzte, Therapeuten, möglicherweise auch Priester. Dies öffnet ein breites Feld für Interpretationen. Was ist etwa mit Frauenärzten, die Minderjährigen eine Antibaby-Pille verschreiben? Gilt das auch als 'Propagieren von Geschlechtsverkehr'?"

"Ich bin einfach wütend", ruft der britische Nobelpreisträger Sir Paul Nurse im Gespräch mit Joachim Müller-Jung von der FAZ. Nurse ist nebenbei ein hoher britischer Wissenschaftsrepräsentant und spricht über das Brexit-Chaos, das die Wissenschaft in Britannien bereits jetzt zurückgeworfen habe: "Unsere Wissenschaftler haben stets viel mehr an EU-Fördermitteln erhalten, als London nach Brüssel überwiesen hat. Wir haben eine führende Rolle in Europa spielen können, doch diese Führerschaft auf vielen Gebieten haben wir in zwei, drei Jahren radikal verloren. Wir möchten die engen Verbindungen behalten, auch politisch, aber mit dem unwürdigen Verhalten unserer Regierung haben wir uns nicht viele Freunde gemacht. Wir haben im Gegenteil viele Freunde in Kontinentaleuropa verloren."
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Internet

Die  Kommunikationswissenschaftlerin Merja Mahrt weigert sich im Gespräch mit Lisa Hegemann von Zeit online, die "Filterblasen" des Internets zum Hauptfaktor heutiger Radikalisierung zu erklären: "Jede Sorge, die sich nur auf digitale Kommunikationsangebote oder deren Nutzung fokussiert, halte ich für übertrieben. Fragmentierung sieht man nicht nur im Internet, aber wir diskutieren sie seit der Entstehung des Netzes häufiger. Genauso ist Radikalisierung nicht erst durch das Internet entstanden und sie passiert auch nicht nur im Netz. Es gibt viele verschiedene Wege der Radikalisierung. Wir müssen die Prozesse dahinter stärker erforschen."
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Stichwörter: Filterblase, Radikalisierung