9punkt - Die Debattenrundschau

Als rechts und reaktionär begriffen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2018. Die taz erinnert in einem Dossier an den vor 50 Jahren niedergeschlagenen Prager Aufstand und die beschämende Reaktion westeuropäischer Linker. Am Scheitern eines organischen Wandels 1968 leidet Osteuropa noch heute, meint die NZZ. Auch die "Intelligenzberufe" werden demnächst von Maschinen übernommen, warnt Richard David Precht auf Dlf-Kultur. Microsoft-Forscher Glen Weyl dient sich auf Zeit online als Datenschützer an. Warum Netflix keine deutsche Konkurrenz hat, erklärt die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.08.2018 finden Sie hier

Geschichte

Die taz bringt ein ganzes Dossier zum Prager Aufstand, der heute vor 50 Jahren von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. Prag mit seiner politischen und kulturellen Aufbruchstimmung war für die Ostdeutschen, was Paris in dieser Zeit für die Westdeutschen war, erzählt der Bürgerrechtler Wolfgang Templin. Als sowjetische Soldaten in Tschechien einmarschierten und die Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" begruben, kam es in der DDR damals zu "keinen Massenprotesten, aber zu vielen individuellen Aktionen mit Losungen auf Häusern und Brücken, mit Flugblättern. Mein eigenes Beispiel zeigt, wie zeitverschoben die Wirkung der Prager Lektion sein konnte. Ich stand emotional auf der Seite der Reformer. Dennoch ließ ich mich zunächst von den offiziellen Propagandalügen einwickeln, die eine aus dem Westen gesteuerte Konterrevolution behaupteten, der man Einhalt gebieten müsse. Erst Jahre später begriff ich..."

Viel schlimmer noch reagierte die westeuropäische Linke: Ihre Solidarität galt den einmarschierenden Sowjets, schreibt Jan Feddersen. Oder sie schwieg einfach. Einen liberalen ostdeutschen Staat wollte man auf gar keinen Fall: "Generell dominierte in den Zentren der Achtundsechzigerbewegung der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen den Kapitalismus, für den die USA das Symbol waren und sind: Kein öffentliches Zeichen aus der Studentenbewegung heraus wider die militärische Zerstörung von Freiheit durch die Warschauer-Pakt-Staaten konnte es mit den Protesten gegen die USA und ihren Krieg in Südostasien aufnehmen. Das Leiden am realen Sozialismus fand kein Interesse in linken Kreisen, Bücher wie Manès Sperbers 'Wie eine Träne im Ozean' waren seitens der sozialistischen Kaderschaft der Achtundsechzigerszene als antikommunistische Literatur ignoriert, auf alle Fälle als rechts und reaktionär begriffen worden."

Umso größer - wenigstens im Rückblick - die Courage einzelner russischer Aktivisten wie Pawel Litwinow, die in Moskau ein Zeichen der Solidarität mit den aufbegehrenden Tschechen wagten. "Mir war es wichtig, dass die Tschechoslowakei einen Weg gehen kann, den sie selbst wählt" erklärt Litwinow, der für seine Aktion mit fünf Jahren Verbannung bestraft wurde, im Interview mit der taz. "Und wenn man dort einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz will, dann ist es nicht unser Recht, sich in diesen Weg einzumischen. Irgendwann mal war ich überzeugter Kommunist, doch 1968 fühlte ich mich schon eher als Liberaler."
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Europa

Noch heute wirkt die Unterdrückung des Prager Frühlings in ganz Europa nach, indem sie bei den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten zu "Erstarrung" führte, glaubt Ivo Mijnssen in der NZZ: "Wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig, intellektuell ausgeblutet und gesellschaftlich erschüttert, unterwarfen sie sich der 'Schocktherapie' westlicher Experten. Statt einem organischen Wandel gab es eine Revolution, die neue Freiheit brachte, aber auch Verlierer zurückließ. Tschechien und Polen gehören zwar zu den erfolgreichsten Transformationsländern, doch die Polarisierung, die Ungerechtigkeiten und die Korruption, die mit der Wende einhergingen, hinterließen großes Misstrauen. Dieses lässt sich leicht instrumentalisieren. Sowohl in Polen als auch in Tschechien inszenieren sich die führenden Politiker heute als Volkstribunen auf einem Feldzug gegen die Eliten. Auch die starke EU-Skepsis nährt sich nicht nur aus der Migrationspolitik, sondern auch aus Minderwertigkeitsgefühlen und Ressentiments gegen die übermächtigen 'alten' EU-Länder."

Der israelische Aktivist und Autor Uri Avnery ist im Alter von 94 Jahren gestorben. In der SZ erinnert sich Alexandra Föderl-Schmidt an ihr letztes Treffen mit Avnery im Juni, bei dem er sich unter anderem noch zu seiner Vision einer Zweistaatenlösung äußerte: "Wir haben eine ekelhafte Regierung, die gar nicht daran denkt, Frieden zu schließen. Ein palästinensischer Staat neben unserem Territorium ist für Premierminister Benjamin Netanjahu total undenkbar. Frieden ist nicht erwünscht. Die Linke ist nur eine kleine Minderheit." In der Welt zieht Gil Yaron eine eher kritische Bilanz von Avnerys politischem Engagement: "Er hinterlässt eine zerstrittene politische Linke, die keine Chance hat, die Regierung von Benjamin Netanjahu abzulösen". Weitere Nachrufe in der Berliner Zeitung und in der Jüdischen Allgemeinen.
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Religion

Vor vier Wochen warf der Historiker Oliver Jens Schmitt in der NZZ der rumänischen Orthodoxen Kirche vor, aus Kalkül stets mit den faschistischen und kommunistischen Diktaturen zusammengearbeitet zu haben und bis heute die Aufarbeitung zu verweigern. (Unser Resümee). Ein Blick auf Fakten und Quellen wäre hilfreich gewesen, erwidert der evangelische Pfarrer und ehemalige Leiter der Evangelischen Akademie Siebenbürgen, Jürgen Henkel, nun ebenfalls in der NZZ: "Mit der kommunistischen Machtergreifung ab 1944 setzte eine brutale Verfolgung auch der ROK ein. Bistümer wurden aufgelöst, theologische Zeitschriften verboten, Theologie-Fakultäten geschlossen, Publikationen zensiert. Lediglich die Fakultäten in Hermannstadt und Bukarest durften - zu kirchlichen Hochschulen degradiert - weiter fungieren. Orthodoxe Bischöfe, Theologen und Laienchristen kamen zu Tausenden in Haft und ums Leben. Sich der Macht andienen sieht anders aus."
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Gesellschaft

Die Medien müssen besser über Fakten, Probleme und Vorzüge der Zuwanderung aufklären, schreibt Götz Aly in der Berliner Zeitung mit Blick auf eine von der Europäischen Kommission veröffentlichte Umfrage zum Thema "Integration von außereuropäischen Immigranten, die in der europäischen Union leben" : "38 Prozent der Deutschen (neun Prozent weniger als im Durchschnitt) behaupten, dass es mindestens genauso viele illegale wie legale außereuropäische Einwanderer gebe. In Wahrheit und sehr großzügig gerechnet können allenfalls zehn Prozent der Zuwanderer als illegal gelten. Erwartungsgemäß glauben vor allem diejenigen an einen weit überhöhten Anteil illegaler Migranten und damit an den Kontrollverlust des Staates, die Zuwanderung ohnehin ablehnen. Wie häufig das Volk Fake News produziert, belegt auch die Antwort auf diese Frage: 'Wie hoch ist der Anteil von Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung in Ihrem Land?' Der Durchschnittseuropäer glaubt, der Anteil betrage 16,7 Prozent, tatsächlich sind es 7,2 Prozent."

Außerdem: In der FAZ warnt Peter Eisenberg die Berliner Verwaltung vor der Einführung eines dritten Geschlechts, das mit "divers" umschrieben werden soll. Dieses müsste ein sprachliches Korrelat haben, wofür sich das Deutsche nicht eigne.
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Ideen

Anlässlich der von ihm in Lüneburg ausgerichteten Utopie-Konferenz träumt der Philosoph Richard David Precht im Dlf-Kultur-Gespräch mit Nicole Dittmer vom Jahr 2025: "Die Digitalisierung wird dafür sorgen, dass ein ganz erheblicher Teil der Berufe, die man bisher als Intelligenzberufe bezeichnet hätte, dass die in Zukunft von Maschinen gemacht werden. Manches schon in fünf Jahren, anderes vielleicht erst in zwanzig Jahren, aber das wird dazu kommen. Sehr viele Menschen werden nicht mehr im klassischen Sinne erwerbstätig sein. Dann leben wir nicht mehr in der Gesellschaft der Bundesrepublik im Jahre 2018, sondern in einer anderen Art von Gesellschaft - und wir müssen uns jetzt überlegen, was sind die humanen, humanitären Spielregeln für eine Gesellschaft, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Erwerbsarbeit steht."
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Internet

"Daten-Titanen" wie Facebook, die Daten einsammeln, ohne dafür zu bezahlen, betreiben nichts anderes als "Technofeudalismus", sagt der Microsoft-Forscher Glen Weyl im online nachgereichten Zeit-Gespräch mit Uwe Jean Heuser. Wir arbeiten für deren Daten, meint er und ruft "Datenarbeiter aller Länder, vereinigt euch!" Denn: "'Wir geben unsere Arbeit nur für einen bestimmten Zeitraum ab, und wir verkaufen nicht unsere ganzen Körper. Entsprechend sollten wir vielleicht einige Verwertungen unserer Daten auf Zeit anbieten - aber nicht die Daten selbst für immer und zu jeder Verwendung.' Das gelte es durchzusetzen, ähnlich wie es früher die Arbeiterbewegung tat. So wie sie Leibeigene befreit, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen erkämpft habe, gehe es um einen höheren Datenpreis und gleichzeitig um mehr Datenschutz."
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Kulturmarkt

Reine E-Book-Verlage haben sich in Deuschland nicht durchsetzen können, meldet Nils Kahlefendt, der sich für den Buchreport mit einigen Pionieren der Szene unterhalten hat. "Noch vor fünf, sechs Jahren klang das anders. Da gab es die Hoffnung, dass die neuen Möglichkeiten des Digitalen die Literaturlandschaft insgesamt breiter, bunter, experimenteller machen könnten. Eingetreten ist eher das Gegenteil: die Zuspitzung auf Bestseller, die Fokussierung auf genregetriebene Umsätze. Digitale Experimente? Eher Fehlanzeige. Dass sich die Programmanteile also in Richtung Print verschoben haben, wundert nicht, auch wenn aktuelle, schnelle Titel noch immer 'E-only' produziert werden." Der Rest, inklusive der nicht mehr lesenden Leser, ist dann wohl bei Netflix.
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Stichwörter: E-Book-Verlage, E-Books, Netflix

Medien

Apropos Netflix: Der Streamingdienst hätte 2010 beinahe deutsche Konkurrenz von ARD und ZDF bekommen, aber da war das Bundeskartellamt vor, berichtet Karoline Meta Beisel in der SZ. Heute träumt Leonhard Dobusch, Innsbrucker Professor und Mitglied des ZDF-Fernsehrates, wenigsten von einer gemeinsamen Mediathek der 13 verschiedenen öffentlich-rechtlichen Mediatheken. "'Eine Art öffentlich-rechtliche Alternative zu Youtube', sagt Dobusch, an der sich auch Nutzer mit eigenen Beiträgen beteiligen könnten. Mit dem Unterschied, dass der Algorithmus solch einer Plattform eben nicht auf möglichst viele Klicks und möglichst große Emotionen programmiert wäre - sondern darauf, den Nutzern ein Angebot zu präsentieren, das dem Prinzip der Vielfalt genügt. Besonders wichtig ist ihm, dass so eine Plattform auf Open Source-Software beruht". Passiert ist in diese Richtung aber noch gar nichts.
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