Efeu - Die Kulturrundschau

Diskurstheatermäßig

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2023. Im Tagesspiegel erzählen Olena Goncharouk und Maria Glazunova, wie der Krieg den postsowjetischen Geist aus den ukrainischen Filmarchiven vertrieb. Der Freitag fürchtet mit der Rammstein-Debatte die Rückkehr des unschuldigen weiblichen Opfers. Die SZ staunt, wie normal und mittig in Berlin die neue Diversität in der Architektur daherkommt. Die FAZ wiegt sich noch einmal in den Bossanova-Klängen, die Astrud Gilberto einst in die Welt trug.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2023 finden Sie hier

Musik

In der Debatte um die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann machen es sich viele zu einfach, findet Marlen Hobrack im Freitag. Die Glaubwürdigkeit der zahlreichen Berichte von weiblichen Fans zieht sie nicht in Zweifel, "aber waren die Frauen so machtlos, wie einige sie sehen wollen? Wenn die Rammstein-Entourage die Frauen etwa bat, sich sexy zu kleiden und im Vorfeld Fotos und Videos machte, dann dürften die Frauen immerhin geahnt haben, dass es nicht nur um ein Meet and Greet mit ihrem Star ging." Übergriffe rechtfertigt freilich auch das nicht, schreibt Hobrack. Doch fände sie es "tragisch, wenn von Jahrzehnten der sexuellen Befreiung und der Kritik an patriarchaler Sexualität nur das Bild unschuldiger weiblicher Opferschaft hängen bliebe."

Jürgen Ziemer ärgert sich im Freitag-Kommentar über "die Feuilletons", die Rammstein und Lindemann zu lange hofiert hätten und auch jetzt angeblich wieder abwiegeln (angesichts der Kontroversen, die es um Rammstein im Feuilleton schon immer gab, und der Debatten der letzten Tage eine eher verblüffende Einschätzung). Die Band selbst soll nach Recherchen der Welt (hier zusammengefasst beim Standard) eine Kanzlei eingeschaltet haben, die anhand eines mehrseitigen Fragenkatalogs bei der Konzertcrew nachforschen soll, was es mit den Vorwürfen gegen Lindemann auf sich hat. Daneben sei ein offizieller Sprecher der Band engagiert worden - und man habe sich von der auf Instagram als "Casting Director" auftretenden Mitarbeiterin Alena M. getrennt, die für Lindemann aktiv Fans ausgespäht und rekrutiert haben soll.

Die Sängerin Astrud Gilberto ist tot. Mit ihrem Hit "The Girl from Ipanema", der in der Interpretation von Stan Getz und João Gilberto in den frühen Sechzigern die Bossa-Nova-Welle auslöste, wurde sie weltberühmt. "Viele Sängerinnen und Sänger gewinnen nie einen Grammy, obwohl sie wunderbar singen können", schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ. "Gilberto hat ihn bekommen, weil sie nicht singen konnte. Oder sagen wir besser: weil sie lediglich so sang, wie jedermann unter der Dusche singt oder beim Spaziergang vor sich hin trällert. Das professionell Unverbildete ihrer Stimme war ihr Gütesiegel." Nadine Lange pflichtet im Tagesspiegel bei: "Ihr Gesang war stets von einer melancholischen Sanftheit geprägt, die einen reizvollen Kontrast zum Bossa-Rhythmus bildete." Hier eine Live-Version des Erfolgsstücks:



Außerdem: Jan Brachmann spricht in der FAZ mit Elena Bashkirova über ihre Pläne für das Berliner Kammermusikfestival Intonations, das an einem neuen Spielort einen Neustart wagen muss. Frederik Hanssen spricht im Tagesspiegel mit dem Dirigenten Christoph Eschenbach über dessen Abschied vom Berliner Konzerthausorchester. Im Tagesspiegel erinnert Christian Schröder an "Come On", die vor sechzig Jahren erschienene erste Single der Rolling Stones.

Besprochen werden die Ausstellung "Can you hear it? Musik und Künstliche Intelligenz" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (NMZ), ein Puccini-Konzert von Lise Davidsen (online nachgereicht von der FAZ), eine von Kent Nagano dirigierte Aufführung von Jörg Widmanns "Arche" in der Elbphilharmonie (Welt), das neue Album der Foo Fighters (TA) und Gina Birchs Solodebüt "I Play My Bass Loud" (taz).

Archiv: Musik

Film

Für den Tagesspiegel unterhält sich Andreas Busche mit Olena Goncharouk und Maria Glazunova vom Oleksandr Dovzhenko Film Center in Kiew. Die beiden Archivarinnen sind als Gäste für das Jubiläumsprogramm zum 60-jährigen Bestehen des Kinos Arsenal in Berlin. Sie sprechen über die beschwerliche Archivarbeit, während Granaten einschlagen - und über einen neuen Hunger der Bevölkerung nach ukrainischer Kultur: "Den Ukrainern ist klarer geworden, dass die Frage des Filmerbes an unseren kulturellen Ursprüngen rührt", sagt Goncharouk. "Der Krieg hat den Wunsch, die eigene Geschichte besser zu verstehen - und sich diese auch wieder anzueignen - befördert. ... Es herrschte noch lange ein post-sowjetischer Geist vor, ganz anders als etwa in den Staaten des Baltikums. Es ging um die Bewahrung von Privilegien. Diesen Geist müssen wir hinter uns lassen, um unsere Identität zu finden. Wir sind also zerrissen zwischen dem Gestern und dem Morgen. Der Zugang zu den Filmen ist darum unerlässlich, es ist heutzutage die wichtigste Aufgabe eines jeden Archivs."

Weitere Artikel: In der FR gibt Daniel Kothenschulte Tipps aus dem Programm des Frankfurter Festivals Nippon Connection zum japanischen Film. Besprochen werden Daniel Goldhabers fiktionale Adaption von Andreas Malms gleichnamigem Klimabuch "How to Blow Up a Pipeline" ("Propaganda, clever gemachte sogar", findet Lukas Hermmeier auf ZeitOnline), die Netflix-Dokuserie "Arnold", in der Arnold Schwarzenegger Auskunft über sein Leben gibt ("eine Hagiografie, die Story eines Wildentschlossenen, der sich mit Charme und Arbeitswut den amerikanischen Traum verwirklicht", schreibt Nina Rehfeld in der FAZ), Thomas Hardimans durchchoreografierte Krimi-Frisuren-Groteske "Medusa Deluxe" ("es wirkt alles doch auch recht angestrengt", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR), der ukrainische Kinder-Animationsfilm "Mavka" (Standard, FAZ), Daniel Goldhabers "How to blow up a Pipeline" (Filmdienst), ein neuer Blockbuster der "Transformers"-Reihe (NZZ) und Thorsten Ernsts Dokumentarfilm "All inclusive" (Filmdienst). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In der Berliner Zeitung empfiehlt Tomasz Kurianowicz den im Guardian veröffentlichten Essay der irischen Schriftstellerin Naoise Dolan, die von London überwältigt in Berlin ein neues Leben begonnen hat. Joan Didions mittlerweile leeres Apartement in New York erweist sich für die Makler als kaum verkäuflich, berichtet Christian Zaschke in der SZ. Roman Bucheli (NZZ) und Nora Zukker (TA) schreiben zum Tod der Schweizer Schriftstellerin Ruth Schwelkert.

Besprochen werden unter anderem Samuel Hamens "Wie die Fliegen" (taz), Alessandro Pignocchis Comic "Kleiner Auszug aus der wilden Ökologie" (taz), Pija Lindenbaums "Der erste Schritt" (Zeit), Alba de Céspedes' "Aus ihrer Sicht" (SZ) und Maja Lundes "Der Traum von einem Baum" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Charkiw, Gerasimow, Sergei

Bühne

Joachim Meyerhoff als Platonow. Foto: Armin Smailovic / Kammerspiele

Jette Steckel hat an den Münchner Kammerspielen Tschechows Stück "Platonow" als "Die Vaterlosen" inszeniert. Zeit-Kritiker Christian Gampert liebt das Stück über diesen gescheiterten Mann, der als Dorfschullehrer in seine Heimat zurückkehrt. Auch wenn der Kritiker nicht mit allem einverstanden ist, sieht er am Ende - vor allem dank Joachim Meyerhoff - Momente heller Wahrheit und des Theaterglücks aufleuchten: "Die grandiosen Schauspieler der Kammerspiele agieren diskurstheatermäßig vor sich hin, aber sie gehen auch in die Zonen, wo es wehtut. Die Regisseurin Jette Steckel wiederum weiß nicht so genau, wo man an diesem vierstündigen Abend dringend kürzen müsste (und will es wohl auch gar nicht wissen). Aber gerade aus dem Überflüssigen, aus dem Geschwätz entsteht jener merkwürdige Sog selbstquälerischer komischer Traurigkeit, der die Aufführung nah an uns heranrückt..." Auch in der FAZ lobt Christian Gohlke Steckels gekonnt zwischen Komik und Tragik changierende Inszenierung, die ihm eine sinnentleerte Gesellschaft vor Augen führt, die geradezu erschreckend modern auf ihn wirkt.

Weiteres: Im Standard berichtet Laurin Lorenz, dass die Leiterin des Wiener Max-Reinhardt-Seminars Maria Happel zurücktritt. Studenten hatten Lorenz zufolge mehrfach Missstände angeprangt, worauf Happel nicht hinreichend reagiert haben soll. Im Tagesspiegel blickt Sandra Luzina auf den Tanz im August voraus, dessen Programm der neue festivalleiter Ricardo Carmona vorgestellt hat.

Besprochen wird Franz Schrekers selten gespielte Oper "Der singende Teufel" in Bonn (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Die französische Malerin und Schriftstellerin Françoise Gilot ist im Alter von 101 Jahren  gestorben, meldet neben vielen anderen ZeitOnline: Gilot war die einzige Frau, die es gewagt hatte Pablo Picasso zu verlassen. Die New York Times bringt schon einen Nachruf.
Archiv: Kunst
Stichwörter: Picasso, Pablo, Malerin

Architektur

Divers, aber eintönig: Das soziokulturelle Zentrum in der Berolinastraße. Entwurf: Galandi Schirmer Architekten

In der Berliner Berolinastraße soll ein soziokulturelles Zentrum entstehen, das neben barrierefreien Wohnungen auch welche für lesbische Frauen bereithält. Völlig in Ordnung, meint Gerd Matzig in der SZ, aber warum muss die neue Sichtbarkeit geradezu schreiend unspektakulär ausfallen? Warum nur gut, warum nicht auch schön? "Auffällig ist nämlich das Unauffällige. Oder heteronormativ formuliert: Hier müssen alle in Gebäuden leben, wie sie alltäglicher, normaler, mittiger, erwartbarer und eben auch öder kaum sein könnten. Im Grunde beschreibt der Entwurf von Galandi Schirmer Architekten & Ingenieure eine hochkant stehende Schuhschachtel, deren ambitionslose Lochfassade allenfalls maikäferfreundlich erscheint. Aber frag mal die Maikäfer."

Ziemlich widersinnig erscheint es Andreas Herzog in der NZZ, dass die Stadt Prag neunzig Jahre nach dem Tod von Adolf Loos nach dessen Entwürfen ein Einfamilienhaus als Museum errichtet: "Sein Vorwurf an die Architektur aus seinem berühmten Vortrag 'Ornament und Verbrechen' wiederholt sich hier gewissermaßen auf dem Haus-Maßstab: Ein Gebäude wird gebaut, nicht wegen seiner Funktion, sondern weil es eine Zeit ornamentiert und eine Architektur-Ikone zelebriert: Architektur als Dekoration."
Archiv: Architektur