9punkt - Die Debattenrundschau

Die Rente als Erlösung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2023. Die Presse schwelgt in ihrem Lieblingsthema: der Springer-Presse. Handelt es sich bei den in der Zeit geleakten SMS von Mathias Döpfner um eine Rache Julian Reichelts, fragen Stefan Niggemeier und die FAZ. Döpfner ist ein Ossist, ruft die Berliner Zeitung. China ist ab heute nicht mehr das bevölkerungsreichste Land der Erde - die Chinesen werden jetzt animiert, viele Kinder zu zeugen, berichtet die taz. In der SZ erklärt der Soziologe Luc Rouban, warum die Franzosen so hingebungsvoll für ihre Rente kämpfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.04.2023 finden Sie hier

Politik

Laut Statistik der UN ist es heute offiziell: China ist nicht mehr das bevölkerungsreichste Land der Welt, es wird von Indien überholt. Fabian Kretschmer skizziert in der taz die bekannten demografischen Probleme Chinas, die zu einer Überalterung der Bevölkerung führen. Aber das Regime hat eine Menge Mittel um gegenzusteuern, ist er sicher. Da sind etwa die "die massiven Investitionen in das Bildungssystem, die erst in den neunziger Jahren so richtig begannen, die Wirtschaftsleistung pro Kopf weiter heben. Hinzu kommt eine technologische Wette der Staatsführung: Anstatt durch Migration möchte Peking den künftigen Arbeitskräftemangel vor allem durch Automatisierung und Robotik kompensieren. Schlussendlich wären da noch die 'Zuckerbrot und Peitsche'-Methoden der kommunistischen Parteiführung: Nach der gescheiterten Ein-Kind-Politik hat Peking nun drei Kinder pro Familie als Obergrenze festgelegt - und versucht mit plumper Propaganda in Fernsehserien und Kinofilmen, die traditionellen Geschlechterrollen wiederzubeleben."

Noch immer verschließt das Kanzleramt die Augen vor Chinas Entwicklung, sagt die Sinologin Mareike Ohlberg im Tagesspiegel-Gespräch mit Viktoria Bräuner: "Wandel durch Handel ist krachend gescheitert. Es gibt immer noch einige, die meinen, dass man daran festhalten sollte. Aber die chinesische Seite hat unlängst entsprechende Maßnahmen eingeleitet, damit diese Strategie nicht aufgehen soll. (…) China wendet sich von uns ab, schon lange. Das Regime hat verstanden, wie gefährlich Abhängigkeiten sind, und ist schon lange dabei, die eigenen abzubauen, während es zugleich versucht, andere Länder gezielt in eine chinesische Abhängigkeit zu treiben."
Archiv: Politik

Europa

Für die Seite 3 der SZ hat Kathrin Müller-Lancé unter anderem bei dem Soziologen Luc Rouban nachgefragt, weshalb gerade die Rente die Franzosen immer wieder auf die Straße treibt: "'Die Rente ist für viele in Frankreich eine wichtige soziale Errungenschaft', sagt Rouban. Viele fühlten sich bei der Arbeit nicht wertgeschätzt für das, was sie tun. 'Die Rente ist dann die einzige Form von Belohnung.' Rouban hat eine vergleichende Studie zum Verhältnis zur Arbeit in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt. In Frankreich gaben nur 45 Prozent der Befragten an, dass sie das Gefühl haben, ihre Anstrengungen im Job werde wertgeschätzt. In Großbritannien lag der Anteil bei 56 Prozent, in Deutschland bei 60. In Frankreich war außerdem der Unterschied zwischen den Milieus am größten. Menschen mit geringem Einkommen fühlten sich besonders wenig anerkannt. 'Viele Franzosen empfinden Arbeit als etwas, das man durchleiden muss - bis am Ende die Rente als Erlösung kommt', sagt Rouban. 'Wenn man auf diese Erlösung zwei Jahre länger warten muss, ist das wie Verrat.'"
Archiv: Europa
Stichwörter: Rouban, Luc, Rente, Frankreich

Gesellschaft

"Gegenkultur" ist in Russland durch Putins Krieg noch weiter in die Ecke gedrängt worden, sagt die Autorin Norma Schneider, die gerade ein Buch zum Thema vorlegt, im Gespräch mit Gregor Kessler in der taz. Ohnehin ist der Begriff unscharf, warnt sie: "Es gibt in Russland viele Beispiele von Kunstformen, die rein formell häufig der Gegenkultur zugeschrieben werden - etwa Aktionskunst, experimentelle Musik und Graffiti - die inhaltlich aber auf Linie mit dem Regime sind. Was auch daran liegt, dass die russische Politik sich aktiv um diese Kulturformen mit ihrem jüngeren Publikum bemüht und diese patriotisch auflädt."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Caroline Schwarz liest für die taz mit Genuss die privaten SMS und Whatsapp-Mitteilungen Mathias Döpfners, die in der Zeit geleakt wurden (Unser Resümee), und das, obwohl sie voller "Rechtschreibfehler" stecken. Aus ihrem Resümee ergibt sich die überraschende News, dass der Springer-Boss der Springer-Boss ist: Die Recherche offenbare "das Bild eines mächtigen Mannes, der die Bundespolitik beeinflussen, Angela Merkel absägen und die Ostdeutschen fertigmachen will. Ein Mann, der den Klimawandel eigentlich ganz gut findet, in Trump einen geeigneten US-Präsidenten sieht und die Wahl Kemmerichs zum thüringischen Ministerpräsidenten mithilfe der Stimmen der AfD unproblematisch findet." Schwarz sagt es dann auch selbst: "Die Enthüllungen der Zeit dürften niemanden überrascht haben."

"Döpfners Denke war schon lange offenkundig", winken auch Laura Hertreiter und Cornelius Pollmer in der SZ ab - und viel zu befürchten habe Döpfner auch nicht: "Um sich herum, so kann man es auch dem Zeit-Artikel entnehmen, hat Döpfner Vorstände versammelt, die ihm letztlich am liebsten zustimmen. Über Vorstandsmitglied Jan Bayer heißt es in der Zeit, auf die Frage, ob Reichelt die Affäre überstehen könne, habe er geantwortet: Das stehe und falle mit Döpfner, 'mit keinem anderen'. Im warmwässrigen Aufsichtsrat sitzen kaum unabhängige Menschen."

Es ist eben nicht nur Döpfners Privatgesinnung, die hier offenbar wird, hält auf ZeitOnline der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen dagegen. Denn seine Gesinnung werde "publizistisch wirksam": "Fakt ist in jedem Fall, eben darin besteht der Reputationsschaden für Springer, dass die Urteile von Journalistinnen und Journalisten aus dem Hause nun mitunter wie bestellt wirkende Ansagen von oben wirken, die der Chef in einer fiebrigen elektronischen Botschaft eingefordert hat. Auch und obwohl dies überhaupt nicht stimmen muss."

Und in der Berliner Zeitung ist wegen Döpfners Äußerungen gegen Ostdeutsche die Hölle los: Er sollte gesellschaftlich geächtet werden, fordert Maritta Adam-Tkalec - seine Aussagen sieht sie nahe an der "Volksverhetzung": "Das Ansinnen, 'aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn zu machen' weist in die dunkelsten Ecken der Zivilisation: Reservate, Apartheit-Zonen, Gulags, Gettos - wo Minderwertige, Arbeitsvölker, Aussätzige vom guten Teil der Bevölkerung ferngehalten werden und sich noch etwas nützlich machen." Ebenfalls in der Berliner Zeitung fordert Gregor Gysi Döpfners Absetzung als Verlagschef.

Und Stefan Niggemeier fragt in einem Tweet: Ist der Leak Reichelts Rache an Döpfner? Dasselbe fragt Michael Hanfeld in der FAZ: "Ist es die kalte Rache des Julian Reichelt? Danach könnte es aussehen, eingedenk der Tatsache, dass etliche der zitierten Chats solche zwischen ihm und Döpfner sind."

Der Guardian ist eine uralte Zeitung und hat jüngst die Verwicklung des ehemaligen Manchester Guardian in den Sklavenhandel offengelegt (mehr hier) und will nun einen Fonds von zehn Millionen Pfund zur Bekämpfung heutiger Formen der Sklaverei auflegen. Außerdem rühmt sich der Guardian, er habe König Charles ein Bekenntnis zur Aufarbeitung entrungen. Gina Thomas kann das in der FAZ nicht ganz ernst nehmen, denn der König habe schon seit Jahren seine Offenheit für das Thema bewiesen. Was der Guardian über seine Gründer herausfand, ist auch nicht unbedingt ein Skandal, findet sie: "Nur einer der elf Geldgeber war durch Partnerschaft an einer Firma, die Sklaven besaß, direkt verwickelt. Zusammengenommen sind diese Männer symptomatisch für eine Gesellschaft, die sich für liberal und aufgeklärt hielt, jedoch genauso wenig auf die in fernen Ländern zu ihrem Nutzen verübten Untaten achteten, wie wir heute darüber nachdenken, unter welchen Umständen unsere billigen Kleidungsstücke oder Einzelteile von Smartphones produziert werden."
Archiv: Medien

Ideen

In der FR erinnert Michael Hesse daran, wie in den 1950er Jahren eine Euphorie für die zivile Nutzung der Atomkraft ausbrach: "Man träumte von radioaktiven Hühnern und Kühen, da man radioaktives Futter in seinem Weg durch den Körper verfolgen wollte. Man fürchtete nicht die Radioaktivität als Krebsursache, sondern fabulierte vom Einsatz radioaktiver Substanzen zur Krebsbekämpfung. Solche Ideen findet man in dem Buch 'Wir werden durch Atome leben', das nach dem besagten Treffen in Genf 1955 von internationalen Atomwissenschaftlern verfasst wurde."  Sehr wortreich diagnostiziert Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt einen "Gegensatz zwischen grenzenlosem Optimismus im individuellen Verhalten und lückenlosem Pessimismus der kollektiven Schicksalserwartungen". Für letzteres macht er das "Verflachen großer Projekte" wie der Europäischen Union verantwortlich.
Archiv: Ideen

Internet

Auch die Stimme ist vor Fälschungen durch Künstliche Intelligenz nicht mehr sicher, schreibt Adrian Lobe in der NZZ: "Im Silicon Valley forschen Startups an Stimmveränderungssoftware, die den harten Akzent von indischen Call-Center-Mitarbeitern in einen wohlklingenden Brooklyn-Akzent färbt, so wie ihn amerikanische Ohren aus Fernsehserien gewohnt sind. Amazon tüftelt indes an einer Technologie, die seine Sprachassistentin Alexa mit der Stimme verstorbener Verwandter sprechen lässt."
Archiv: Internet