9punkt - Die Debattenrundschau

Mit Anti-Glanzeffekt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2017. Jared Genser, Anwalt von Liu Xia, prangert in Libération das Kuschen des Westens vor chinesischen Menschenrechtsverletzungen an. Der Gewaltakt von Charlottesville widerspricht innersten amerikanischen Werten - was heißt es, dass Trump dies nicht beim Namen nennt, fragt die New York Times. Die SZ singt ein Abschiedlied auf Gärten. Die taz erklärt die komplizierte vietnamesische Community in Berlin. Die NZZ beklagt den fehlenden Technikjournalismus im deutschsprachigen Raum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.08.2017 finden Sie hier

Politik

(Via FAS) Jared Genser, in Washington basierter Anwalt Liu Xias, erklärt im Interview mit Laurence Defranoux von Libération, warum er bei den Vereinten Nationen Klage wegen "erzwungenen Verschwindens" erhebt, um die Behandlung Liux Xias durch die chinesischen Behörden anzuprangern -  die Witwe Liu Xiaobos lebt jetzt wieder unerreichbar für Freunde in Hausarrest. Seit die Asche Liu Xiaobos am 15. Juli auf Weisung der Behörden im Meer verstreut wurde, ist Liu Xia spurlos verschwunden. Scharf attackiert Genser die westlichen Länder: "Liu Xia an einem unbekannten Ort festzuhalten, ist eine klare Verletzung internationalen Rechts. In diesem 21. Jahrhundert wird China wegen seiner Menschenrechtsverletzungen nicht behelligt, weil die großen westlichen Demokratien sich meist selbst zensieren. Sie scheinen vor China Angst zu haben, und dieses Schweigen erlaubt es der chinesischen Regierung, einen immer stärkeren Druck auf Dissidenten auszuüben."

Dass Präsident Obama einst den islamistischen Terrorismus nicht beim Namen nannte (wofür ihn Trump im Wahlkampf kritisierte), ist eine Sache, aber dieser Terrorismus betraf eine andere Kultur, heißt es im Editorial der New York Times zu Charlottesville, wo ein Rechtsextremer ein Auto in eine Gruppe von Gegendemonstranten steuerte und eine Person tötete. Trump hat nun von Gewalt "auf vielen Seiten" gesprochen. "Aber der Kampf von Charlottesville ist ein Kampf innerhalb unserer eigenen Kultur, innerhalb der Kultur Trumps. Genau in solchen Momenten müsste er die amerikanischen Grundtugenden verteidigen, im Namen der Amerikaner, die Tribalismus zurückweisen und Pluralismus wollen, im Namen der Idee, dass ein Blut-und-Boden-Nationalismus der amerikanischen Idee im Kern widerspricht."
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Internet

Der Streit um James Damores "Diversity Memo" hat zweierlei offengelegt, schreibt Jonathan Taplin in der New York Times: die schlechten Gleichstellungsquoten im Silicon Valley und den Sexismus der "Brogrammer", der damit einhergeht: "Amerika hatte in der kurzen Geschichte des Silicon Valley lange Zeit ein romantisches Bild der Tech-Industrie. Männer wie Steve Jobs und Bill Gates wurden hoch geschätzt. Aber Google, Amazon und Facebook werden mehr und mehr unter daselbe kulturelle Mikroskop gelegt, das einst die 'Gier ist geil'-Kultur der Achtziger in Frage stellte. Die Zuschauer der Comedy-Serie 'Silicon Valley' haben schon gemerkt, dass der Uber-Libertarismus und der Uber-Machismo Hand in Hand gehen."
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Ideen

In der taz denkt Jan Feddersen über die Kontroverse zwischen den "Queerfeminstinnen" Judith Butler und Sabine Hark und Alice Schwarzer nach (unsere Resümees) und findet Motive für die Wut auf die Emma-Herausgeberin: "Was Butler und Hark einer wie Alice Schwarzer übelnehmen müssen, ist wohl auch der Umstand, dass die Emma-Herausgeberin schon in der Geburtsstunde der Islamischen Republik Iran Ende der siebziger Jahre die Gefahr für Frauen erkannte und die Linke immer dafür kritisierte, genau dies kaum oder erst viel zu spät für wichtig genommen zu haben." Erstaunt ist Feddersen auch über zweierlei: Dass die Zeit Butler und Hark eine so prominente Position gab und dass die beiden außer der Bekanntgabe ihrer Pikiertheit eigentlich gar nicht argumentieren.
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Gesellschaft

Die Gärten verschwinden, ruft in der SZ warnend Gerhard Matzig. Keiner will mehr umgraben und pflanzen, klagt er:  "Die Arbeit am Garten ist konstitutiv für die Freude im Garten. Der surrende Mähroboter hat wenig von einem Schaf, bis auf den IQ vielleicht, aber viel vom Kaminfeuer als Dauerschleife im Fernsehen. Übrigens boomt im Baumarkt nicht nur der Granitkies 'Gletscher' (inklusive 'verschiedener Körnungen für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten') oder der Ziersplit 'Latte macchiato', mit dem sich die Natur dermaßen gut zubetonieren lässt, dass es eigentlich 'macchiatot' heißen müsste; nein, auch Kunststoffrasen verkauft sich gerade sehr gut. Mit 'Anti-Glanzeffekt'. Zudem gibt es einen Verdrängungswettbewerb. Immer größer werden nur die SUV-Abstellplätze und die blauen, grünen, braunen oder gelben Mülltonnen samt ihren immer bombastischeren Edelstahl-Einhausungen. Was schrumpft, ist der Platz für Sonnenblumen, Hortensien oder Tomatenstauden."
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Stichwörter: Gärten, Gletscher, Suvs, Pflanzen

Europa

In Berlin ist der vor einigen Wochen der vietnamesische Expolitiker Trinh Xuân Thanh entführt worden - wohl vom vietnamesischen Geheimdienst. Marina Mai berichtet in der taz von einer Demo von Vietnamesen gegen das vietnamesische Regime und macht auf die Spaltung der vietnamesischen Community in Berlin aufmerksam, denn die Proteste wurden von ehemaligen Boat People getragen: "Die weit größeren Gruppen der ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter und der nach 1990 nach Deutschland gekommenen Vietnamesen blieben der Veranstaltung in Berlin fern. Die Gruppen sind sich bis heute kulturell und politisch fremd geblieben. Das liegt auch an ihrer unterschiedlichen Symbolsprache. Die orange gestreifte Fahne, die die Demonstranten mit sich führten, ist nicht etwa die vietnamesische Staatsflagge, sondern die der 1975 militärisch besiegten Saigoner Republik. Auch deren Hymne sangen sie. Damit können sich andere vietnamesische Berliner nicht identifizieren."

Eine "Kriegserklärung" an Europa nannte der Historiker (und Gerhard-Schröder-Biograf) Gregor Schöllgen die neuen amerikanischen Sanktionen gegen Russland, die vor allem die geplante neue deutsch-russische Gas-Pipeline betreffen (unser Resümee). In der Welt antwortet Gerhard Gnauck auf Schöllgens FAZ-Artikel und bestreitet unter anderem, dass die deutsch-russische Zusammenarbeit in diesem Feld ein Beweis für europäische Integration sei: "Seit Anfang der achtziger Jahre ist bekannt, dass zu den Erbauern der frühen deutsch-sowjetischen Erdgaspipelines auch Zwangsarbeiter, politische Häftlinge des Lagersystems Gulag gehörten. Sie haben damals in der Taiga die Rohre der Firma Mannesmann verlegt. Einige von ihnen konnten, da sie als russlanddeutsche Aussiedler später ausreisen durften, in der Bundesrepublik ihre Geschichte erzählen. Taugt ein Zwangsarbeiterprojekt als neuer europäischer Gründungsmythos?"
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Medien

Ist da nicht irgendetwas problematisch, fragt in der taz Benjamin Weber mit Blick auf Stephan Holthoff-Pförtner, den neuen NRW-Minister für Bundesangelegenheiten, Europa, internationale Beziehungen und Medien: "Nach wie vor ist Holthoff-Pförtner mit 17 Prozent Miteigentümer der Funke Mediengruppe - einem der wichtigsten Medienkonzerne des Landes. Allein in NRW gehören zwölf Radiosender und vier Tageszeitungen (wie die WAZ) zum Essener Unternehmen (Jahresumsatz 2015: 1,3 Mrd. Euro). Die Rheinische Post schreibt, die Anteile des Ministers seien 250 Millionen wert. Kann ein solcher Minister unabhängig politische Entscheidungen treffen?"

In der NZZ beklagt Stefan Betschon den fehlenden Technikjournalismus im deutschsprachigen Raum. Anspruchsvolle lange Texte, die neue Technikentwicklungen erklären und es dem Leser so erlauben mitzureden bei neuen Technologien, gibt es praktisch nicht. Selbst in Amerika werde das langsam spürbar, aber da tut sich wenigstens was: "Ende 2013 schrieb die amerikanische Wirtschaftsjournalistin Jessica E. Lessin: 'Technology news needs a reboot', die Technik-Berichterstattung brauche einen Neustart. ... Lessin, die sich als Journalistin des Wall Street Journal (WSJ) Meriten erworben hat, stemmt sich gegen das Möglichst-schnell-möglichst-viel-Prinzip. Die von ihr gegründete News-Site The Information verspricht eigenständige, 'deeply-reported' Geschichten, die nur gegen Entgelt gelesen werden können. Lessin ist nicht die Einzige, die die Online-Berichterstattung im Themenbereich Technik als reformbedürftig betrachtete. Auch andere amerikanische Journalisten verspürten zwischen 2011 und 2014 den Drang, die Technik-Berichterstattung neu zu erfinden. Walt Mossberg und Kara Swisher (ehemals WSJ) gründeten Recode.net (seit 2015 Teil von Vox Media), Joshua Topolsky (ehemals Engadget) lancierte Theverge.com. Zu den Innovationen von The Verge gehört das Genre Long Form, das Platz schafft für weitschweifige Reportagen."  
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Kulturpolitik

In Potsdam soll ab Oktober die Garnisonkirche wieder aufgebaut werden. Bundespräsident Steinmeier übernimmt die Schirmherrschaft. Ursprünglich sollte der Bau aus Spenden finanziert werden, aber da kaum etwas hereinkam, müssen großenteils staatliche Stellen einspringen. Der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt, ehemals Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau, protestiert in der FAZ am Sonntag, vor allem mit historischen Argumenten: "Bis 1918 wurden die Soldaten hier auf den bedingungslosen Gehorsam gegenüber König und Kaiser eingeschworen, von 1933 an auf Hitler. Hier erhielten Verantwortliche für den Völkermord an den Herero und Nama 1904 bis 1908 und für Kriegsverbrechen an der Ostfront 1939 bis 1945 ihren kirchlichen Segen und wurden als Helden gefeiert. In den Zeiten der Weimarer Republik war die Garnisonkirche Wallfahrtsstätte für Reaktionäre und Rechtsradikale. Regelmäßig fanden hier Veranstaltungen des Stahlhelms, der Deutschnationalen Volkspartei, der Bismarckjugend, des Reichskriegerbunds Kyffhäuser und des Alldeutschen Verbands statt. Auch kann nicht die Rede davon sein, dass die Kirche von den Nationalsozialisten missbraucht wurde." Übrigens weist Oswalt auf die problematische Rolle der Evangelischen Kirche bei dem Projekt und auf rechtsextreme Hintergründe bei den Initiatoren des Wiederaufbaus hin.
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