9punkt - Die Debattenrundschau

Sei es fremd, sei es links, sei es irgendwie modern

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2014. In der arabischen Welt gibt es immer mehr Tendenzen zur Abkehr von Religion, berichtet die NZZ. Auch deshalb, weil Religion und Gewalt im Islam nicht erst seit der IS-Miliz verknüpft sind, meint der Religionspädagoge Ednan Aslan in der Zeit. Bei dem Sony-Hack sind auch einige Mails von Hollywood-Bossen zutage gekommen, die davon träumen, Websites willkürlich sperren zu dürfen, berichtet The Verge. Die Zeit ärgert sich sehr über Menschen, die das Leben nicht mehr als ein Geschenk Gottes anerkennen und über ihren Tod selbst entscheiden wollen. Das Entsetzen über Pegida ist überall groß.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.12.2014 finden Sie hier

Politik

"Heute müssen wir trauern", schreibt der pakistanische Politologe Samar Abbas Kazmi auf quartz.com nach dem Massaker an Schulkindern in Peschawar, "morgen müssen wir uns verändern. Wir können nicht zurückgehen und wieder mit den Fingern auf andere zeigen, oder unseren Fantasien von Größe anhängen und vor allem können wir nicht zu der Idee zurückkehren, dass "Gespräche" mit Terroristen etwas anderes bedeuten als Selbstaufgabe."

Der australische Anschlag eines Einzeltäters, der drei Menschenleben kostete, ist ein Symptom der Niederlage der IS-Miliz, meint ein optimistischer Hamed Abdel-Samad in der Welt: "Das Kalifat schrumpft und befindet sich im Niedergang. Der Übermut der Gotteskrieger und die Euphoriewelle ihrer Sympathisanten scheinen vorerst gebrochen zu sein. Ernüchterung und Enttäuschung greifen um sich. Es schlägt die Stunde der Einzeltäter."

Pegida steht leider auch in einer traurigen sächsischen Tradition, meint der Politologe Michael Lühmann auf Zeit Online: "Nirgendwo in Deutschland ist die Ablehnung des Anderen tiefer in Politik und Kultur verankert als in diesem Bundesland. Sei es fremd, sei es links, sei es irgendwie modern. Da kann die Ruine der Frauenkirche noch so sehr mahnen, wozu die "christlich-abendländische Tradition", auf die sich Pegida beruft, auch fähig gewesen ist. Mit ultrakonservativen, ins extrem Rechte reichenden Parolen wird in Sachsen schon seit den neunziger Jahren Politik gemacht."

In der SZ erklärt sich der Berliner Philosoph Byung-Chul Han die Pegida-Bewegung als einen imaginären Raum, in dem die Abgehängten und Überforderten ihre Ängste auf den äußeren Feind projizieren: "Auffallend für die Beteiligten ist, dass sie schweigend marschieren. Sie formulieren keine Ziele, stellen keine konkreten Forderungen auf. Sie weigern sich zu reden. Der Grund ist offenbar: Sie wollen sich nicht aus dem imaginären Raum hinausdrängen lassen... Sie werden daher jeden Versuch, sie auf den Boden der Realität zurückzubringen, aggressiv abwehren. Hier liegt eine Verneinung vor, zu der nur eine Psychoanalyse Zugang hätte."

Thomas Assheuer verbindet in der Zeit mit dem Gebräu aus rechts- und linksradikalen Parolen bei Pegida und Co. auch Hoffnungen: "Vielleicht geht Angela Merkels Biedermeier in diesen Wochen zu Ende..." Und "zu Ende geht die Epoche des heroischen Neoliberalismus, jener letzten Gesellschaftsutopie, die in England mit Margaret Thatcher, in Amerika mit Ronald Reagan und in Deutschland mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer begann."
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Religion

Mona Sarkis stellt in der NZZ fest, dass sich immer mehr junge Menschen in der islamischen Welt von der Religion abwenden, selbst in Saudi-Arabien sind ein Viertel der Menschen religionsmüde. Sarkis schreibt dies zum einen dem Internet zu, das Wissen und andere Weltsichten zugänglich macht, und dem Islamismus, dessen Auswüchse immer mehr Muslime abstießen: "Noch wenn man vom pervertierten Glaubens- und Gesellschaftsverständnis solcher Extremisten absieht, bleibt die Frage, was der politische Islam eigentlich je geleistet hat... Die Einsicht, dass der bisher praktizierte politische Islam in die Irre, aber nicht aus dem Abseits führt, beginnt auch dort Fuß zu fassen, wo man es zuletzt erwartet hätte. So sorgte der saudische Scharia-Gelehrte und ehemalige Salafist Abdullah al-Maliki 2011 mit einem Buch für Aufsehen, in dem er den Schlachtruf "Der Islam ist die Lösung" in "Die Souveränität der Umma ist die Lösung" abwandelte."

Angesichts des australischen Anschlags will es der Wiener Religionspädagoge Ednan Aslan im Gespräch mit Evelyn Finger in der Zeit nicht mit der Ausflucht bewenden lassen, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun: "Nicht wenige Imame bringen unser Glaubensbekenntnis bewusst oder unbewusst mit Aggression in Verbindung, mit Folter, Vergewaltigung, Auspeitschen, Töten. Seit dem 15. Jahrhundert hat sich eine Theologie der Gewalt durchgesetzt, und seit dem 17. Jahrhundert ist sie zur Norm erstarrt." In der FAZ bleibt die in Mekka lebende Schriftstellerin Raja Alem im Gespräch mit Sandra Kegel allerdings dabei: Der Islamische Staat habe nichts mit dem Islam zu tun.

Im Freitag empfiehlt Christian Welzbacher das Kompendium "Islamic Movements of Europe", das mit seiner Sachlichkeit gut geeignet ist, "jene klaffende intellektuelle Wunde, die durch Panikmache, Unwissen und Sarrazinaden aufgerissen wurde", zu schließen.

Jens Jessen lässt in der Zeit einige lebensweltliche Debatten des Jahres 2014 Revue passieren, Stichwort Social Freezing, Leihmutterschaft, Gendertheorie. Mit der grimmig-ohnmächtigen Geste eines Superintendenten, dem das letzte Wort abgeschnitten wurde, bezieht er auch zum Thema Sterbehilfe einen erzkonservativen Standpunkt: "Der aufgeklärte Westler mag vielleicht schon lange nicht mehr geneigt gewesen sein, sein Leben als Geschenk Gottes zu betrachten. Aber neueren Datums ist doch die Neigung, das Leben als eigenes Geschenk an sich selbst zu betrachten, mit dem dann, konsequenterweise, auch nach Belieben verfahren werden kann, einschließlich der Vernichtung nach Gutdünken."
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Überwachung

Bei dem Sony-Hack sind peinlicher Weise auch ein paar Mails von Hollywood-Bossen geleakt worden, die zeigen, dass die Industrie weiterhin an Plänen festhält, durch Überwachungsmaßnahmen Kontrolle über Urheberrechtsverletzungen auszuüben, schreibt Russell Brandom in The Verge: "Im Jahr 2011 schlug das SOPA-Projekt ambitionierte Site-blocking-Maßnahmen vor, aber das Projekt wurde nach Protesten von Internetfiremen und -nutzern gestoppt. Die neuen E-Mails zeigen, dass Hollywood diese Idee nicht begraben hat." Demnach möchte man "Anordnungen von Gerichten erreichen, die das Schließen einer Site ermöglichen, ohne dass man zunächst klagen und beweisen muss, dass von bestimmten ISP-Adressen Urheberrechtsverletzungen ausgehen".
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Stichwörter: Hollywood, Urheberrecht, Sony

Europa

Ohne sich allzusehr mit dem italienischen Anteil an der Misere des Landes abzugeben, hat Micromega-Herausgeber Paolo Flores d"Arcais in einem Essay für die Zeit den Hauptschuldigen schon ausgemacht: "Deutschlands Erfolg, sein Überfluss und seine Dominanz bedeuten Europas Niedergang, sie sind in jeder Hinsicht Abgesang und Todesurteil für das Projekt Europa."

Für die taz besucht Klaus-Helge Donath die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, deren struppige Struktur die Moskauer Behörden als Vorwand nutzen, um gegen sie vorzugehen: "Während der Kreml den Diktator Stalin rehabilitiert und zum erfolgreichen Modernisierer aufbaut, der die Sowjetunion erst zur Weltmacht führte, erhebt Memorial Klage. Repressionen, Zwangsarbeit und Millionen Tote sind dem offiziellen Moskau jedoch bestenfalls noch eine Fußnote wert - falls es sich nicht ganz umgehen lässt. Während der Kreml die Russen zu einem Volk von ewigen Siegern stilisiert, wartet Memorial mit nüchterner Betrachtung der Historie auf."
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Medien

Diese Kurve des amerikanischen Blogs Gigaom vergleicht den Internet-Traffic spanischer Zeitungsseiten in der Vorwoche und in dieser Woche nach Abschaltung von Google News in Spanien. Mathew Ingram schreibt: "Nach dem Web-Analaytics-Service Chartbeat ist der Traffic innerhalb von Stunden um einen zweistelligen Prozentbereich gefallen."

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Stichwörter: Gigaom, Google News, Spanien

Gesellschaft

Der Schriftsteller Rainer Merkel berichtet im Interview mit Gerrit Bartels von seiner Reise nach Liberia, von unserem irrationalen Umgang mit Ebola und den mutigen Mitarbeitern der NGO Kriterion Monrovia: "Die Studenten von Kriterion Monrovia unternehmen alle zwei, drei Tage Trips ins Landesinnere. Und diese Leichtigkeit, mit der sie das machen! Vor Ort klären sie die Menschen mit großer Leidenschaft auf. In einem Dorf wären sie fast angegriffen worden, weil die Leute dachten, sie seien gekommen, um ihre Brunnen zu vergiften. Aber sie mieten sich Busse, fahren dahin, gehen dieses Risiko ein. Sie leisten manchmal mehr als die vermeintlichen Ebola-Helden, die Ärzte und Krankenschwestern aus dem Ausland. Unser medialer Zugang hat da manchmal auch einen latent rassistischen Hintergrund."

Weitere Artikel: In der taz kann Margaret Stokowski Hannah Lühmanns Attacke auf den Netzfeminismus auf Zeit Online wenig abgewinnen: Feministinnen als "humorlose, hirnlose Nervbacken" seien doch ein ziemlich abgedroschenes Klischee. Angesichts des neuesten Trends in den USA zum Extremsport CrossFit sehnt sich Andrea Köhler in der NZZ nach Jane Fondas fröhlicher Aerobic zurück.
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