9punkt - Die Debattenrundschau

Die Weltkarte, neu gezeichnet

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2014. Es gab in der Krim schon mal ein Referendum, und da haben 54 Prozent der Bewohner für die Ukraine gestimmt. Das war 1991, und Gilles Hertzog bringt es in La Règle du Jeu in Erinnerung. In Open Democracy wenden sich zwei EU-Experten vehement gegen die Parallelisierung von Kosvo und Krim. Die NSA speichert ganze Gespräche ganzer Nationen, zeigt die Washington Post, und damit kann man fast alles über jeden nachweisen, weist die SZ nach. Paul Lendvai erinnert in der FAZ an die Besetzung Ungarns vor siebzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.03.2014 finden Sie hier

Europa

Paul Linden-Retek und Evan Brewer haben für die EU geholfen, die Unabhängigkeit des Kosovo juristisch zu formulieren. Sie lehnen in Open Democracy die Parallele zwischen Kosovo und Krim vehement ab: "Es gibt keine vergleich- und belegbaren Hinweise auf Verletzungen von Grundrechten in der Krim. Die Fakten vor Ort belegen keine Unterdrückung der Bevölkerung, die die Krim als Begründung für eine Sezession zum Schutz der Bevölkerung anführen könnte, und die 'innere Selbstbestimmung' der Krim ist nicht gefährdet. Schon die Existenz eines Parlaments der Krim, das das Referendum ersonnen hat, widerlegt das Argument, dass ihre Selbstbestimmung eingeschränkt sei."

Gilles Hertzog gehörte in Frankreich zu den Autoren, die lange vor dem Kosovo-Konflikt gewarnt hatten. Er weist nun in BHLs Blog La Règle du Jeu darauf hin, dass es in der Ukraine - inklusive der Krim - bereits ein Referendum geben hat. Das war 1991: "Niemand prangerte damals das Referndum als illegetim an, obwohl klar war, dass auf der Krim Russen leben. Auch wenn die Wahlbeteiligung gering war (60 Prozent), es stimmten 54 Prozent der Einwohner der Krim, ob Russen oder nicht, für die Unabhängigkeit der Ukraine, 46 Prozent dagegen. In Sebastopol mit seiner russischen Marine-Basis erreichte die Mehrheit sogar 58 Prozent. In den ostukrainischen Provinzen, die Russland unter dem Vorwand der russischsprachigen, von 'Faschisten' unterdrückten Bevölkerung herauszulösen träumt, waren die Zahlen noch wesentlich klarer: 90 Prozent in Charkiv, Donetsk und anderen Städten."

In der taz spricht Klaus-Helge Donath mit Fjodor Lukjanow, dem Chefredakteur der wichtigsten russischen Zeitschrift für Außenpolitik, Rossija w globalnoi politike. Für Lukjanow resultiert die Krise in der Ukraine daraus, dass die EU die Ukraine zu einer Entscheidung zwischen Moskau und Brüssel gedrängt habe. Wenn sich die russischen Beziehungen zum Westen nun verschlechtern, würde Russland sich eben nach Osten orientieren: "Die Welt besteht aus mehr als nur dem Westen. In diesem Fall bliebe Russland nichts anderes übrig, als das Verhältnis zu China qualitativ neu zu beleben, was Peking ja schon lange vorschlägt. Die UdSSR und Russland waren bislang immer nach Westen ausgerichtet. Putin hat Sibirien und den Fernen Osten indes schon zur Priorität erklärt. Gibt Russland seine Westausrichtung auf, wird die Weltkarte neu gezeichnet. Die Welt und Russland werden anders aussehen."

In der NZZ fasst Andreas Ernst zusammen, wie die Krise in der Ukraine in den Ländern Ex-Jugoslawiens wahrgenommen wird. Während in Serbien der Vergleich zwischen der Krim und dem Kosovo im Mittelpunkt steht, dominieren in Bosnien-Herzegowina die Parallelen zum Zerfall Jugoslawiens die Diskussion: "Doch ein wichtiger Aspekt kommt in dieser 'ex-jugoslawischen' Debatte zu kurz. Die Ukraine ist seit langem - wie Jugoslawien in seinen letzten Jahren - ein gespaltenes Land. Ein systematischer Vergleich könnte eine wichtige Frage beantworten: Schüren Integrationsangebote an ein geteiltes Land nicht zwangsläufig die inneren Spannungen? Ist es vielleicht bezeichnend, dass die Europäische Union erst nach dem Zerfall Jugoslawiens ihre Rolle als Friedensmacht spielen konnte? Kam ihr Angebot an die Ukraine im falschen Moment?"

Kerstin Holm beobachtete für die FAZ einen Auftritt Viktor Jerofejews in Köln, der sich über die Annexion der Krim entsetzt zeigt (obwohl er sie "für Russland unabdingbar" halte): "Die Hochstimmung seiner Landsleute dürfte freilich bald in Ernüchterung umschlagen, glaubt Jerofejew, spätestens wenn die ungeheuren Kosten für Infrastruktur und Versorgungswege im neuen Territorium bekannt und die jetzt schon anziehende Inflation für jeden spürbar würden." Joseph Croitoru wirft unterdessen schon einen Blick auf die Republik Moldau, die sich ebenfalls bedroht sieht.

Weitere Artikel: Der eigentliche Rohstoff in den europäisch-russischen Beziehungen ist nicht das Gas, sondern das Geld, meint Richard Herzinger in einem Pro und Contra zu Sanktionen in der Welt: "Russland ist auf die Einnahmen aus Gaslieferungen nach Europa dringend angewiesen und kann es sich kaum leisten, sie zu drosseln oder gar einzustellen." Ebenfalls in der Welt wirft Herfried Münkler den Bürokraten aus Brüssel mangelndes geo-politsches Talent vor. Das ganze Ausmaß seiner eigenen Gewieftheit in diesen Dingen zeigt er im Rat, auf Sanktionen zu verzichten. Dafür müssten weder BHL noch die USA, sondern ausschließlich die Deutschen zahlen.
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Medien

Müssen sich die "Öffies" (so Stefan Niggemeiers Jargon, der sich hier über den Hessischen Rundfunk amüsiert) demnächst überlegen, wie sie ihre 8 Milliarden Euro im Jahr ohne Zuschauer ausgeben? Matthias Kremp hat den neuen Chromecast-Dongle von Google, den man über die HDMI-Buchse in den Fernseher steckt, für Spiegel Online schon mal getest. Bedient wird er per Smartphone oder Tablet, und er "funktioniert zum Beispiel mit YouTube-Videos: Video aussuchen, starten, auf Chromecast-Symbol tippen, fertig. Etwa eine Sekunde später erscheint das Video auf dem Bildschirm." So kann man alle Videos oder Streamingdienste, die man im Netz findet, auf den Fernseher zaubern. Mehr auch bei Netzökonom Holger Schmidt.

Auf der Basis roher Daten können Computer innerhalb von Sekunden Artikel über Erdbeben, Finanznachrichten oder Sportereignisse erstellt werden. Pavel Lokshin präsentiert auf Zeit digital die Entwicklung zum automatisierten Journalismus, gibt aber zugleich Entwarnung: "Dass menschengemachter Journalismus zum Nischenprodukt wird, wie handgeschöpftes Papier oder Olivenöl aus bei Vollmond geernteten Früchten, ist aber nicht zu erwarten. Denn für alles, was über nackte Fakten hinausgeht, müsste eine Maschine zum Beispiel in der Lage sein, Emotionen zu deuten, historische Zusammenhänge zu erkennen, Informationen zu gewichten und spielerisch mit Sprache umzugehen. Das alles ist Zukunftsmusik."
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Überwachung

Von wegen Metadaten: Wie Barton Gellman und Ashkan Soltani in der Washington Post enthüllen, zeichnet die NSA komplette Telefonate auf und speichert sie für 30 Tage. Mit Hilfe dieser Programme namens "Mystic" und "Retro" kann sie auch nachträglich Gespräche abhören. Angewendet wird diese Technik im Großen Stil, die Kommunikation eines ganzen Landes (das auf Bitte der US-Regierung nicht genannt wird) und mutmaßlich fünf weiterer Länder wird auf diese Weise erfasst. "The call buffer opens a door 'into the past,' the summary says, enabling users to 'retrieve audio of interest that was not tasked at the time of the original call.' Analysts listen to only a fraction of 1 percent of the calls, but the absolute numbers are high. Each month, they send millions of voice clippings, or 'cuts,' for processing and long-term storage." Aber keine Sorge, es geht alles rechtmäßig zu, versichert NSA-Sprecherin Vanee Vines: "Vines, in her statement, said the NSA's work is 'strictly conducted under the rule of law.'"

Michael Moorstedt stellt in der SZ eine Studie des IT-Sicherheitsforschers Jonathan Mayer aus Stanford vor, der mit bescheidenen Mitteln die Software der NSA simulierte um zu sehen, was er so per Telefonüberwachung herausfinden konnte. Alles eigentlich: "Nur anhand der Metadaten konnten sie auf Geschlechtskrankheiten, außereheliche Affären, Waffenbesitz, Drogenhandel schließen. In ihren Datenbeständen offenbarten sich in harten Fakten die schlimmsten Befürchtungen der Bürgerrechtler."

Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras spricht in der Berliner Zeitung mit Christian Schlüter über ihr aktuelles Projekt, an dem sie zur Zeit in Berlin arbeitet. Poitras gehört (mit Glenn Greenwald) zu denjenigen, denen Edward Snowden seine gesamten Unterlagen anvertraut hat, insofern liegt es nahe, dass sie sich in ihrem neuen Film mit der Überwachung durch die NSA befasst: "In dieser Hinsicht interessiert mich die Frage, warum wir erst mit ihm angefangen haben, uns das Ausmaß der Überwachung klarzumachen. Offenbar spielen die Dokumente, die er mitgenommen hat, eine große Rolle: Wir haben es jetzt schwarz auf weiß. Es gibt also eine Zeit vor und nach Snowden. Aber das Erstaunliche ist doch, wie sehr die vielen Whistleblower vor ihm recht hatten, und wie leichtfertig sie als Spinner abgetan wurden."

Außerdem: Im Tagesspiegel porträtiert Christian Tretbar den Schlagzeuger, Wulff-Lookalike und CDU-Politiker Clemens Binninger, der dem NSA-Untersuchungsausschuss vorsitzen soll. Ranga Yogeshwars auf den Bürgersinn setzende Antwort auf Martin Schulz in der gestrigten FAZ steht jetzt online.
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Urheberrecht

Der Urheberrechtshistoriker Peter Baldwin erzählt in irights.info die Geschichte der immer umfassenderen Rechte für künstlerische und andere Werke, die am Ende der Sphäre der Kultur selbst ersticken: "In den meisten Hinsichten hat der europäische Ansatz des Urheberrechts gesiegt: keine Formalitäten, moralische Rechte, sehr geringer Spielraum für Fair Use. Der Sieg des europäischen Modells war endgültig, als die Amerikaner es auf breiter Front übernahmen. Das war in den Neunzigern, unter der Clinton-Regierung. Es geschah dank des Drucks der Inhalte-Industrien. Bill Clinton war mit starker Unterstützung aus Hollywood gewählt worden. Nun triumphierten die Interessen Hollywoods und auch der Musikindustrie."
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Geschichte

Der österreichisch-ungarische Publizist Paul Lendvai erinnert in der FAZ an die Besetzung Ungarns durch die Nazis vor genau siebzig Jahren: "Die Besetzung Ungarns, dieses treuen Verbündeten, dessen Truppen willfährig fast bis zuletzt an der Seite Hitler-Deutschlands kämpften, öffnete den Weg zu einem bis heute umstrittenen, tragischen und in mancher Hinsicht einzigartigen Kapitel des Holocaust: der Auslöschung von zwei Dritteln des ungarischen Judentums. Nie zuvor waren so viele Menschen (auch Tausende getaufte Juden und 'Mischlinge ersten Grades') in so kurzer Zeit mit aktiver Mithilfe jenes Staates, dessen Geschichte und Kultur sie zutiefst mitgeprägt hatten, ermordet worden." Lendvai selbst verlor 29 Verwandte.

Der Weg zum Holocaust war beim Einmarsch der Wehrmacht bereits gebahnt, insbesondere vom ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy, schreibt hingegen der ungarische Schriftsteller György Dalos in der NZZ: "Zuerst wurde 1920 die Aufnahme der jüdischen (und auch der deutschen Minderheit angehörenden) Studenten an den Hochschulen durch einen Numerus clausus rigoros begrenzt. Später schränkten die Rassengesetze der dreißiger und frühen vierziger Jahre die Möglichkeiten der jüdischen Bürger ein, als Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte tätig zu werden, so dass ihnen bald nur das nackte Leben übrig blieb. Hinter diesen Maßnahmen gab es keinerlei deutschen Druck."
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